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MUSIC LIBRARY
H /B i FiMl ii rOTTKr ,
I
Im Foyer
Im Foyer
Gesammelte Essays über
das Opemrepertoire der
Gegenwart
Von
Richard Heuberier
Leipzig 1901
Hermann Seemann ISaciifoIger
/^harvardN
(university
LIBRARY
l NOV 2 1955 /
Alle Rechte vom Verleger vorbehalten.
Druck von
E. Haberland in Leipzig-R.
Vorwort.
Die vorliegenden Aufsätze sind im Laufe
der letzten zwölf Jahre in verschiedenen Zeit-
schriften, in der „Allgem. Zeitung" (München),
der „Neuen Freien Presse", im „Wiener Tag-
blatt" u. a. erschienen. — Den Wert, welchen
Aufzeichnungen von Zeitgenossen über Ereig-
nisse der Politik oder Kunst in jedem Falle
beanspruchen dürfen, wird ihnen auch derjenige
zuerkennen, der sonstige Verdienste daran nicht
zu entdecken vermag. Mögen sie mindestens
in diesem Sinne freundlich aufgenommen werden.
Wien, Mai 1901.
R. Heubergen
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Der Barbier von Bagdad i
Cavalleria rosticana 9
Die Zauberflöte 15
Die Liebenden von Teruel 25
Zwei Opern von Mozart 31
Werther 37
Die czechische Oper in Wien 44
Halka 52
Das Sonzogno-Theater in Wien 57
Die Rantzau 68
Richard Wagners „Feen" in Prag 76
Das verlorene Paradies 86
Falstaff 91
Casa Sonzogno & Comp 100
A Santa Lucia iio
I Medici 118
Der Kuss 128
Die Rose von Pontevedra 133
Lohengrin in Bayreuth 141
Im Brunnen 159
Iphigenia in Aldis 163
Mara 172
Cornelius Schut 179
Hansel und Gretel 187
Das Madchen von Navarra 193
Das Heimchen am Herd 201
Zanetto 208
VIII 'X:::^X::^'X:::^>X:::^'X::::::^'X^^
Der Chevalier von d'Harmental 212
Die Göttin der Vernunft 218
Der Rattenfänger von Hameln 223
Die Boheme (Puccini) 228
Königskinder 235
Dalibor . 244
Eugen Onegin 252
Die Boheme (Leoncavallo) 259
Der Bärenhäuter 265
Der'Dämon 275
Es war einmal 286
Fedora 296
Der Barbier von Bagdad.
(Komische Oper in 2 Akten von Peter Cornelius; erste Auf-
führung an der Wiener Hofoper 4. Oktober 1890.)
„O komm nach Wien und wohne, wo ich woline!
Mit fünfzig Thalern bist du hier ein Lord!
Ich zeige dir die Mägdlein des Bocdone,
Die farbig tönen, wie ein Luftaccord,
Und Tizian, aller Venetianer Krone,
Da nimmst du Glut mit heim in deinen Nord.
O komm nach Wien, war' unser Brot auch trocken,
Wir können's in Cellinis Salzfass brocken.
O komm nach Wien I Der Prater ist Ekloge !
Sankt Stefan ist ein Paradies von Stein!
Sieh alles, bis auf Försters Synagoge,
Lass Krieg nur Krieg, und Nailand Mailand sein."
(Cornelius an Köhler 24. Juni 1859.)
So konnte am Tage der Schlacht von Solferino
nur ein weitabgewandter, deutscher Dichter
schreiben ! — Es war Peter Cornelius, des grossen
gleichnamigen Malers Neffe, der Autor der heute
in der Hofoper zur ersten Aufführung gelangen-
den Oper: „Der Barbier von Bagdad." Er war
nach Wien gezogen, nachdem er das Hauptwerk
seines Lebens — die eben genannte Oper — ge-
schaffen, und bei deren erster, unter Liszt in
Weimar stattgehabten Aufführung er einer un-
würdigen Opposition als Blitzableiter für ein Un-
wetter gedient hatte, das sich seit langem über
des grossen Klavierheros Haupte zusammen-
gezogen. Liszt meinte man und Cornelius schlug
man.
Im Foyer. I
2 ^(:::^X:::f^l:::^'X::s!rt^^
Es scheint, nebenbei bemerkt, das Schicksal
der intriguanten Opernbarbiere zu sein, dass ihnen
durch Intriguen arg mitgespielt wird. Mozarts
„Figaro" war von den italienischen Sängern als
Opfer ihrer Ränke erkoren worden, und nur des
Kaisers Wort rettete die Aufführung. Rossinis
„Barbier" wurde bei der Premiere demonstrativ
ausgepfiffen, und auch Cornelius' kontemplativer
Rasierer verfiel diesem Schicksale. (Weimar,
15. Dezember 1858.) Der stille Komponist klappte
seine Partitur zu, Hess den Krieg Krieg und
Weimar Weimar sein und wandte sich nach
Wien, wo er von 1859 ^^s 1864 darbte. Hier,
,,auf der Muse reichstem Schloss", sass der brave
Mann und lebte ärmlich und in steter Sorge um
das Nötigste.
„Herr Tantalus im Tartarus,
Ich furchte, wir sind Vettern,**
schreibt er einmal; ein anderes Mal klagt er:
„Den Kaffee halt' ich mir abgewöhnt,
Ich sparte den halben Franken."
Die Güter des Lebens waren dem edlen Künst-
ler karg zugemessen. Dabei träumt „der arme
Kerl in Wien" (so nennt er sich selbst in einer
poetischen Epistel) von neuen Thaten, kompo-
niert in Wien seine zweite Oper „Cid" un<l
schwärmt mit gleichgestimmten Freunden in der
musikalischen Atmosphäre der Kaiserstadt. Hier
wurde er genauer mit Richard Wagner bekannt,
hier traf ihn — der grösste Glücksfall seines
Lebens — die durch Wagner vermittelte Beru-
fung nach München, wo er zunächst, ohne eine
Gregetileistung bieten zu müssen, seinen Arbeiten
leben konnte tind dafür einen Jahresgehalt von
1000 Gulden bezog. — Wir haben all' das berührt,
um zu zeigen, dass Wien ausser dem künstleri-
schen Interesse an dem neuaufgeführten Werke
auch noch einen persönlichen Anteil an dessen
Schöpfer zu nehmen vermag. Fast prophetisch
lässt Cornelius seinen Barbier sagen: „Ich bin
Barbier der Nachwelt". Es kümmerte sich auch
wirklich — wohl durch den eklatanten Misserfolg
in Weimar abgeschreckt — bei Cornelius' Leb-
zeiten kein Theater weiter um das Werk, und erst
die operndürftige Nachwelt hat sich desselben
erinnert und Schätzt, ja überschätzt dasselbe um
seiner vielen trefflichen, inneren Eigenschaften
willen. Wir sagen ausdrücklich „inneren Eigen-
schaften"; denn an äusseren, ja, nötigen äusseren
Eigenschaften ist der „Barbier" nicht reich. Ein
Stimmungsbild, ein Gemütsinterieur, ein Seelen-
stillleben körinte man das Werk mit weil mehr
Recht nennen, als eine komische Oper. Denn,
was den Lebensnerv jeder komischen Oper aus-
macht: starke komische Situationen, reich be-
wegte Handlung -^ gerade das mangelt dem
„Barbier von Bagdad" fast gänzlich. Der Inhalt
der liebenswürdigen Oper ist sehr rasch erzählt:
Nureddin, ein Jüngling aus Bagdad, liebt leiden-
schaftlich die schöne Margiana, des Kadi Musta-
pha Tochter. Wir erblicken den vor Leiden-
schaft liebeskrank Gewordenen zu Beginn des
ersten Aktes auf seinem Sclimerzenslager. Als
„Taube, die nach der Sturmflut herniederfliegt
zur Arche seines Herzens'*, erscheint Bostana —
I*
4 '^::^^::::^^::::!^T:s^'X^^
eine Abgesandte der Geliebten — um den zum
Leben wieder Erwachten zu benachrichtigen, dass
Müstapha um die Mittagsstunde, wenn die Muez-
zim zum Gebete rufen, das Haus verlassen und
Margiana ihn, Nureddin, empfangen werde. Der
junge Mann will sich, um würdig vor der Gelieb-
ten zu erscheinen, rasch den Kopf rasieren lassen.
Es erscheint der Barbier Abul Hassan Ali Ebe
Bekar, ein neunzigjähriger, redseliger Mann, und
quält nun den ungeduldigen Liebenden so sehr mit
den langatmigsten Erzählungen, bis ihm dieser
sein Geheimnis mitteilt. Da der Alte auch nach
Ausübung seiner Kunst Nureddin nicht verlassen
will und sich anschickt, denselben zum Stelldich-
ein zu begleiten, ruft der gemarterte Jüngling
seine Sklaven, welche den Barbier festnehmen.
— Im zweiten Akte (im Hause des Kadi spie-
lend) sehen wir eben eine Kiste mit Geschenken
hereintragen, welche ein Jugendfreund des Kadi
(zugleich der vom Alten für Margiana erwählte
Bräutigam) für das Mädchen sandte. Da rufen
die Muezzim zum Gebet (das originellste Stück
der Oper), Müstapha eilt zur Moschee. Nureddin
erscheint, und die Liebenden liegen sich beglückt
in den Armen. Der Kadi kehrt nach Hause zu-
rück, Nureddin wird in die Kiste versteckt. Der
Barbier erscheint mit Leuten, welche die Kiste
wegtragen wollen, der Kadi verweigert dies.
Grosser Tumult — etwas zu gross für die Ange-
legenheit — da erscheint der Elalif. Der Barbier
meldet, dass in der Kiste sein von Müstapha ge-
mordeter Freund sich befinde; man schliesst auf.
Abul Hassan erweckt den anscheinend Toten
durch Nennung von Margianas Namen zum
Leben. Der Kalif entscheidet, dass, da der Kadi
behauptete, die Kiste enthalte „den Schatz" des
Mädchens, ihr auch dieser lebendige Schatz zu-
gestanden werden müsse. Mit Segenswünschen
für den Kalifen (ein sehr schönes Ensemble)
schliesst die Opef.
Diese mehr als einfache Begebenheit hat Cor-
nelius zu einem Textbuch verwendet, das in der
Hauptsache^ der Handlung, entschieden zu dürf-
tig, durch schöne Details, eine Fülle feiner lyri-
scher Stellen, amüsante Wortspiele und derglei-
chen erfreut. Unter dem Hauptmangel aller ko-
mischen Opern ohne Dialog, nämlich darunter,
dass alle Witzworte und Wortwitze von der
Musik unnachsichtlich erdrückt werden, leidet der
„Barbier" sehr bedeutend. Aber als Lektüre ge-
nommen, ohne Musik, vermag das geistvolle Buch
bei jedem Freunde orientalischer Dichtung ent-
schiedenes Interesse zu erwecken. Das ist ein
seltenes — wenn auch das verhängnisvollste —
Lob, das man einem Operntextbuche spenden
kann.
Trotz eines blutjungen Liebespaares steht der
uralte Barbier« im Mittelpunkte des Stückes; er
ist ein echter Morgenländer: mehr zum Reden,
als zur That geneigt, ein unersättlicher Fabulie-
rer, ein nie rastender Wortjongleur, dabei mit
einem Stich ins Listige. Eine Figur, wie sie
kaum irgendwo in der Litteratur aufzutreiben ist.
Leider wirkt seine flutartig über den Liebenden
hereinbrechende Geschwätzigkeit nicht nur für
den jungen Mann quälend. In gewissem Masse
6 y^::^^:::^!::::^!::^!^:^!^^^
ist der Zuhörer ebenfalls dem Alten gegenüber
festgenagelt, und es kommt sehr auf die Laune
des einzelnen im Publikum an, ob er sich durch
Nureddins Qualen belustigen lassen oder ganz
persönlich über den „unverschämten Schwätzer"
ärgern will.
Die Musik des Werkes hält sich der Anlage
nach im Stile der älteren Oper; Einzelngesänge,
Duette, Terzette, Chöre, Ensembles erscheinen,
von den Leitmotiven ist ein decenter Gebrauch
gemacht. Der Gesang ist meist sehr hübsch be-
handelt, die Orchesterbegleitung voll — manch-
mal zu voll -^ von geistvollem, charakteristischem
Figurenwerk, der Orchesterklang — wir kom-
men auf diesen nochmals zurück— von bestrickeil-
dem Reize. In manchem Sinne gemahnt Corne-
lius* gemütswarmes Werk an Götz* „Widerspen-
stige", mit welcher Oper zusammen dasselbe eine
eigene Gruppe unter den neueren komischen
Opern bildet, welcher man allenfalls noch Ber-
lioz' „Cellini" und „Beatrix und Benedict" zuzäh-
len könnte. Trotzdem uns Götz' Meisterwerk
musikalisch über dem „Barbier" zu stehen scheint,
ist uns der „Barbier" vermöge seiner Innigkeit
und Wärme im innersten Herzen lieb.
Einen in neuerer Zeit vielfach besprochenen
und fast mit Absicht verwirrten Punkt, die In-
strumentation des „Barbier von Bagdad" betref-
fend, wollen wir noch in Kürze aufklären. Corne-
lius, welcher derzeit dem "Schicksal verfallen ist>
von einer „byzantinischen Schule"- (Bülows
Wort) zum grosseh Parteilyriker ernannt i«^rden
zu sein, wird auch noch ah unerhörtes Instrumen-
tationsgenie a, la Berlioz oder Wagner gepriesen.
Dadurch erscheint die Orchestration <ies „Bar-
bier" als kunsthistorischer Anachronismus. In
Wahrheit war Cornelius — wie jeder Anfänger
— ein schwacher Kolorist; die Oper war von
ihm aus schlecht instrumentiert und sahen sich
sowohl er selbst als Liszt bemüssigt, in dieser
Richtung zahlreiche Aenderungen vorzunehmen.
In den Sechziger-Jahren begann Tausig in Wien
eine Neuinstrumentierung der Oper, die indes
nicht über einige Partiturseiten hinaus gedieh-
Auf Liszts Wunsch hat später Felix Mottl das
ganze Werk vom Grunde aus neu instrumentiert
und darf daher Alottls Name nicht ungenannt
bleiben, wenn von den jüngsten Erfolgen der
Cornelius'schen Oper die Rede ist. Rechnen wir
aber auch dieses Verdienst ab, so bleibt für den
liebenswürdigen Komponisten des „Barbier" noch
genug übrig, um ihn in der Reihe der neueren
Opern-Komponisten als einen der besten erschei-
nen zu lassen.
Dass der „Barbier" eine „Kasse-Oper" wird,
glauben wir nicht. Seine intimen Vorzüge wer-
den kaum je von der grossen Masse des Theater-
publikums gewürdigt werden. Dieser Erkenntnis
hat sich Herr Direktor Jahn gewiss auch nicht
verschlossen, als er die Oper zur Aufführung be-
stimmte. Dennoch sollte das vornehme Stück
nie vollkommen vom Spielplan verschwinden, und
müsste den vielen Freunden desselben Gelegenheit
geboten sein, zuweilen die drolligen Künste des
alten Schäkers mit Cornelius' feiner Musik ge-
messen zu können. Ein hübsches, angefügtes
8 Xi5^'t3^'b5^'b^'t5^'b:^t5^ti^t5^'b:«'b^'b^'fc:^t5?^'t:?^
Ballett wird manche schadlos halten, welche sich
von dem „Barbier" nur „eingeseift" fühlten. Das
Publikum merkte schon zu wiederholten Malen
nicht, was der Fisch und was die Angel war —
und schluckte beide.
SÄST
„Cavalleria rüsticana."
Cpper in einem Akte [nach dem gleichnamigen Volksstflck von
G. Vcrga] von G. Targioni'Tozzetti und G. Menasci.
riusik von Pietro Mascagni. — Erste Aufführung auf dem Hof'
Operntheater am 20. März 1891.)
Wie wird wohl die zweite Oper Mascagnis
aussehen müssen, um den Ruhm des jungen, vor
einem Jahre noch unbekannten, jetzt aber einen
weltgeläufigen Namen führenden Komponisten
auf seiner Höhe zu erhalten?! — Die Erstlings-
oper des glücklichen Livornesen hat im Laufe
eines halben Jahres die musikalische Welt erobert
und einen Rausch erzeugt, den an Rossinische
Zeiten erinnert. Wäre es, wie damals, üblich,
unseren Modegegenständen den Namen eines
Tagesgötzen anzuhängen, es gäbe sicherlich jetzt
Handschuhe, Hüte und dergleichen ä la Mas-
cagni, sowie es einst derlei Gegenstände ä la Pa-
ganini — ä la Giraffe gab; letztere zur Zeit, als
die erste lebende Giraffe hier ihren Einzug hielt.
Diese Art naiver Bewunderung ist nicht mehr
(oder nicht schon wieder) modern. Dafür ist
jetzt die Zeit der ästhetischen Purzelbäume, wie
sie in solcher Höhe früher kaum geschlagen wur-
den. — Einen der allerhöchsten leistete soeben
der Dresdener Schriftsteller Dr. Heinrich Pudor
1 't:^^X:::^^^::^X::f^'t:::^^:^^
mit seiner dieser Tage erschienenen Broschüre:
„Zur Erklärung der Cavalleria rusticana". Auf
einen unfehlbaren Heiterkeitserfolg bauend, hat
sich ein Verleger (Damm in Dresden) gefunden,
der das Schriftchen drucken Hess. Nach Ansicht
des Herrn Dr. Pudor ist die Oper von Mascagni
„das erste Werk einer neuen Zeit", einer urwahr-
haftigen Zeit der Rückkehr zur Natur, der
„Rückkehr zur Unterschiedlichkeit" (zum Indi-
vidualismus). „Wodurch übertrumpft dieses
Werk alle- anderen Werke?" fragt der
ekstatische Autor. ( — „Alle anderen
Werke !"^ -— Das ist doch einmal etwas!)
— Durch diie Wahrheit ! „Jede Note
ist wahr , jedes Gefühl ist echt !" Mas-
cagni „fühlt wahr; er fühlt tief; ja, er fühlt
sogar rein." Also weg mit Mozarts verlogenem
„Don Juan" und „Fig^fo", mit Wagners heuch-
lerischen Bühnenwerken, mit Beethovens „Fide-
lio". Doch nein ! Die beiden letzten Meister lässt
Dr. Pudor noch gelten. „Diese Musik (die Mas-
cagnische) ist nur mit Wagnerscher oder Beetho-
venscher zu vergleichen. Sie löst auf
einfache Weise das tiefe Rätsel
der Welt." — Mehr kann man von einer
einaktigen Oper wirklich nicht verlangen!
Warum kommt der unglückselige Mascagni
mit seiner Oper aber auch so spät da-
her 1 Seit Jahrtausenden mühen sich die feinsten
Köpfe, die edelsten Menschen an den Welträtseln
ab und nun löst der junge Maestro dieselben auf
so „einfache Weise", mit einer Oper, die er in
kaum zwei Monaten komponierte. Die Weisen
verflossener Tage, von Moses und Sokrates bis
Kant und Schopenhauer, sie können auf einer —
„Eselbank" Platz nehmen, die ihnen die „länd-
liche Ritterlichkeit" anweist. Da in Mascagnis
Oper auch noch Stellen vorkommen, bei welchen
„jeder Ton sozusagen Melodie" ist, hat das rätsel-
lösende Verfaliren Mascagnis nebst der bequemen
auch noch seine angenehme Seite. •
Wir haben das Opuskulum Dr. Pudors nur ge-
streift, um zu zeigen, welche wunderliche Blasen
ein kleines Stückchen welschen Sauerteiges im
hausbackenen Ernährungsbrei eines, deutschen
Scholasten au treiben vermag. — Wir glauben
aber, niemand würde so herzhaft über die Bro-
schüre lachen, als — Mascagni, der keck zugrei-
fende, mehr Impulsen, als Erwägungen zugäng-
liche Künstler!
Die „Cavalleria rusticana" ist aus einer,
durch den Verleger Sonzögno in Mailand ausge-
schriebenen Konkurrenz als erste Preis-Oper her-
T^orgegangen. Es liefen damals (im Juni 1890)
73 Opern ein, welche durch eine Kommission von
Fachmännern (darunter Sgambati) geprüft wur-
den. Unter den eingiesandteh Werken befanden
sich drei Opern „Semele" — für eine Opernkon-
kurrenz, bei der sich der Beteiligte leicht sehr
bedeutend „verbrennen" kann, eigentlich kein
übler Stoff — dann ein „Galeotto", eine „Rus-
salkä" (ein oft benutztes Sujet), eine „Viviane".
Nächst der mit dem ersten Preise gekrönten „Ca-
vallei-ia" ■ (das Einsendtmgsmotto der Oper, die
einen solchen Rumor verursachte, hiess merkwür-
digerweise „Pax") wurde die Oper „Labilia" von
••
I 2 '^::::^y^:^'X::^l:::!^l:::^^
Spinelli mit einem Preise bedacht und Vinz. Fer-
roni erhielt für seinen „Rudello" ein Ehrendip-
lom. Die „Cavalleria". wurde noch im Sommer
auf dem Teatro Costanzi in Rom aufgeführt und
begann einen unerhörten Triumphzug, vor dem
sich — schon nach so kurzer Zeit — die schwer-
fälligen Pforten unserer Hofoper aufschlössen.
Es war gewiss kein Kunststück, auf das derzeit
so allgemein gepriesene Werk zu verfallen. So-
gar mehrere deutsche Städte, Hamburg, Dresden,
ausserdem Prag und Budapest, haben die Oper
aufgeführt.
Die Handlung des Mascagnischen Werkes ist
bald erzählt: Turiddu, ein junger Sizilianer, zog
ins Feld und liess seine geliebte Lola zurück; die
geliebte Lola heiratet inzwischen den Fuhrmann
Alfio. Turiddu kehrt zurück tmd tröstet sich am
Herzen der schönen Santuzza für den Verlust, fällt
aber bald wieder in die Netze der ehemals Geliebten.
Er verlässt die entehrte Santuzza, die nach einem
heftigen Auftritte mit dem Treulosen dem ge-
hörnten Ehemanne den wahren Sachverhalt mit-
teilt. Die Männer kämpfen, der Schuldige fällr.
„Sie haben den Vetter Turiddu erschlagen." Mit
diesen Worten schliesst Vergas Stück und auch
Mascag^is Oper. — Diese einfache, „alte Ge-
schichte" ist von Verga und — ihm nachfolgend
— von Mascagnis Librettisten in einer meister-
haft gefügten Reihe von Scenen zu einem ergrei-
fenden Bilde sizilianischen Volkslebens ausge-
sponnen worden. Ein Textbuch ersten Ranges!
Der Komponist, ein Theatertalent ersten Ran-
ges, ging mit dem geschärften Auge des Bühnen-
Praktikers an die Arbeit, und gerade diesem Um-
stände, in Verbindung mit einer heutzutage so
seltenen melodischen Unbefangenheit mag der
beispiellose Erfolg der kleinen Oper zuzuschrei-
ben sein. Alles wirkt! Turiddus bedenklich po-
puläres Trinklied mit dem, nach dem Theater an
der Wien hinschielenden Schlüsse, wirkt; San-
tuzzas wehmütige Romanze wirkt, jeder Chor, das
reizende Zwischenspiel, welches das Stück gleich-
sam bei offener Scene in zwei Akte teilt und wie
ein letzter Streif blauen Himmels vor einbrechen-
dem Unwetter sich ausnimmt — ^ wirkt. Diese
Thatsache ist kein Kriterium für den höheren,
künstlerischen Wert; für den Erfolg ist sie aber
alles. Sie bedeutet eben nur, dass alles an der
richtigen Stelle steht. Nur ? I Alles an die richtige
Stelle zu setzen gelingt nur einem Autor, der hin-
ter das wichtigste Geheimnis der „Mache" ge-
kommen ist. Das höhere Kunstwerk entsteht,
wenn zu dieser Vollendung der Technik sich die
eigenartige Erfindung, das Genie gesellt. In
ersterer Hinsicht ist Mascagni sicherlich ein
Meister, ob er es auch in der zweiten ist, lässt
sich nach der „Cavalleria" nur vermuten.
Mascagnis Melodik ist echt italienisch, ge-
sund und reichlich .quellend; seine Melodien —
und er sclireibt wirkliche, fassliche Melodien —
sind klar und sanglich, seine Harmonik inter-
essant, zuweilen etwas absichtlich, der Satz ein-
mal sorgfältiger, ein anderes Mal lässiger, die In-
strumentation vorzüglich, manchmal sogar geist-
reich, stets bezeichnend, wirkungsvoll, oft wohl
etwas derb. Die Vorliebe der italienischen Kom-
1 4 '^:^'^^:^\:^'^^::^'^t:^'^:^'^:::^y::^^
ponisten für schreiende Trompeten- und Posau-
nenphrasen teilt auch Mascagni.
An besonders markanten, oft wahrhaft ruhren-
den, erschütternden, oft überlustigen Einzelheiten
ist kein. Mangel. Wir nennen nur die schwung-
volle Osterhymne, die obenerwähnte Romanze der
Santuzza, das geistvolle, kokett trippelnde Lied-
chen der Lola (mit Hoboe- Solo), das stimmungs-
volle „Zwischenspiel", ein Teil des Duetts zwi-
schen Santuzza und Turiddu und vor allem die
geniale, die tragische Wendung bezeichnende
Partie, welche mit der Abweisung Turiddus durch
Alfio beginnt. Wie da zu den dumpfen, leisen,
pulsähnlichen Schlägen der grossen Trommel die
tiefen Streichinstrumente ihre wahrhaft blutgie-
rigen Gänge hören lassen, wie alles stockt, nach
Ausdruck, nach Atem ringt, das ist durchaus be-
wunderimgswürdig. :
Alles in allem genommen kommt uns die neue
Oper wie eine kraftstrotzende Blüte auf dem
durch die letzten Werke Verdis geschaffenen
Operntriebe vor. Echt national, dabei aber die
Errungenschaften des deutschen Musikdramas in
kluger Weise und vernünftiger Ausdehnung be-
nützend, absolut keine Wagner-Nachahmung in
dem Sinne, wie neuere Deuj:sche sie bereiteten,
aber ohne Wagner dennoch undenkbar, so ist die
„Cavalleria rusticana". Mascagni ist ausser Verdi
vielleicht der erste Komponist, bei welchem der
Einfluss Wagners nur die Reaktion einer Im-
pfung hervorbrachte.
Die Zauberflöte.
Heute vor hundert Jahren verkündete der
Theaterzettel des Schikanederschen Theaters im
Starhembergschen Freihause: „Heute, Freitag,
30. September 1791 werden die Schauspieler in
dem k. k. priv. Theater auf der Wieden die Ehre
haben, aufzuführen zum erstenmale : „D i e Z a u -
ber flöte". Eine grosse Oper in zwei Akten
von Emanuel Schikaneder. Die Musik ist von
Herrn Wolfgang Amade Mozart, Kapellmeister
und wirklichem k. k. Kanjmerkompositeur. Herr
Mozart wird aus Hochachtung für ein gnädiges
und verehrungswürdiges Publikum und aus
Freundschaft für den Verfasser des Stückes das
Orchester heute selbst dirigieren". Mozarts Name
erschien auf diesem Plakate sowohl, als auf den
Textbüchern mit ganz kleinen Buchstaben. (Bei-
des aus der Offizin des k. k. priv. Buchdruckers
Ignaz Alberti, wohl auch eines „Maurers", her-
vorgegangen.) An den zwei ersten Abenden diri-
gierte Mozart, von der dritten Aufführung an
der damals 23 jährige Kapellmeister Johann Bap-
tist Henneberg, der auch dann im neuen, am
13. Juni 1801 eröffneten, heute noch im Ge-
1 6 X::^'X::^'X::!^'X:^'X::^'X:^^
brauche stehenden Theater an der Wien die Oper
oft und oft leitete. „Die Zauberflöte" wurde bald
zur Zugoper. Sowie es kurz vorher in Prag mit
„Figaro" war, wo die „Gärten und Gassen von
Figaros Gesängen wiederhallten", wo „der Har-
fenist auf der Bierbank sein non piu andrai tönen
lassen musste, wollte er gehört werden", so war
es nun in Wien und bald darauf in aller Welt mit
der „Zauberflöte"! Der, trotz aller fremden
Kostüme deutsch anmutende Text, die echt
deutsche Musik hatten alle Welt erobert. Sogar
Mozarts frühere Werke verdunkelte der Erfolg
der „deutschen Oper", wie der Meister selbst
sein Werk sehr bezeichnend nannte. „Figaros
Hochzeit", die noch 1790 fünfzehnmal im Burg-
theater gegeben wurde, erschien 1791 nur drei-
mal und verschwand 1792 vom Spielplan. Dafür
nahm das am 16. November 1791 nach mehrjäh-
riger Pause wieder eröffnete Kärntnerthor-
Theater gerade im Jahre der Uebersiedlung Schik-
aneders ins neue Haus die „Zaüberflöte" ebenfalls
ins Repertoire auf (24. Februar 1801 zum ersten
Male), von dem sie bis heute nicht verschwunden
ist. Um jene Zeit erschienen Spottgedichte über
die Form und Qualität der Aufführungen im
Kärntnerthor-Theater, welche — ebenfalls bei
Alberti gedruckt — den Schluss erlauben, dass
Schikaneder denselben nicht zu ferne gestanden
haben mag.
Schikaneder nützte die Zugkraft für sich aus-
giebigst aus und verschmähte kein Mittel der
Reklame. So „schwindelte" er mit der Zahl der
Aufführungen, indem er bereits am 23. November
1792 die hundertste, am 22. Oktober 1795 ^ic
zweihundertste, am i. Januar 1798 die dreihun-
dertste Aufführung ankündigte. (Bemerkt zu
werden verdient, dass in der Aufführung vom
22. Oktober 1795 Dnille. Hoff mann zugleich die
Papagena und die dritte Dame sang; dergleichen
passiert auch heutzutage wiederholt in der „Zau-
berflöte".) Aus den Aufzeichnungen v. Sonn-
leithners, denen wir alle diese Daten entnehmen,
geht hervor, dass die 223. Aufführung erst am
5. Januar 1801 (kurz vor der Uebersiedlung
Schikaneders) stattfand und dass die letzte Auf-
führung der Oper im Theater an der Wien (am
18. Dezember 1826) die 376. des Werkes war.
Der unerhörte Erfolg der „Zauberflöte", wo-
durch zum ersten Male die Oper nicht als Hofbe-
lustigung, sondern als Volksstück wirkte (Niemt-
schek, Mozarts erster Biograph, sag^: „sie ist
unser Nationalstück"), wodurch zum ersten Male
die deutsche Oper ihre Stellung sich errang, war
die letzte Freude des jmigen, baldigem Tode ver-
fallenen Meisters. Ganz ungetrübt war diese
Freude freilich nicht! Seine Feinde waren eifriger
als je am Werke, von dem reichlichen Erlös der
Oper wurde ihm nichts zu teil, und mit dem eigent-
lichen Verständnisse sah es recht übel aus. Was
Goethe von seiner Helena sagt: „Wenn es nur
so ist, dass die Menge der Zuschauer Freude an
der Erscheinung hat : dem Eingeweihten wird zu-
gleich der höhere Sinn nicht entgehen, wie es
ja auch bei der „Zauber flöte" und anderen Dingen
der Fall ist" — es traf genau so zu. Nur die
Erscheinung erfreute anfangs die meisten
Im Foyer. ^
1 8 '^::^'l::;^X::!^l::::^l^:^X:^^
Leute in harmloser Weise. Liest es sich nicht eigen-
tfiralich, wenn eine genial angelegte Frau, wie
Goethes Mutter, nicht mehr von dem Werke zu
sagen weiss, als was sie unterm 9. November 1793
ihrem grossen Sohne meldet: „Neues giebt's
hir nichts, als dass die Zauberflöte iSmahl ist ge-
geben worden — und dass das Hauss immer ge-
proft voll war — kein Mensch will von sich sagen
lassen — er hätte sie nicht gesehn — alle Hand-
wercker — gärtner — ja gar die Sachsenhäusser
— deren ihre Jungen die Affen und Löwen
machen, gehen hinein, so ein Specktackel hat
mann hir noch nicht erlebt — das Hauss muss
jedesmahl schon vor 4 Uhr auf seyn — und mit
alledem müssen immer einige hunderte wieder
zurück die keinen Platz bekommen können — das
hat Geld eingetragen". Am 6. Februar 1794
schreibt sie : „Dencke ! vorige Woche ist die Zau-
berflöte zum 24ten mahl bey voll gepropften
Hausse gegeben worden, und hat schon 22,000
Gulden eingetragen ! Wie ist sie denn bey Euch
executirt worden? machens eure Affen auch so
brav, wie unssre Sachsenhäusser?" Wie gaiiz
oberflächlich sah Frau Rat Mozarts Meisterwerk
wohl an, wenn sie bald darauf an ihren Sohn
schreiben konnte: „Der erste Zappenstreich von
unseren Franckfurthern drang mir lieblicher in's
Ohr — als die schönste Oper von Morzard" —
Die Weltreise, welche die „Zauberflöte" an-
trat, zeigte jedoch, dass das naive Empfinden —
wie so oft in Kunstsachen — die Massen richtig
geleitet hatte. 1798 konnte Niemtschek schrei-
ben: „Giebt es ein Theater, wo sie (die „Zauber-
flöte") nicht aufgeführt ward? Der Beifall, den
sie überall — überall erhielt, von dem Hoftheater
an, bis zu der wandernden Bühne des kleinen
Marktfleckens, ist bisher ohne Beyspiel."
An diesem „beispiellosen" Beifall hatte
Schikaneders Textbuch einen redlichen Anteil.
Man darf behaupten, dass sich keine Oper erhal-
ten hat, die auf ein schlechtes Buch komponiert
ist. Also ist wohl auch Schikaneders Libretto
ein g u t e s zu nennen. Man hat sich zu allen Zei-
ten an den einzelnen Dummheiten gestossen, die
den Text der Oper verunstalten, und darüber die
Meisterschaft Schikaneders in der Handhabung
des gesamten Bühnen - Apparates, seine kühn
schweifende Phantasie, seine keineswegs poesie-
lose Kunst im Gestalten wahrhaft typischer Fi-
guren übersehen. Goethe sagt, dass das Buch
„voller UnWahrscheinlichkeiten und Spässe sei,
die nicht jeder zurechtlegen und zu würdigen
wisse; aber man müsse doch auf alle Fälle dem
Autor zugestehen, dass er im hohen Grade die
Kunst verstanden habe, durch Kontraste zu wir-
ken und grosse theatralische Effekte herbeizu-
führen". Goethe fand sich von dem Stoffe so sehr
angezogen, dass er einen zweiten Teil dazu ent-
warf und in demselben sogar mehrmals den Wort-
laut der Schikanederschen Dichtung adoptierte.
Auch den, diesmal in Papagenos Vogelgewande
erscheinenden, Hanswurst adelte er durch die Mo-
tivierung in einem Gespräche des lustigen Kum-
pans mit einem Herrn. Herr: „Du bist also
noch immer weiter nichts, als ein Lustigmacher ?"
Papageno: „Und deshalb unentbehrlich."
2
20 \::!^'X::^'^::^l:::^'t::^li:^l::^X::^^'^^
Dass an dem Textbuche vieles anfechtbar ist,
wird gerne zugegeben; es erklärt sich aber aus
der Entstehungsgeschichte zur Genüge. Schikan-
eder hatte die Anregung zur Arbeit aus dem
Märchen „Lulu oder die Zauberflöte" aus Dschin-
nistan erhalten und war in der Bearbeitung ziem-
lich weit vorgerückt, als am Leopoldstädter
Theater (am 8. Juni 1791) das ,iMaschinen-Sing-
spiel in drei Aufzügen" „Kasperl, der Fagottist"
von W. Müller, zu welchem dasselbe Märchen
verwendet worden war, mit beispiellosem Erfolge
gegeben wurde. Mozart sah sich selbst das Stück
einmal an und schrieb darüber: „Ich ging dann,
um mich aufzuheitern, zum Kasperl in die neue
Oper der Fagottist, die so viel Lärm macht —
aber gar nichts dran ist." Schikaneder fürchtete
aber die Konkurrenz, fing zu ändern an und Hess
Neues und Altes schlecht vermittelt nebeneinander
stehen. War Sarastro anfangs ein „böser Zau-
berer" (wir hören in den ersten Scenen der Oper
stets so von ihm reden), so tritt er später als edler
Mann auf; aus der „strahlenden Fee" wurde die
Königin der Nacht. Der böse Mohr Monostatos,
der prächtig zum bösen Zauberer Sarastro passte,
verblieb — Gott weiss warum — auch dem guten
Sarastro zugeteilt. Diese Grundmängel, orga-
nische Fehler, sind weder abzustreiten, noch zu
verbessern. Einen glücklichen Griff that Schi-
kaneder mit dem Hineinziehen des Geheimdien-
stes der Freimaurer in die Handlung der Oper.
Dadurch ward die „Zauberflöte" zum Sensations-
stücke. Was Kaiser Leopolds H. Regierung mit
Argwohn betrachtete, konnte in durchsichtigster
Verkleidung auf dem Theater vor tausend Augen
ungehindert geschehen. Der Zulauf der liberal
denkenden Bevölkerung war damit den Auffüh-
rungen der „Zauberflöte" gesichert.
In einem besonders merkwürdigen Lichte er-
scheint der Text jedoch, wenn wir die Keime
betrachten, welche Goethe in seiner Fortsetzunj^jf
weiter entwickelte, noch merkwürdiger, wenn wir
den Zusammenhang des Schikanederschen Textes
und der Goetheschen Dichtung mit R. Wagners,
„Siegfried" und „Parsifal" aufsuchen. Das An-
klingen an die deutschen Heldensagen mag es
gewesen sein, wodurch das deutsche Volk vor hun-
dert Jahren so schnell das deutsche Gesicht und
die deutsche Seele des angeblich „japonischen
Prinzen" Tamino erkannte.
Goethe lasst den neugeborenen Sohn Taminos
und Paminas im Momente seiner Geburt von Mo-
nostatos mit Hilfe eines Finsternis ausströmen-
den, goldenen Sarges (den die Mutter Paminas
beistellte) rauben; er hat das Kind rasch darin
verborgen, doch plötzlich wird — durch „Sarastros
Zaubersegen" — der Sarg so schwer, dass ihn
Monostatos stehen lassen muss. Wer denkt da
nicht an die deutsche Sage „vom schweren
Kinde", die Grimm mitteilt, wer nicht an die Le-
gende vom Christophorus ? Als Monostatos sich
entfernt, wird der Sarg wieder federleicht,
Frauen „bringen ihn dem brüderlichen Orden,
der, still in sich gekehrt, die Weisheit lehrt und
lernt". Sie tragen den Sarg über die Bühne und
trösten mit fernem Gesang den betrübten Tamino.
Papageno und Papagena, vorderhand kinderlos,
2 2 't:::^!^:^^^:::^!:::^!::::^^
beklagen diesen Zustand. In einer Versammlung
der Priester erscheint -vor Sarastro ein „Bruder,
der die Pilgrimschaft unseres Jahres zurückgelegt
hat" (so wie Parsifal, als er von „der Irrnis und
der Leiden Pfade" kommt). Die Priester bringen
einen tragbaren Altar, auf welchem ein „flaches
goldenes Gefäss" steht; Sarastro entnimmt ihm
eine Rolle, deren Inhalt ihm befiehlt, die
Herrschaft abzugeben. Er legt sein „Oberkleid
und die oberpriesterlichen Abzeichen" ab. Eine
an die Schlussscene im „Parsifal" erinnernde
Scene. — Tamino und Pamina sind inzwischen in
„periodischen Schlaf" versunken^ aus dem sie nur
„erwachen, um sich der Verzweiflung zu über-
lassen". Papageno, der mit Papagena am Hofe
erscheint, um erheiternd zu wirken, bläst auf der
Flöte, worauf die Schlafenden erwachen und von
Priestern Nachricht über den Verbleib des Kin-
des empfangen. Ein mystisches, „der Sonne ge-
weihtes Kästchen entsteigt, auf einem Altar
stehend," der Tiefe. „Das Kästchen ist
transparent und beleuchtet die Scene"
(ähnlich wie der „Gral"), ein unsicht-
barer Chor erklingt, die Gatten gehen durchs
Feuer. „Einer Gattin, einer Mutter, die den
Sohn zu retten eilet, macht das Wasser, macht das
Feuer in der Gruft der Ungeheuer, macht der
strenge Wächter Platz." Die Liebe hat gesiegt,
im Kästchen erklingt die Stimme des Kindes, wel-
ches als Genius entfliegt.
Es ist, wenn man nach Berührungspunkten
zwischen Tamino und den Helden der deutschen
Sage ausspäht, unschwer zu bemerken, dass Ta-
mino gleich Siegfried, gleich Parsifal, ein von der
Liebe unberührter Jüngling ist, dass Tamino
gleich Siegfried mit einem „wilden Wurm*' zu
thrni hat, den Siegfried allerdings selbst erlegt,
während Tamino die „drei Damen" die Arbeit ab-
nehmen, und er als richtiger Tenorist ohnmächtig
wird. Siegfried versteht sodann die Sprache des
Waldvogels, Tamino begegnet dem Vogelmen-
schen Papageno. Siegfried entnimmt dem Schatze
die Tarnkappe, Tamino erhält die wunderwir-
kende Flöte; jeder der beiden Jünglinge durch-
schreitet das Feuer, um in den Besitz eines Wei-
bes zu gelangen. Tamino begiebt sich, ähnlich
wie Parsifal, ins Gebiet des Gegners Sarastro, der,
in seiner ursprünglichen Fassung, an Klingsor
erinnert. Taminos und Parsifals Schweigen in
grossen Scenen der betreffenden Stücke ist auch
nicht zu übersehen. Die drei warnenden Knaben
weisen auf die drei Rheintöchter hin. In der
„Zauberflöte" wie in „Parsifal" erscheinen reli-
giöse Kulte als wichtige Bestandteile der Hand-
lung und kein zwischen dem letzten Opernwerke
Mozarts und dem letzten Opernwerke Richard
Wagners geschriebenes Musikdrama hat in an-
nähernder Ausdehnung Gebrauch von derartigem
auf der Bühne gemacht. Die hehren Klänge der
„Zauberflöte" wehen direkt herüber in den Grals-
tempel. — So mag es auch mehr als blosser Zu-
fall sein, dass Richard Wagner die „Zauberflöte"
in besonders beredten Worten preist und sag^:
„Der Deutsche kann die Erscheinung dieses Wer-
kes gar nicht erschöpfend genug würdigen.
In der That, das Genie that hier fast einen zu
24 "b?^'t:^'t5^"t:^'t:^"b^'t:^'b?*»^:^'b^'t:^"b^"t:^"t:^'t?^
grossen Riesenschritt, denn, indem es die deutsche
Oper erschuf, stellte es zugleich das vollendetste
Meisterstück derselben hin, das unmöglich über-
troffen, ja dessen Genre nicht einmal mehr erwei-
tert und fortgesetzt werden konnte." — Richard
Wagner, der in seinen letzten Werken selbst
Meisterstücke eines Genres geschaffen, das nicht
mehr erweitert, oder fortgesetzt werden kann, ist
wohl der lauterste Kronzeuge für seinen grossen
Vorfj^hr, den deutschen Meister Mozart, den
Schöpfer der „Zauberflöte" !
^
Die Liebenden von Teruel.
(Oper in vier Akten uiftl einem Vorspiele. Text und Musik von
Thomas Breton. Erste Auffuhrung auf dem k. k. Hofopern'
theater in Wien am 4. Oktober 1891.)
Ehedem war das Berühmtwerden entschieden
leichter als heutzutage! Eine etwas verzwickte
Familiengeschichte genügte, um die Namen der
Beteiligten der Nachwelt zu überliefern, und die
Liebespaare, welche es derzeit trotz des raffinier-
testen Doppelselbstmordes höchstens zu ein paar
lakonisch abgefassten Zeitungsnotizen bringen,
müssen wahrhaften Neid empfinden, wenn sie
jener berühmten Paare gedenken, welche sich ihre
Unsterblichkeit — erlieben konnten ! — Auch
die Helden der neuen Oper, „Die Liebenden von
Teruel" gehören zu diesen Glücklich-Unglück-
lichen. „Zugleich mit Isabel, an einem Tag, in
einer Stunde" wurde Marsilla geboren. „Eine
einzige Seele in zwei gleichen Teilen" ward ihnen
vom Schöpfer verliehen. „Nun lebt und liebt
euch!" So begründet Don Eugenio Hartzen-
busch, der berühmte, spanische Dichter, nach
dessen Drama Breton seinen Opemtext modelte,
die tiefe Liebe der beiden jungen Menschen. Nun
wirbt aber auch Rodrigo, ein einflussreicher und
02 T::::^Tb!^Ti^"t5^'t5^Tb!^Ti5^Ti5^Ti:^Ti5^Ti5^'b?^
sehr vermögender Edelmann, um Isabels Hand.
Der praktische Vater, der sich nebstbei mit klei-
nen politischen Umtrieben beschäftigt und bereits
auf des Ritters Hilfe in derlei Dingen grosse
Stücke zu halten scheint, sagt diesem Bewerber
die Hand der Tochter zu und lässt sich erst
durch den Jammer der beiden leidenschaftlich
Liebenden zu folgender Konzession bewegen:
die Hochzeit wird verschoben — bei Hartzen-
busch genau um sechs; bei Bretdh um fünf Jahre —
um dadurch dem an Glücksgütern armen Mar-
silla Gelegenheit zu bieten, sich im Kriege zu
Reichtum und Ansehen zu bringen. Kehrt der
junge Mann bis zum Vesperläuten des bestimm-
ten Tages nicht zurück, so wird Rodrigo Isabels
Gatte.
Das bisher Erzählte, bei Hartzenbusch ge-
sprächsweise vorgebracht, bildet in der Oper den
Stoff des Vorspieles. Im weiteren Verlaufe folgt
der Librettist im wesentlichen dem Originale. —
Marsilla erlebt allerlei Abenteuer im Kampfe mit
den Ungläubigen, gewinnt gewaltige Schätze,
wird aber dann Gefangener des Emirs von Va-
lencia, für welches Unglück ihn das Schicksal
dadurch schadlos halten will, dass der junge Held,
wenn auch gegen seinen Willen, das Herz der
Gattin des Emirs, Zulima, gefangen nimmt. Er
erklärt ihr nuij, dass er nicht sie, sondern eine
andere liebe, und erregt dadurch ihren wüten-
den Hass, der ihn auch dann noch, oder vielleicht
gerade deshalb, noch erbitterter verfolgt, als er
dem Emir das von Meuterern bedrohte Leben
gerettet und sich dafür die Freiheit und unermess-
liehen Reichtum eingetauscht hat. Die ihres Fehl-
trittes wegen verstossene Zulima eih schnurge-
rade zu Isabel, um ihr, als Kreuzfahrer verkleidet,
zu melden, dass Marsilla „untreu oder tot" sei,
worauf die schwer Gekränkte, nach Ablauf der
Wartefrist, Rodrigos Gemahlin wird. Nur dem
Namen nach ; denn Rodrigo verpflichtet sich, fern
von ihr zu leben — ihrer Lippe nicht zu nahen !
Kaum ist dies geschehen, so tritt — Marsilla ein,
der, damit er zu spät komme, in einem einsamen
Walde von Helfershelfern Zulimas an einen
Baum gefesselt und später von Jägern befreit
wir(J. Die Liebenden brechen nach schwerem
Kampfe, in welchem Isabel dem Geliebten sogar
den flehentlich erbetenen Kuss verweigert, unter
der Last des Schicksals zusammen. — In der
Oper enden die beiden nicht so schnell, sondern
Marsilla stirbt zuerst, und erst, nachdem die
trauernde Isabel dessen Begräbnis allererster
Klasse beigewohnt, lässt der unbarmherzige Li-
brettist die Aermste hinscheiden. Er bringt damit
das Jahr reichlich herein, das er ihr bei der
Wartezeit geschenkt.
Im Drama Hartzenbuschs ist die Zustimmung
Isabels zu ihrer Vereinigung mit Rodrigo tiefer
motiviert, als mit der ganz äusserlichen Fatalität
von Marsillas Zuspätkommen. Die in der Oper
gar nicht erscheinende Mutter Isabels hatte wäh-
rend ihrer Ehe ein Verhältnis mit dem Tempel-
ritter Roger de Lizana. Dieser fällt und Rodrigo
gelangt in den Besitz der Korrespondenz der bei-
den. In seinem Werbegespräch erklärt Rodrigo,
dass er, falls Isabel nicht seine Gattin werde, von
den Briefen Gebrauch machen wolle. Das ent-
scheidet. Die Tochter opfert sich für die Schuld
der Mutter, trotzdem Rodrigo knapp vor der
Trauung freiwillig die gefährlichen Schriftstücke
in Isabels Hände legt. In Bretons Textbuch er-
innert nur die Antwort der Unglücklichen auf des
Geliebten Frage „Was riss dich vom Treuschwur
los ?" : „Diego, ach, ich kann's nicht sagen" — an
diesen dunklen Hintergrund ihres Handelns.
Breton hat jede, für die Oper taugliche Situa-
tion mit Geschick benützt und auch eine Anzahl
fesselnder Bühnenbilder zu arrangieren verstan-
den. Im Vorspiel bereits ist die Gegnerschaft der
liebenden Edelmänner zu einem — leider recht
fad mit Marsillas sentimentalem Abgange enden-
den — Ensemble zugerichtet. Im ersten Akte ent-
zückt die orientalische Pracht am Hofe des Emir.
Freilich verwischt der mit peinlichster Genauig-
keit vorgeführte Bestattungsakt jeden guten
Eindruck und selbst die massig grossen Esel,
die mit der Grandezza geborener Millionäre die
Schätze Marsillas durch die gaffende Menge tra*
gen, vermögen dem trübseligen Bilde nicht aufzu-
helfen. Da müsste gekürzt, geändert werden. Es
ist des Jammers genug !
Der Komponist Breton steht dem Librettisten
entschieden weit nach. Was er bietet, ist spanische
Kapellmeistermusik, die mit aller anderen Kapell-
meistermusik eine verzweifelte Aehnlichkeit be-
sitzt. Ob jemand auf deutsch oder spanisch nichts
zu sagen hat, bleibt schliesslich ganz gleich. Schon
die Formen der Verneinungsworte scffeinen dies
anzudeuten. Nein, nichts, no, nada, nulla, niente.
— im Grunde immer dasselbe ! Breton hat wirk-
lich nichts, gar nichts zu sagen. In den die
Musik herausforderndsten Situationen enthält er
sich mit dem unheimlichsten Phlegma jeglichen
Aufschwunges und setzt mit wirklich empörender
Gemütlichkeit das Metrum in Musik, in sehr
mittelmässige Opernmusik. Und geschähe dies
wenigstens in leidlichem Flusse. Alle Augen-
blicke aber müssen die Sänger aufhören. Pausen
zählen und die deskriptive Thätigkeit des Or-
chesters abwarten, ehe sie im selben trockenen
Tone fortdocieren können. Wie Blei lastet die
stotternde Musik Bretons auf den Fähigkeiten der
Ausführenden. Marsilla, der im zweiten Akte
hilflos an den Baum gebunden erscheint, zeigt
augenfällig die Situation, in welcher sich —
sämtliche beteiligten Künstler befinden. An den
dürren Pfahl von Bretons Musik gebunden, sind
sie alle in jeglicher freien Entfaltung ihrer schön-
sten Gaben verhindert. Ein einziges Stück — das
Duett zwischen Marsilla und Isabel — macht,
wenn man recht liberal sein will, einen beschei-
denen Versuch, den langfweiligen Trab der
übrigen Musik zu verlassen. Eine Ballettmusik
(im I. Akte) ist, wenn auch keineswegs gut, doch
wenigstens nicht einschläfernd. — Kein Leit-
motiv ? wird man fragen ! Doch ! Eine sehr banale
Melodie („Meine Lieb' ist ohne Gleichen") wird
leitmotivisch verwendet und dabei ist es Breton
passiert, dass er einen feinen Zug hineingeheira-
niste. Die Melodie lässt sich anfangs so an, wie
Arditis „Baccio", es wird aber dann nichts rech-
. tes daraus. Das deutet wohl an, dass keiner der
30 "t5^t:^^5^'t?^'fc?^t^>^^^'fc;^^^»'fc^'^:^^^''^^''t^'t5^
beiden Ritter es bei der Dame ihres Herzens bis
zti einem — Kuss brachte. Eine merkwürdige
Idee Bretons ist es, dass er im letzten Akte die
Nachricht von Marsillas tragischem Ende vom
Frauenchor unisono in jenem Tone vortragen
lässt, in welchem auf Jahrmärkten unter Zuhilfe-
nahme greulicher Bilder die neuesten ^,Mord-
thaten" abgesungen werden. Freilich ist die
,,Poesie" auch zu einladend: „doch als rächend
naht Segura, springt er aus dem Fenster, verendet
sogleich. Und zum Frass der wilden Tiere hin-
warf man die Leich'.'' Das ist unwiderstehlich
komisch.
Die Orchestration Bretons ist praktisch, aber
oft aufdringlich und lärmend. Eine auffallende
Vorliebe besitzt der Komponist für die Harfe
und die Fagotts, diese ausgesprochenen klang-
lichen Antipoden. Besonders die letztgenannten
Instrumente sind zu allen möglichen und unmög-
lichen Zwecken gebraucht; sie piepsen und dudehi
den ganzen Abend, bald Hohn, bald Trauer, bald
— Liebe ausmalend. Oder sind die Fagottisten
in Bretons Orchester ein paar einsichtsvolle
Freunde, deren Urteil über die Oper der Kompo-
nist nicht hören wollte und die er durch diese
immerwährende Beschäftigung zum — Schwei-
gen verurteilte?
Bretons neue Oper ist nun bereits das dritte
Werk, dessen Aufführung sicherlich nicht der
künstlerischen Initiative Direktor Jahns zu ver-
danken ist; man kann aber nicht mit Paris da-
von sagen: „Ja die Dritte, ja die Dritte war die
schönste von den Dreien!"
Zwei Opern von Mozart..
(.»Bestien und Bastienne." Singspiel in einem Akte. Mit neuem
Text und Dialog von Max Kalbeck. Musik von W. A. Mozart. —
„Die Gärtnerin" („La finta giardiniera"). Komische Oper in zwei
Akten. Mit neuem Text und Dialog von Max Kalbeck. Musik
von W. A. Mozart. — Erste Aufführungen am k. k. Hofopern'
theater in Wien am 25. Dezember 1891.)
Nach den zwölfaktigen Trilogien kommen die
Einakter in Mode; nach all' den Flammen der
Leidenschaft, die, von der Hölle bis zum Himmel
schlagend, bisnun die g^össte Zugkraft übten, hat
das mehr als hundertjährige Schäfersingspiel des
zwölfjährigen Mozart, hat eine fast ebenso alle
Opera buffa desselben, damals achtzehnjährigen
Meisters in der Wiener Hofoper grossartigen
Beifall gefunden. Wenn wir uns nicht sehr täu-
schen, so ist die am Christtage erfolgte Neuauf-
führung zweier vergessener Mozartscher Opern
nicht bloss eine scheinbare Belebung durch Jubi-
läums - Galvanismus , sondern bedeutet eine
dauernde Bereicherung der Opemrepertoire. Wir
würden es tief bedauern, wenn ein Werk von der
Frische der „Gärtnerin" nicht allüberall ebenso
bewundert würde, wie es Freitag durch unser ge-
wiss rigoroses Opernpublikum geschehen ist, wenn
nicht „Bastien und Bastienne" zuweilen als wert-
volles Edelsteinchen mit Erfolg in den prunken-
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den Ring unseres Spielplanes eingefügt werden
könnte.
„Bastien und Bastienne" schrieb Mozart 1768
für das Liebhabertheater des auf der Landstrasse
wohnenden reichen Dr. Messmer, nachdem ihm
durch die Intriguen des Impresario Affligio und
seiner Komödianten die Möglichkeit geraubt wor-
den war, seine für die Wiener Oper komponierte
Opera buffa „La finta semplice" zur Aufführung
zu bringen. Der ursprüngliche Text des kurzen
Singspiels ist nach einer Parodie auf Rousseau.s
damals in höchster Popularität stehende Oper
„Devin du village" 1764 von W e i s -
kern bearbeitet worden. Die neue Fas-
sung Max Kalbecks hat das Scenarium
im ganzen beibehalten, die Dichtung so-
wohl als der Dialog sind durchaus anders
als im Original. Die Handlung ist die denkbar
einfachste. Bastienne, eine Dorfschöne, glaubt
sich von Bastien, ihrem Geliebten, vernachlässigt ;
der Dorfquacksalber Colas rät ihr, den Burschen
durch Eifersucht zu quälen. Dieses Mittel, das
mit dem Chinin die Eigenschaft gemeinsam hat,
in kleinen Dosen „roborierend", belebend zu wir-
ken, in grossen die Temperatur herabzusetzen,
es verfängt auch hier. Die Liebenden sind bald
geheilt und stimmen zum Schlüsse einen Dank-
gesang an den Spender des Rezeptes an, in wel-
chen dieser mit überlegener Heiterkeit selbst ein-
stimmt. Die Musik trifft mit Sicherheit den
Charakter des deutschen Singspiels und ist sehr
geschickt auf den ländlichen Ton der Handlung
gestimmt. Einzelne Partien, so zum Beispiel Co-
las' Lied „Als Hexenmeister darf ich frei", zeigen
deutlich, dass der Faden der alten deutschen Ope-
rette und des vornehmlich durch Adam Hiller
gepflegten Singspiels, den in neuerer Zeit Alb.
Lortzing mit so viel Glück wieder aufgenommen,
auch schon durch des Kjnaben Mozart Hand ge-
glitten war. „Bastien und Bastienne" ist trotz
französischen Sujets und französischer Namen
die erste künstlerische Manifestation des deut-
schen Meisters Mozart. — Grösser ausgeführte
Nimimern lässt der Text nicht zu. Das Duett der
Liebenden ist das umfangreichste Stück der Par-
titur. Ausser diesem sind mir ein paar Liedchen,
ein Duett und der geistvolle Schlussgesang vor-
handen. Eingeleitet wird das Singspiel durch
eine Intrada (ein kurzes Allegro), deren erstes
Thema mit dem Anfangsthema der Beethoven-
schen „Eroica" fast notengetreu übereinstimmt.
Das ganze Werkchen ist schlicht, dabei voll
Grazie und treuherzigem Ausdruck, einfach, aber
mit sicherer Hand gemacht. Nur ein Mozart,
konnte dergleichen mit zwölf Jahren schaffen.
Um ein gewaltiges Stück höher — in jeder
Hinsicht — steht „Die Gärtnerin". Mozart hatte
1774 den Auftrag erhalten, für den Münchener
Karneval 1775 eine Oper zu schreiben. Dem
Kurfürsten Maximilian von Bayern konnte der
Erzbischof von Salzburg nicht abschlagen, den
jungen Komponisten für die Oper zu beurlauben.
„Wie weit er die Oper fertig (von Salzburg) mit-
brachte, was in München geändert oder neu ge-
schrieben wurde, ist nicht bekannt." (Jahn.)
Mozart traf Anfang Dezember 1774 in der baye-
Im Foyer. 3
34 t5^"t^t?'5"fc5^t5^t5^t^t^t?'5t:^"t5^'b?^t:^t5^t:^
rischen Hauptstadt ein, Ende des Monats began-
nen die Proben, und die ursprünglich für den
29. Dezember und dann für 5. Januar 1775 in Aus-
sicht genommene Aufführung fand endlich am
13. Januar statt. Der Hof und das Publikum
überschütteten den Komponisten mit Beifall und
Ehrenbezeugungen.
Der Stoff der Oper — wie er uns in Kalbecks
Bearbeitung vorliegt — ist folgender : Die Gräfin
Violante Onesti ist durch ihren Verlobten, den
Grafen Belfiore, fast ums Leben gekommen. Der
junge Mann wird deshalb verfolgt und entflieht.
Die Gräfin, „nur um 'den flüchtigen Geliebten auf-
zufinden", tritt beim Podestä von Lagonero als
„Gärtnerin Sandrina" in Dienst. Das Haus die-
ses Alten ist eine förmliche Heiratsagentur. Wäli-
rend er selbst etwas in Liebe dilettiert und der
schönen Gärtnerin nachstellt, beschäftigt er sich
damit, seine bereits mit dem Herzen des jungen
Edelmannes Ramiro wohlversorgte Nichte Ar-
minda mit dem Grafen Belfiore zu vermählen, von
dessen Schuld er noch nichts erfahren. Ramiro
und Arminda, Belfiore und die gräfliche Gärtnerin
ti ef fen sich hier und finden in den zahlreichen
praktikablen Taxus-Lauben alsbald Gelegenheit,
ihre Herzenssachen so ziemlich ins reine zu
bringen, während der Haushofmeister Violantens,
der sich gleich seiner Herrin als Gartenarbeiter
verdungen, seine Zukunft auf die Neigung des
Kammermädchens Serpetta fundiert. Die Gräfin
prüft ihren Geliebten, indem sie ihm erklärt, er
habe Violante wirklich getötet. Belfiore lässt
sich aber nicht abweisen und folgt der Schönen.
In einem Wäldchen, worin sich die vor den Zu-
dringlichkeiten des Podesti entfliehende Gräfin,
sowie alle anderen Personen des Stückes zusam-
menfinden — die zwei Edelleute wollten sich hier
duellieren, der „Gärtner" und das Kammerkätz-
chen hatten ein Rendez-vous miteinander verab-
redet, der Podestä hatte erfahren, dass „sein'*
Graf von der Behörde verfolgt sei, und ist ihm
mit den Sbirren nachgeeilt — löst sich die Ver-
wirrung und mit drei glücklichen Paaren schliesst
die Oper.
Herr M. Kalbeck hat den Text auf zwei Akte
zusammengezogen und die Verse und den Dialog
neugedichtet. Ihm gebührt das Verdienst, alten
hundertjährigen Staub von" der blühend jungen,
nicht bloss interessierenden, sondern reizenden
Musik entfernt und derselben wohl für lange Zeit
auf die Beine geholfen zu haben. Es war dies
kein leichtes Stück Arbeit. Aber es ist gelungen.
Kalbeck hat ein selbst für unsere anspruchsvolle-
ren Tage sehr gut mögliches Stück hergestellt
und bewies im Unterlegen der Texte, sowohl im
ganzen, als bis ins kleinste Detail, eine ausser-
ordentliche Feinheit, die sowohl seine musika-
lischen Kenntnisse, als auch seine litterarischc
Meisterschaft in das hellste Licht stellt. An
musikalischen Aenderungen wurde nur das unum-
gänglich Nötige gemacht. Es wurden in den
Arien unerträgliche Wiederholungen entfernt, die
Musikstücke umgestellt und das Ganze stark ge-
kürzt.
Die Mozartsche Musik zur „Gärtnerin" gehört
zum reizendsten, was wir von diesem einzigen
3*
3 6 '^:^'X::^'X::^'X:^'X::^'X:::^'X::^'X:::^'X:^
Manne besitzen. Was Schubart (1775) über das
Werk schrieb: „Genieflammen zückten da und
dort", wir müssen es heute bestätigen. Es tritt
uns eine edle, reife Kunst in den Arien, eine ge-
waltige Meisterschaft in den reichgegliederten
Finalen, eine vollendete Technik in der Behand-
lung der Singstimmen und des Orchesters ent-
gegen, wie sie nur ein achtzehnjähriger Mozart
sein eigen nennen konnte ! Die bis heute noch un-
erreichte Kunst musikalisch-dramatischer Gestal-
tung, die uns im „Figaro" ebensosehr mit Stau-
nen als mit Entzücken erfüllt, sie steht in der
„Gärtnerin" fast schon auf voller Höhe und nicht
zufällig ist es, dass aller Orten sich melodische
Knospen zeigen, die auf dieses spätere Meister-
werk hindeuten. Mozart hat sich offenbar seines
genialen Jugendwerkes erinnert, als er die
schönste aller komischen Opern schrieb.
An der Hebung dieses musikalischen Schatzes
gebührt unserem Hofkapellmeister Herrn Hans
Fuchs ein nicht unbedeutender Anteil. Er hat
sowohl „Die Gärtnerin" als auch „Bastien und
Bastienne" zur Aufführung vorgeschlagen, hat
die Partituren einer genauen Revision unterzogen,
hat diskret retouchiert, indem er die Bläser ver-
stärkte und belebte, und hat mit feinstem Ver-
ständnis sowohl für die Musik als für die An-
sprüche des heutigen Publikums die für den Er-
folg unerlässlichen Kürzungen vorgenommen.
Fuchs' Arbeit macht sich besonders in der „Gärt-
nerin" geltend; das Werk des Zwölfjährigen wird
genau in Mozarts Instrumentation gespielt !
r
Werther.
(Lyrisches Drama* in drei Akten und vier Bildern (nach Goethe)
von Ed. Blau, Paul Milliet und Georges Hartmann. Für die
deutsche BOhne übertragen von Max K a 1 b e c k. Musik von |. M a s '
s e n e t. — Erste Aufführung auf dem k. k. Hofoperntheater m Wien
am f6. Februar 1892.)
In einem der alten, wildverwachsenen Fried-
höfe Hannovers erhebt sich ein einfacher Grab-
stein, auf dem der Name Charlotte Kestner ein-
gemeisselt ist. Ehemals lag der jetzt nicht mehr
im Gebrauche stehende Gottesacker wohi weit
ausserhalb der Stadt; jetzt ist er von Strassen,
von neuen Gebäuden umgeben. Die Zeit, da er
aufgelassen werden wird, ist nicht mehr ferne.
Der lebendige Verkehr wird frisch und geschäf-
tig über all das begrabene Leid hinwegschreiten.
Vor dem Grabe von Goethes Lotte, das erhalten
werden soll, wird aber noch mancher Wanderer
seine Schritte hemmen und jener Frau gedenken,
die man die Muse der neueren deutschen Littera-
tur nennt.
Die liebliche Amtsmannstochter aus dem stil-
len Wetzlar war durch ihre Beziehung zu Goethe
eine der wichtigsten Frauen ihrer Epoche gewor-
den. Sie musste es dafür auch hinnehmen, dass
die, nach ihrem Ebenbilde geformte Charlotte
3 8 'y::^'>X::^i^:^i'^:^\:^i^::^^i^:^^t::^ri^:^^
Werthers noch bei ihren Lebzeiten auf die Bühne
gebracht wurde. Ja, zu einer Zeit, in welcher
Goethe noch mit den Kestners in Briefwechsel
stand, gab man in Paris ein Singspiel : „ Wertlier
et Charlotte" (im Februar 1792, gerade hundert
Jahre vor Massenets Oper) ; ein paar italienische
Opern über denselben Stoff, komponiert von V.
Puccitta (1805), Nik. Benvenuti (1811) und
Karl Coccia (1814), hätte die erst 1828 entschla-
fene Frau sich noch ganz gut ansehen können.
Sie hat schwerlich Verlangen danach getragen.
Es ist wohl nicht lediglich Zufall, dass gera<le
in Frankreich die erste der Werther-Opem auf-
tauchte, und dass in Italien die weiteren obgenann-
ten folgten, denen sich in unseren Tagen noch
zwei (von Gentili und Aspa in den Sechziger-
jahren komponierte) anschlössen. War doch die
Grundstimmung zu Werthcj: Goethe 'durch Rous-
seaus „Nouvelle Heloise" zugekommen, hat doch
Napoleon I. Werther siebenmal gelesen und das
Buch sogar nach Aegypten mitgenommen, war
Goethes Roman doch in Frankreich durch Ueber-
setzungen und Nachbildungen sehr bekannt ge-
worden, hat doch Ugo Foscolos Kopie (unter dem
Titel „Le ultime lettere di Jacopo Ortis" 1802 er-
schienen) in Italien ungeheures Aufsehen erregt.
— Als Merkwürdigkeit sei nebenher erwähnt,
dass ein Zweig der leiblichen Nachkommenschaft
Charl. Kestners nach Frankreich übersiedelte und
derzeit Familienangehörige derselben existieren,
welche nur französisch sprechen. — Es ist ein
eigentümliches Hin- und Wiederfluten. Die auf-
fallende Vorliebe gerade romanischer Kompo-
nisten für Goethesche Stoffe, welcher wir Gou-
nods „Margarethe", Thomas' „Mignon", Boitos
,,Mephistopheles" verdanken, sie hat auch M a s -
s e n e t , den seit seiner ,,Manon" in Wien so
sehr gefeierten Komponisten, bewogen, nach dem
entzückenden Hohenliede des jungen Olympiers
zu langen.
Ob „Werther" sich — all den faktisch vorlie-
genden Bearbeitungen zum Trotze sei es betont
— überhaupt für das Theater eignet, steht keines-
wegs ausser Frage. Nur das Thatsächliche ist
aus dem Roman herauszuheben, eine Liebesge-
schichte mit tragischem Ausgange, welch letzte-
ren Massenets Librettisten noch durch Lotteiis
Tod potenziert haben; eine gar einfache, fasl
ärmliche Handlung. Aus Werther, dem mit zahl-
losen persönlichen Zügen Goethes ausgestatteten
Manne, ist ein gewöhnlicher Liebhaber geworden,
aus der herrlichen Lotte eine ziemlich durch-
schnittliche Frauengestalt, welche selbst von dem
Vorwurfe einiger Koketterie nicht ganz freizu-
sprechen ist. Das schönste, das rührendste und
ergreifendste blieb im Buche zurück. Es gehört
dies eben zu jenen Dingen, von denen der Dichter
sagt : „O rühret, rühret nicht daran". Den Hauch
des geliebtesten Mundes vermag man nicht mit
Händen zu greifen, Thränen lassen sich nicht
aufheben; die tiefsten Leiden des Menschen-
herzens verbergen sich vor dem frechen Lichte
der Bühne umsomehr, je heller dasselbe hinein-
zuleuchten versucht. Mit sozusagen weiblichen
Stoffen, wie Werther, geht es ähnlich, wie mit
den Frauen selbst: man kann thatsächlich von
ihnen Besitz ergriffen haben, ohne Herr ihrer
Seele geworden zu sein.
Man muss es den Textdichtern Massenets
nachsagen, dass sie das möglichste gethan haben,
um alles irgend für dramatische Verwertung ■
Taugliche in ihr „Buch" hinüber' zu retten und
am Wege nicht alle Goldkörner von Poesie zu
verstreuen. Die Handlung ist in drei Akte ge-
gliedert, deren erster mit der vollen Erkenntnis
schliesst, dass sich Lotte und Werther lieben,
einander aber nie besitzen werden; der zweite
endet damit, dass es Albert klar bewusst wird,
dass sein junger Freund seine Frau liebt; die
erste Hälfte des dritten Aktes zeig^ dem Gatten,
dass diese Neigung erwidert wird . . . die zweite
bringt den auf der Bühne peinlich berührenden
Liebestod des durch menschliche Satzung ge-
trennten Paares. Die entscheidendsten Momente
des Dramas markieren die Aktschlüsse. Zwischen
diesen Inflexionspunkten ist alles untergebracht,
was nur immer die „Stimmung" herzustellen ver-
mag. So sieht man im ersten Akte den Amtmann
inmitten seiner jubelnden Kinderschar, sieht
Lotte im Hause walten und Werthers Eintritt in
die Familie. Die beiden jungen Menschen gehen
auf den Ball und kehren gegen Morgen langsam,
Hand in Hand, nach Hause zurück. Ein rühren-
des Idyll, vielleicht der poetische Höhepunkt der
Oper.
In dem traulichen Gespräche erfährt Werther,
dass Lotte nicht frei sei; mit den Worten: „Ein
anderer .... ihr Gemahl" bricht er zusammen.
Der zweite Akt zeigt Lotte als stille, freundliche
Gattin Alberts; die beiden haben sich zur golde-
nen Hochzeitsfeier des Pastors eingestellt. Ein
Zusammentreffen Werthers mit Albert führt zu
einer ehrlichenAuseinandersetzung über Lotte und
der letztere versucht ziemlich deutlich die Blicke
des Liebeleidenden auf Lottens jüngere Schwe-
ster Sophie abzulenken. Aber nicht mehr als ein
flüchtiges Lächeln entlockt das liebliche Mädchen
dem tief Unglücklichen, der nach einem aus-
sichtslos verlaufenden Gespräche mit der aus der
Kirche tretenden Lotte verzweifelt von hinnen
eilt, trotzdem ihn Sophie zurückzuhalten ver-
sucht. — Im Beginn des dritten Aktes sehen wir
Lotte allein bei ihrer Lampe sitzend; sie liest
Briefe von der Hand des geliebten, fernen Freun-
des; man sieht, sie hat sich ganz in ihn verloren.
LTmsonst versucht die Schwester, sie zu erheitern.
Da tritt der heiss Ersehnte ein Am
Schlüsse einer leidenschaftlichen Soene sinken
sich die Liebenden in die Arme. Lotte reisst sich
los, Werther flieht. Albert tritt ins Zimmer und
vermutet, dass da etwas vorgegangen sei. Das
verstörte Aussehen seiner Frau nährt seinen Arg-
wohn — da tritt Werthers Diener ein mit dem
Ersuchen um Alberts Pistolen. Lotte selbst muss
sie ihm übergeben. Während der nun folgenden
Verwandlung erscheint die Stadt Wetzlar in win-
terliche Abendstimmung; ein ganz hübsches,
nur — neben der Tragik der Handlung — etwas
kindisch erscheinendes Bild. Im letzten Aufzuge
erblickt man den zu Tode getroffenen Werther,
zu dem Lotte atemlos hereinstürmt; das Leben
des Geliebten flieht, an seiner Leiche sinkt die
4 2 '^:^i^^::^it::::^i^:^iX::::^i^::^^^:::^'i^
Dulderin entseelt zu Boden. Das Weihnachtslied
der Kinder ertönt scharf von aussen her — am
trüben Epde an den seligen Anfang erinnernd.
Massenet hat zu diesem Buche eine feine,
geistvolle, hier und da sogar das Gemüt berüh-
rende Musik geschrieben, welche für die vor-
nehme Gesinnung, die enorme Bühnenroutine tmd
die instrumentale Effektkenntnis des Autors wie-
der ein glänzendes Zeugnis ablegt. Von dem
Schwünge, von der Glut, die eine halbwegs eben-
bürtige musikalische Nachbildung des Goethe-
schen Originals erfordert hätte, ist freilich wenig
zu spüren. Nimmt man den Ausdruck nicht gar
zu wörtlich, so kann man sagen, im Goetheschen
Roman sei mehr Musik enthalten, als in der gan-
zen Massenetschen Oper. Viele Stellen lechzen
nach leidenschaftlicher Musik, so zum Beispiel
Werthers langer Monolog, in welchem er zum
ersten Male den Todesgedanken fasst, oder Lottes
Soloscenen im dritten Akt (beim Brieflesen und
später, knapp, ehe Werther eintritt) oder gar die
Schlussduette. Gerade da bleibt Masäenet hinter
den Forderungen des Buches zurück und bietet
kaum mehr als Brouillons, deren Ausführung er
den Darstellern überlässt. Seine Musik schimmert
nur durch, wie der Goldgrund alter Gemälde
durch die Farben. An zwei entscheidenden Stel-
len bewährt sich der französische Meister aber als
poetischer Kopf. Er mag erkannt haben, dass
— wie wir früher ausführten — das beste des
Stoffes im Buche zurückgeblieben, dass aber die
Musik imstande sei, in ihrer Weise etwas von
dem verklärenden Dufte der Dichtung selbstherr-
lieh nachzuschaffeii. So kam es, wie von selbst,
dass zwei wortlose Stücke, die tiefpoetischc Rück-
kehr des Paares vom Balle (im i. Akte) und die
an Bellinis südlicher Melodik erwärmte Verwand-
lungsmusik im 3. Akte die Perlen der Partitur ge-
worden sind. Neben diesen zwei Glanznummern
heben sich zahlreiche Stellen durch scharfe Cha-
rakteristik, durch unfehlbare Sicherheit der
Nachempfindung hervor; voll Grazie ist Sophies
Liedchen im 2. Akte, ein Effektstück gröberer
Gattung Werthers Auftrittslied ebendaselbst, sehr
stimmungsvoll sind einige Duette. Anmut, Geist
und grosse theatralische Kunst zeichnen das
ganze Werk aus.
^
Die czechische Oper in Wien.
i„Die verkaufte Braut." Komische Oper in drei Akten von
'r. Smetana. Erste Auffuhrung auf dem Ausstellun^stheater
in Wien am 1. Juni 1892. — „Dimitrij." Grosse Oper in vier Akten
von A. Dvorzak. Erste Auffuhrung auf dem AusstellungS'
theater in Wien am 2. Juni 1892.)
Es ist noch nicht gar zu lange her, seit sich die
Prager Musik etwas abseits von der allgemeinen
Strasse in die böhmischen Wälder schlug, um
dort dem urkräftigen Boden des Volkslebens die
taufrischesten, vielfarbigsten, bis dahin schier
unbekannten Wunderblumen zu entnehmen, mit
welchen nun die ersten Meister der Nation ihre
besten Werke zieren und beleben. Wie einstmals
Haydn, Mozart und gar Schubert die traulichen
Weisen des wicnerwäldischen Volksliedes in die
„grosse Kunst" einführten, so tritt heutzutage in
Böhmen — sowie auch in Polen, Ungarn, Russ-
land — das ehemals nur den Dorf mägden, Hand-
werksburschen und Jägern geläufige Volkslied
an der Hand bedeutender Komponisten manchmal
schüchtern, manchmal selbstbewusster in die all-
gemeine Bewegung ein. Sowie die oberen Stände
durch Auffrischung des Blutes von unten herauf
stets gewonnen haben — ein hierauf bezügliches
kerniges Wort Kaiser Franz I. hat sich bis auf
unsere Tage erhalten — so treiben Poesie und
Musik immer einer neuen Blüte entgegen, wenn
sie sich an der frisch sprudelnden Quelle des
echten Volksliedes erlabt haben.
Von den böhmischen Komponisten sind es
namentlich Smetana und Dvorzak, welche dem
Schatze der nationalen Lyrik die wertvollsten
Edelsteine entnommen und dieselben in künstle-
risch vollendete Fassung gebracht haben. Der
ältere von beiden ist zuerst zu Worte gekommen
und hat mit seiner „Verkauften Braut", die als
die beste czechische Oper gilt und eine Volks-
tümlichkeit geniesst, wie in deutschen Landen
etwa der „Freischütz", den Reigen der Vorstel-
lungen des königlich böhmischen Landes- und
Nationaltheaters eröffnet.
Smetana war kein Glückskind. Er wurde am
2. März 1824 in Leitomischl geboren, bildete sich
bei Proksch und Liszt zum Pianisten aus, wurde
nach mehrjährigem Aufenthalte in Schweden
1866 Kapellmeister am Nationaltheater in Prag,
musste diese Stelle aber 1874 wegen Taubheit auf-
geben und starb am 12. Mai 1884 im — Irren-
hause. Einige seiner genialen symphonischen
Dichtungen haben wir in Wien bereits kennen ge-
lernt, von seinen sieben Opern gelangte erst jetzt,
und zwar seine berühmteste hier zur ersten Auf-
führung (diese war zugleich die 204. Reprise des
Werkes). Smetanas Opernthätigkeit begann mit
„Die Brandenburger in Böhmen", die am 5. Ja-
nuar 1866 aufgeführt wurde und welcher bereits
am 30. Mai desselben Jahres „Die verkaufte
Braut" folgte. „Dalibor" erblickte am 15. Mai
46 "b:^l!!5^Xi:^li5^Tb?^Ti?»^Tb5^"b5^Tb^Tb^
1868 das Licht der Lampen, „Die beiden Witwen"
am 27. März 1874, „Der Kuss" am 29. Oktobei
1876, „Libussa" am 11. Juni 1881, „Des Teufels
Wand" am 29. Oktober 1882.
Wurzeln alle Werke Smetanas tief im Boden
seiner geliebten Heimat, so gilt dies ganz beson-
ders von der „Verkauften Braut", die sich ihr
Sujet sowohl, als ihre Musik gleichsam aus der
wirbelnden Fülle des Volkslebens holt. Die Hand-
lung ist so einfach als nur möglich. Hans, ein
Bauernbursche, der angeblich als Vagabund in
der Welt umherzieht, ist heimlich zurückgekehrt
und hat ein inniges Verhältnis mit Marie, einem
Mädchen, dessen Vater sich vor Zeiten verpflich-
tete, dieselbe „dem Sohne Michas" zur Frau zu
geben. Das wäre nun kein Hindernis für das
Glück der Liebenden, wenn der Heiratsvermittler
Kecal nicht gerade den tölpelhaften Halbbruder
Hansens — Wenzel — mit Maria zusammen-
bringen wollte. Endlich geht der schlaue Hans
darauf ein, sein Liebchen gegen den Betrag von
300 Gulden „dem Sohne Michas" zu cediren.
Wenzel, der sich Maria täppisch genaht, bald
darauf aber mit der „Indianerin" einer umher-
ziehenden Gauklerbande geliebäugelt hat und sich
sogar herbeilässt, an Stelle eines an spirituosem
Unwohlsein leidenden „Artisten" die Rolle eines
Bären zu übernehmen, macht sich dadurch vor
dem ganzen Dorfe lächerlich und erscheint als
unmöglicher Bewerber. Eine hart an bitteren
Ernst streifende Differenz zwischen dem Liebes-
paare, welche dem von dem Mädchen übel gedeu-
teten Vertrage entsprang, ist bald beigelegt, Hans
giebt sich als Michas Sohn zu erkennen, und die
Eltern segnen den Bund.
Diese Handlung ist in drei Akte geteilt und
durch eine reiche Zahl äusserst lebensvoller Bil-
der aus dem Volksleben gewürzt. An dramati-
scher Wirkung steht der knappe erste Akt oben-
an; der dritte Aufzug dürfte von packenderer
Wirkung sein, wenn einige der dicht vor der Lö-
sung des Knotens eintretende Retardationen ent-
fernt würden. Die Soloscene Marias (IIL Akt
5. Scene), sowie Hansens etwas umfangreicher
Gesang: „Vertraue mir, mein liebes Kind"
(8. Scene) sind bei aller Schönheit fatale Hinder-
nisse für den Fortschritt der Handlung. Zu grosse
Behaglichkeit auf der Bühne trägt Unbehaglich -
keit in den Zuschauerraum.
Die musikdramatische Technik Smetanas
wandelt in der „Verkauften Braut" noch die
Wege der alten Oper mit ihrer beglückenden
Melodik, ihren Ensemblesätzen, ihren grossen
Vorzügen und kleinen Mängeln. Jedoch benützt
der Meister bereits Erinneruilgsmotive oder viel-
mehr Erinnerungs t h e m e n. Ein erquickender
Strom ungekünstelter, dabei oft sehr kunstreicher
Melodie fliesst vom Anfang bis zum Ende fort;
hie und da mag zwar der Deutsche etwas Eintö-
niges in Weise oder Rhythmus empfinden; dem
unter den Klängen slavischer Lieder Aufgewach-
senen wird es um so inniger anmuten. Da ist der
Punkt, wo die Nationalität leise mitzusprechen
beginnt, sie, die die Menschen so leicht ausein-
ander- und so schwer zusammenkommen lässt.
Nach unserem Gefühle — und wir gehören zu den
48 "t5^t:^"t5^^5^"b?^t:^'t5^'t:'^'t:s^"t:^'t?^"t:^"t^'b^"t5'^
leidenschaftlichsten Verehrern slavischer Musik—-
wirkt der oftmalige kurzatmige Rhythmus, ety^as
Zappelndes, auf einem Flecke Forthopsendes, zu-
weilen ermüdend, und der Reiz, der uns im ersten
Akte mächtig umstrickt, zieht sein goldenes Netz
gegen Schluss hin etwas gar enge zusammen.
Man könnte im wahrsten Wortsinne sagen:
es ist des guten hie und da etwas zu viel, wenn
das Wort gutes nicht viel zu wenig bezeich-
nete. Man darf nämlich der Smetanaschen Oper
den Titel eines Meisterwerkes absolut nicht vor-
enthalten. Genial hebt sie an mit einer Ouver-
türe, die an Flottheit der Einfälle und Keckheit
der Ausarbeitung nicht viele Seitenstücke in der
ganzen Musiklitteratur besitzt. Wie die ersten
Violinen mit einem Geräusche beginnen, als
wehte ein lauer Wind, und die anderen Streicher
dann mit einem übermütigen Forte-Thema drein-
fahren, das gehört zu jenen Eingebungen, die nur
einem Begnadeten beschieden sind. An dieses
Stück klingt das schöne Finale des zweiten Aktes
(die Errichtung des Cessionskontraktes) an, ein«!
Nummer von ebenmässigstem Aufbau und gröss-
ter Wirkung. Den bestechendsten Eindruck
machten bei der Aufführung der Eingangschor
— zugleich ein typisches Muster für das echt sla-
vische Hineinspielen der Melancholie in die
Freude des Festes — das Liebesduett in B-dur,
in welchem die fast starrsinnige Beständigkeit
des Mädchens durch eigensinniges Festhalten
einer Note (F) auf die Worte „Unsere treue
Liebe ewig wird bestehen" geistreich angedeutet
ist (eine sinnreiche Reminiszenz an diese Stelle
findet sich' in der fünften Scene des dritten Ak-
tes), die urwüchsige Buffoscene zwischen dem
Heiratsvermittler und den Eltern Mariens, das
von einer tiefempfundenen Violinkantilene ge-
tragene A-dur-Duett des zweiten Aktes u. s. w.
Wir schliessen die Aufzählung, da wir mindestens
das halbe Werk anführen müssten. Ein gewisses
Aufsehen erregte das Vokal-Sextett des letzten
AkteSj ein stimmungsvolles und bei so virtuoser
Ausführung wie durch die Mitglieder des böhmi-
schen Landestheaters überaus effektvolles Stück.
Das Märchen,' dass das Publikum Ensembles ü.
dergl/ nicht mehr liebe, ist uns nie so läppisch
erschienen, als da das gedrängt volle Haus. den
schönen Satz zur Wiederholung begehrte. Viel-
leicht mag das Publikum nur die schlecht gesun-
genen Ensembles nicht ....
Durch „Die verkaufte Braut" hat sich Sme-
tana einen Ehrenplatz unter den Opernkompo-
nisten auf lange Zeit hinaus gesichert.
Dv.orzaks grosse historische Oper, „Di-
mitrij", welche den aus Schillers Fragment be-
kannten Demetrius-Stof f in operngerechter Weise
behandelt> steht weitab von der blühenden, natio-
nalen Kunstweise Smetanas. Diese Oper brauchte
keineswegs von einem Slaven herzurühren, son-
dern könnte ebensogut das Werk irgend eiiies —
natürlich hochbegabten — deutschen Kompo-
nisten sein, und verrät sich Dvorzak nur durch
seine sich. nirgends verleugnende Vorliebe für
feines 'Flickwerk, immer frisches Ansetzen,, seine
Hinneigung zu : einheitsgef ährd^ ndem Detaillieren.
£ia geistvoller Maler, der ein grosses Bild fertigt,
Im Foyor, 4
aber kurzsichtig ist und das Gan&e ni<tht übler-
sieht, müsste so-maAeti, wie Dvopzaki Theatör-
Musik schreibt. Dramatische Höhepunkte plan-
mässig. vorbereiten, um* danii< im entscheiden-
den Momente mit mächtiger Faust i» alle Saiten
des ungeheueren Instruments zu greifen^ welches
das Theater dem OßemkDm|»onisteti in die Hand
g^ebt, das ist des genktlen böhmischen Sytnfiha-
nikersi Sache nicht. — Wie viele Komponistew,
die nicht würdig sind, Dvorzak< die^ Sch^riemen
aufzulösen, hätten dennoch zum Betspiel deni
Liebesdtfett zwischen Dimitrij und Xenia mehr
Wirkung abgewonnen. — Unter Dvorzaks kunst-
reich fortkontrapunktierender Feder entstand
eines jener „gleich dicken" Stücke, die für die
Bühne nicht taugen und an dtessen Lang«Reiii|^eii
auch der sehr schön ausklingende Schl|iss nur
mdir wenig zu ändern vermag« — Weitaus am
kräftigsten ist der — freilidi auch öfters ins Ora-
torienhafte sich verbreiternde — erste Akt mit
dem prachtvollen Einzugsmarsch geraten, dann
der hinreissende Entreakt und die durch
einen originellen slavischen Tanz gehobene
Ballettmusik des zweiten Aktes; im dritten und
vierten Aufzuge erlähmt die Kraft des Komflo-
nisten zusehends, und in einigen Ensembles sidit
man den sonst so wählerischen Meister mit recht
billigen „Hausmitteln" der Theatermusik han-*
tieren.
Trotz seiner konstitutionellen Mängel hat uns
„Dimitrij" vielfach interessiert. Es. ist ja eine
Fülle schöner absoluter Musik^ ein verschwendie-
rischer Reichtum von Geist und Kunst -*- nament-
lieh auf instrumentalem Gebiete — in dieser Par-
titur niedergelegt, und die glänzende Aufführung
durch das Personal des böhmischen Landes-
theaters bringt alles zu Tage, was nur irgend der
Meister vorgeahnt haben mochte. Die Nachkom-
men derjenigen, für welche Mozart einst seinen
„Don Juan" schrieb, haben sich mit der Darstel-
lung der bisher gegebenen zwei Opern als Voll-
blutmusiker und Bühnenkünstler von hohem
Range erwiesen.
M'
4*
..Halka.
tt
(Romantische Oper in~ vier Akten von Stanislaw Moniuszko.
Vom polnischen Ensemble im Theater der „Musik- und Theater«
ausstellung in Wien" aufgeführt am 10. September 1892.)
Die rührend einfache Handlung der polni-
schen Nationaloper „Halka" ist das alte Lied von
Liebe und Untreue, in das von ferne ein hilfloses,
kleines Menschenwesen hineinschreit, herber und
lauter als aller Jammer der verlassenen Mutter.
Wie viel tausendmal ist derselbe Stoff schon
behandelt worden, wie oft wird er noch behandelt
werden? Immer wieder packt und ergreift er,
denn immer wieder andere Zuschauer, Zuhörer
füllen das Theater und messen in ihres Herzens
Heimlichkeit ihr eigen Leid an so grossem Unheil,
um — je nachdem — getröstet oder noch demü-
tiger von dannen zu gehen. Das grosse Thema
der Liebe, und gar jenes der unglücklichen Liebe,
beherrscht alle Bühnen, weil jeder, der da zu
schauen kommt, davon doch mindestens etwas
versteht. Mit diesem Normaltone des mensch-
lichen Empfindens dringt der Dichter, der Musi-
ker am sichersten in das Gemüt seines Publikums.
Der Librettist Moniuszkos hätte es nur ein
wenig praktischer anzufangen gebraucht, um
auch seinerseits diesem „ewigen" Stoffe die
besten Seiten abzugewinnen. Er hat aber — ab-
gesehen von recht verständiger Disposition der
lyrischen Stücke — gar viel versäumt, um seinen
Vorwurf so auszunützen, wie er unschwer auszu-
nützen war. Der Hauptmangel des Ganzen scheint
Ulis in der Verzettelung der dürftigen Handlung
auf vier Akte zu liegen. Im ersten Akte ereignet
sich eigentlich nur die Verlobung des Junkers
Jänusz mit der schönen Gutsherrntochter Sophie.
Ein kleines Duett des untreuen Mannes mit der
betrogeneii Halka geht zu glatt ab,, um auch nur
einiges dramatisches Interesse zu erregen. Der
zweite Akt — im mondbeschienenen Schlosspark
spielend — gipfelt darin, dass Halka, die im
Schlosse Lärm macht, um zu dem Geliebten zu
gelangen, von dessen Dienern hinausgestossen
wird, nachdem ihr kurz vorher ihr stiller Anbeter,
defr Bauernbursche Jontek, die Augen über des
Junkers Thun geöffnet. Der dritte Akt besteht
lediglich aus einer Dorfscene, bei der Halka ihren
Jammer erzählt. Erst der vierte Akt bringt des
Junkers Trauung, die durch Halkas Opfertod
einen grässlichen Abschluss erhält. Eine Neben-
handlung existiert gar nicht. An äusserlichem
sind nur die Polonaise und der „blaue Mazur" im
ersten Akte und das Bauernballett im dritten Akte
darnach angethan, der Schaulust und dem berech-
tigten Wunsche nach Abwechslung wenigstens
einigermassen Rechnung zu tragen.
Was die Musik zu „Halka" betrifft, so darf
sie,- wenn man sie gerecht beurteilen will, absolut
in Iceineii Vergleich mit den eben vor kurzem hier
gehörten Meisterstücken eines anderen slavi sehen
54 '^:^'^^:^'^^^'^::^'^::^'^:^'^:^:^'^:^y:^^
Meisters — Smetana — gezogen werden. Wer
etwas erwartet, wie dieses grossen Komponisten
.hinreissende Melodik, seine entzückende Rhyth-
mik oder seiaen Orchesterglanz, der wird ziem-
lich leer ausgehen; ebenso derjea^e, der kräf-
tiges nationales Wesen sucht. Fast nirgends
schlingt Moiaiuszko einen prononciert polniedbien
Ton an • den aücrgrössten Teil dieser 0per
könnte jeder tüchtige, talentvolle deutsche Mu-
siker der Vierziger jähre geschrieben haben.
Der damals allgemein dominierende starke. £in-
fluss italienischer Weise macht .sich auch in
„Halka" sowohl im Zusdatnitt ganzer Sfcücke,- als
auch in Details geltend und stiftet zugleich Scha-
den und Nutzen. Schaden durch die Sorglosigkeit
gegenüber dem Drama, Nutzen durch die löb-
liche Rücksicht lauf« die Stimmbehandlung. Die
Melodik Moniuszkos hat, trotzdem ihr hohe Origi-
nalität nicht zuzusprechen ist, etwas überaus Vor-
nehmes, Herzgewinnendes, Liebliches. Im Aus-
drucke des Rührenden — das in Haikas Klagen
und in deren Wechsejgesange mit deni Chore im
dritten Akte besonders er-greifend austönt — ist er
geradezu meisterhaft. Im ganzen zeigt alles ein
mehr weiblich als männlich veranlagtes Gemüt,
den Wiederschein eines mehr dem Dulden als
dem Geni^seU; geweihten Lebens. ,Die gelungen-
sten Partien der Oper sind die behaglich sich aus-
breitenden melodischen Stellen ; die heftig beweg-
ten Abschnitte stehen dagegen weit zairikk, und
machen sidi das.Ueberwi^gen langsamerer Tempi
und das oftmalige, wenn auch noch so hübsche
lyrische Steckenbleiben oft recht empfindlich be-
merkbar;. ebenso wirkt das einförmige Festilialten
an-ein>UEKl derselben .Tonart (G-moU) im zweiten
Akte • (überaus ütuoend ; am auffälligsten ist es
aber, dass zuweilen -einem musikalisch. ni^t ein-
aial bedeutaMknrRitomdl zuliebe das ganze Per-
sonal auf der Bühne stillstehen muss. Derlei em-
pfand man in jder Rüokschlagsperiode der Vier-
ziger-, imd .Fiinfziger-Jahre nicht so stark wie
heutzutage, da man. darunter entschieden leidet.
Die Instrumentation ist wohLder achwachste
Punkt der Oper. Montuszko hatte äusserst
schwache Kräfte zur Verfügung und wollte und
musste schreiben — nicht was er träumte und
plante, sondern — was seine braven Musici spie-
len konnten. Es muss nicht zu viel gewesen
sein. Nur die Streicher gestatten sich hie und
da ein paar raschere Läufe. Die Bläser sind
ärmlich behandelt, ihre Mitwirkung auf das .
nötigste beschränkt. Das Warschauer Orchester
von Annodazumal hat also dem Genius Moniüsz-
kos keine Schwingen verliehen, sondern hat sie
ihm gelähmt. Es ist merkwürdig genug, wie viel
hÜDsche Klangwirkungen der Komponist bei all
der Zwangslage doch noch zuwege bringt.
Die schönsten grösseren Gruppen in „Halka**
sind die weiche G-moll-Kantilene in der ersten
Scene des zweitenAktes,dannder darauf folgende
längere Gesang Jonteks (einer vom Kompo-
nisten überhaupt mit besonderer Vorliebe behan-
delten Figur) und die oben bereits erwähnte
Stelle aus dem 3. Akte. Eine ganze Menge rei-
zender Anläufe gelangt leider nicht zu genügen-
der Ausweitung und Entwicklung.
56 t5^t3^^3^^3^'b^'b^^::^fc^'b^^^'b^'b:^'b:^t3^'b:^
Trotz aller, doch nur aus specifischen Eigen-
schaften einer durchaus liebenswürdigen Persön-
lichkeit entspringenden Mängel ist es von hervor-
ragendem Interesse gewesen, Moniuszkos popu-
lärstes Werk kennen gelernt zu haben. Wäre es
zu seiner Zeit übef die Bühne gegangen, so
könnte es gleich dem „Nachtlager in Granada",
mit dem es manche Aehnlichkeit besitzt, noch zu-
teilen mit Erfolg gegeben werden. Jetzt hat es
— 'unserer Meinung nach — keine Aussicht, dtn
Boden der Heimat verlassen zu können.
^
Das Sonzogno-Theater in Wien.
Das bekannte Rezept, Löwen zu fangen,
scheint Herr Sonzognö, der grosse Mailänder
Reklämeverleger, auch bei der Habhaftwf»rduug
von Komponisten anwenden zu wollen. Er ver-
meint, die Wüste der heutigen Produktion Ita-
liens nur durch das Sieb seiner geschäftsinänni-
schen Pfiffigkeit schütteln zu brauchen, um sich
derjenigen versichern zu können, welche würdig
sind, als „Jung-Italien" Arm in Arm, Geldsack
an Geldsack mit ihm, die letzten paar Jährchen
dieses Jahrhunderts in die Schranken zu fordern.
Bisher hat er nur einen Löwen — Mascag^i —
erwischt, neben dessen imposanter Erscheinung
man nur etwa noch den Komponisten der zwei-
aktigen Oper „Pagliacci", Herrn Leoncavallo,
zur Hälfte — wie schon der Name andeutet —
als solchen gelten lassen kann. Den übrigen
Herren, deren dramatische Federproben wir nun
in Wien zu hören bekamen, den Komponisten
Cilea und Mugnone, vielleicht sogar dem viel ta-
lentierteren Giordano, wäre es bei einigem Sieben
wohl so gegangen, wie dem schönen, rosenroten
Wüstensande, sie wären — durchgefallen. In
Wien ist ihnen das nicht passiert. Im Gregenteil ;
das zierliche Ausstellungstheater erdröhnte von
5 8 Tir^^'bJ^'tJ^'t^'t^'t^Tiii^'b^'^ir^T^i^^'br^'tj^'ts^'t::^'^:^
Beifallslärm, alle möglichen und unmöglichen
Nummern wurden repetiert, und die Au-
toren liefen auf der Bühne herum, als wenn
sie zu den Mitspielenden gehörten. Das
ist welsche Sitte. Jedenfalls aber eine
sehr üble. Wenn dieser Unfug durch die weit
über Gebühr verlästerten älteren italienischen
Opern und die damaligen Verhältnisse in Uebung
kam, so sollten die neueren Meister, die ja auf
den „Verismo" schwören, etwas eifriger besorgt
sein, die berechtigten Forderungen des Zuaehers
nach Illusion nicht persönlich zu annullieren. In
jeder Scenerie tauchte bei den Wiener Vorstel-
lungen der Komponist auf. Am Kaeiptisch eiaser
johlenden Gesellschaft erscheint der befrackte
Herr ; er denkt sich : ,>Böse Manschen haben Jkeine
Lieder", drückt dem Oberschreier gerührt ,4ie
Hand und verneigt sich des öfteren vor • dem
Bravo rufenden . Publikum. Im nächsten Akte
können wir ihn in der Höhle des Brjganten mit
demselben lächelnden Gesiebte wiedersehen. ^^Ich
bin's, den Räuber Brtider nezmen" .... sag^ der
Meister, der höfliche Brigant erwidert mit.jden
Worten aus ,3occaccio": „Den Komponisten thun
wir nichts" — und nach gegenseitigen Freund-
schaftsversicherungen danken beide dem Audi-
torium. D^s ist überaus lächerlich. Freilich,
Herr Sonzogno kann jetzt in Italien verkünden,
dass das. Wiener Publikum — im Verhältnis zu
jenem von Rom oder Neapel von der Kälte
schlauer Polarfüchse — Herrn Soundso ;20 bis
25 Mal „gerufen" Jiabe. Joder. Italiener .übersetzt
sich diese Ziffern durch Anhängen, von minde-
stens einer Null ins Welsche und der beispiel-
loseste Erfolg ist fertig. Wäre es aber ohne
S<Mazc^;iio'sche Claque abgegangen, so würde sich
das Ergebnis der Wiener Stagione etwa wie folgt
steJflen:.LeoncavaUoSoPi9gliacci'' hätten einen sdir
atistäiadigen, wohlverdienten Erfolg zu verzeich-
nen, bei Giordanos ,,Mala rita" müssten 50 Pro-
zent ^es errcigten Interesses an die Darstellerin
der HauptroUe, die genisde Belli-ncioni ab-
gegeben werden, Cileas „Tilda"' und gar Mugno-
aes schreokMch fader „Pirichioo"' wären einem
harten Schicksale kaum, entgangen.
Es ist zu bemerken, dass die Maestri laoler
junge Leute sind — LeoncavaUo, der älteste tuiter
ihnen, zählt 34 Jahre — dsdser reife Werke un-
möglich zu erwarten waren — aber musste denn
mit :der Mittelmässigkeit Staat gemadtt werden,
bloss, -weil Herr Sonzogno dieselbe mittels Pa-
pier uad Druckerschwärze vervielfacht hat ?
Es wurde hier verkündet, dass die an Mas-
cagnis Kockschössen nach Wien gelotsten Kom-
poinisten die 1 talentvollsten italienischen Musiker
der „realistischen"' ! Richtung, also die . besten
unter den musikalischen Theatral-Veristen seien.
Prüft man dieses Schlagwort, das wie so viele
andere mehr etwas Gesuchtes, als etwas Gefun-
denes • bezeichnet, genauer auf seinen Sinn, so
zeigt.es, ein! recht schwer greifbares Wesen. Die
HeiTcn* Cilea, Müdgnoae u. s. w. 'sistd doch bei
Gott dem* naturgetreuen Ausdrucke der mensch-
lichen Leidenschaften um kein Haar näher ge-
kenuHen, -als andere «Meister vor ihnen, ja, sie
sind weit hinter dem bisher geleisteten zurück-
6o ■ts^"t;^'t^"t^'t:^'t^t::^'t^'t5^'b3^Ti5^t5^"fc:^'t:^"t^
geblieben. Was an ihren Opern realistisch, natu-
lalistisch genannt werden kann, sind lediglich die
Textbücher, die moderne, aktuelle, wenn mög-
lich etwas unappetitliche Stoffe behandeln.
Ausser diesem gemeinsamen Merkmale vereinigt
sie noch eine gewisse Nachahmung und ge-
schmacklose Uebertreibung Mascagnischer» Har-
monie-Spitzfindigkeiten, die Einfügung von In-
termezzi, und der Umstand, dass die meisten ihrer
Werk« „Frim- Arbeit" sind. Bei jeder Oper
wurde verkündet, dass sie auf Anregimg oder
Bestellung Herrn Sonzog^os - entstand. So sehr
sich aber die „Frim- Arbeit" bei den Stiefeln be-
währt, bei den- Opern scheint sie nicht denselben
günstigen Erfolg zu verbürgen.
Der talentierteste unter den Mascagnitern ist
. entschieden L e o h c a v a 1 1 o , der Dichter-Kom-
ponist der „Pagliacci". Sein Werk hätte auch
ohne allen Reklamelärm gefallen, ja vielleicht
noch weit besser. „Pagliacci" heissen die fahren-
den Komödianten, die, heute da, morgen dort,
ihre primitiven dramatischen Künste zum besten
geben. Canio, der Chef einer solchen Truppe,
ist der Held des Leoncavalloschen Stückes. Er
wird von seiner Frau, Nedda, unter Assistenz
eines jungen Bauers betrogen und rächt sich da-
durch, dass er, gelegentlich der Aufführung eines
Eifersuchtsdramas, seiner Frau nicht nur schein-
bar, sondern wirklich das Messer in die Brust
stösst und — da er nun schon einmal bei der Ar-
beit ist — auch dem Verführer das Leben nimmt.
Das Textbuch ist im ganzen sehr gut gemacht, und
an demselben lediglich die viel zu ausführliche Ex-
Position zu tadeln. In einen Akt zusammengezogen
dürfte „Pagliacci" auch für ausseritalienische
Bühnen ein mit Aussicht auf guten Effekt zu
gebendes Stück sein. Vor allem ist die Scene,
in welcher sich Canio ^— der im weissen Pierrot-
kostüme agiert — immer mehr in seine Leiden-
schaft und seinen Schmerz verirrt, immer mehr
den Faden des gespielten Theaterstückes verliert
und endlich in einem schrecklichen Ausbruche
eifersüchtiger Wut die treulose Gattin tötet,
von grösster Wirkung und verbürgt bei einiger-
massen genügender Darstellung vollständig den
Erfolg. Da Herr Leoncavallo das Orchester vir-
tuos behandelt und demselben stellenweise sehr
Ireien Spielraum gewährt, ist eine gute Wieder-
gabe des Instrumentalpartes unerlasslich. Das
von Sonzogno mitgebrachte Orchester zeigte sich
bei ' den Wiener Aufführungen vollkommen
seiner schwierigen Aufgabe gewachsen und fand
allgemeine Anerkennung. Von den Solisten hob
sich Herr Garulli, ein ausgezeichneter Tenorist,
der Darsteller des Canio, aufs günstigste von den
anderen Mitspielenden ab, die mit Ausnahme
Herrn Beltramis (tüchtiger Baryton), nur be-
scheiddnen Anforderungen genügten.
Giordanos „Mala vita" beschäftigt sich,
wie schon der Titel sagt, keineswegs ' mit einer
Abspiegelung der besten Gesellschaft Ein jun-
ger, schwer kranker Färber j Vito, gelobt, wenn
er genese, ein gefallenes Mädchen (Cristina) der
Schande zu entreissen und zu ehelichen. Sein
Vorhaben wird durch seine frühere (jeliebte, die
Frau des leichtsinnigen Arnetiello durchkreuzt;
62 'b:?^^5^^5^'^:^^5^"t?^"t?^"t5^"t?^'t:^^::^'t?^'t:?9't^
er fällt in die alten Schlingen und verlädst die in
ihrem tiefsten Inneren edle Cristtna^ welche ob
der Untreue ihrea vermetnUidien Retters ntUHnehr
auch allen Glauben^ all6 Hoffnung' verliert und
wieder den Weg: nach' jenem verrufenen Hause
einschlägt, aus dem sie. entwichen: Am- der
Sehwelle desselben stärkt die durch . Qtnden und
Herzeleid Geläuterte leblos zusammen. — Die
Musik zu dieser etwas schlammigen, aber
äusserst packenden* Geschichte ist nicht un<
interessant/, aber doch nur stellenweise kräf^
tig, hinreissend, an sich' fesselnd. Sie pely-
chrotnicrti aber malt nicht. Die Motive sind
meist kurzatmige von geringem Schwünge, die
Diktion einfach und fas^lch, alles mehr verstän-
dig als pral^sdi^ als begeistert und begeiatenid.
Giordano hat eine brave, tüchtige, hie und da
sehr anregende Arbeit, aber kein vollwertiges
Kunstwerk gescbsf fen.
Das Glück, das dem Komponisten bei der Kon-
zeption nur ganz von ferne zug^eblinzelt, hat ihn
bei der Besetzung der Hauptrolle so sehr, mit sei-
nen Gaben üb^schüttet, dass er selbst kaum mehr
zu sehen war. Die Bellincioni, wohl die
originellste Bühnensängerin 'der Gegenwart, hatte
die Cristtna übernommen imd schöpfte aus den
geheimsten Tiefen ihrer Natur die ICräfte zur
Daristdlung. dieser — trotz bedenküeher Her-
kunft — so rührenden Frauengestalt. Dass sie
sang; mit höchster Meisterschaft sang^ — b^
merkte man kaum. So gai^s war man in den
Bannkreis ihrer überragenden Persönlichkeit* ge^^
zogen worden, so ganz hatte man sieh ins Mit>
erleben des von. der gottbegnadeten Künstlerin
Gespieitea;verioren. Das aus tiefstem Verderben
nach höherem Leben, nach reiner, glücklicher
Liebe emporlechzende Weib hat wohl noch keine
Sdiausfu^erin ergreifender verisörpert als die
BelUneioni. Der Sididpfer hak freilich im Geben
und Versa^n alles getha4ir um dieselbe gerade
für solche Rollen gleichsaa». zn prädestinieren.
Ihre fast hagere Grestalt, ihr leidenschaftliches,
mit allen Muskeln spi^echendes Angesicht, ihr glür
hendes, grosses Auge geben zusammen bereits ein
Bild, von grösster Eindringlichkeit, ein Bild, das
ztt'Ummterbroehener Beobachtung, zwingt. Fast
muss man's dem. Komponisten dankesy dass er
nur den Ganevas lieferte, auf dem die Belltncioni
stickte . . . vielleicht ist das Ganze nur dttrch
seine unfreiwillige Zurückhaltung, für die Nerven
erträglich geworden
„Tilda" hat eine etwas antiquierte Räuberge-
schichte zum Vorwurfe. Zum Tode verurteilte
Biigpanten, Häscher, elegante Beraubte, Gauner
vor und nach der Arbeit^ Kirchengänger, frivole
Frauenzimmer und tugendhafte Braute sind
durdi den dünnen Faden eines gerade nicht dum-
men, aber sehr reizlosen Textbuches vereinigt
wordtti, um ,»Al>wechslung" und „Gelegenheiten
für den Komponisten'^ zu schaffen, sein Talent
zu zeigen.- Herr C i 1 e a hat diese Gelegenheit
schlecht ausgenützt; nur ein sehr flotter Salta-
reüo rüttelte die Zuhörer etwas- aus der ziemlich
langweiligen Stimmung auf, an welcher auch die
Aufführung ihren redlichen Anteil hatte. Die
Titelrolle, eine Art Carmen, gab die vorzügliche
Torresella, eine feine, intelligente Sängerin,
ohne jegliches Temperament, das Urbild der Lie-
benswürdigkeit und Solidität.
Von Mugnones „Pirichino", das den ein-
zigen Vorteil hat, nur einen Akt zu besitzen, lässt
sich gar wenig sagen. In einer Eisenbahnstation
treffen — natürlich unerkannt — zusammen : ein
alter Mann, der einst reich gewesen, dessen
Schwiegertochter, die er Verstössen, und deren
Sohn, der die Dame zu Beginn der Oper daran
verhinderte, ihr Leben unter den Rädern einer
Lokomotive zu enden. Trotzdem das Stück im
Princip nichts ist, als eine recht fade altmodische
Rührkomödie, ist doch den technischen Errungen-
schaften der Neuzeit Rechnung getragen. Der
larmoyänte Alte ist Bahnwärter, Frau Maria
sucht den Tod durch das Dampfross — im Hin-
tergründe sieht man Telegraphendrähte. Alles
ganz kolossal modern. Fehlen nur Tele- und
Mikrophon! Schade, dass das eine, was neu sein
müsste, die Musik, es nicht ist. Das ist haus-
backene, nüchterne, handfeste Kapellmeisterarbeit
ohne viel Geist und Poesie.
Neben so viel Kleingeld mussten M a s c a g -
n i s Prunkmünzen ganz besonders ins Auge
fallen. Das traf auch pünktlich ein, trotzdem der
junge vielbejubelte Maestro kein neues Werk,
sondern nur seine aus zahllosen Aufführungen be-
kannten Opern „Cavalleria rusticana" und
„Freund Fritz" dirigierte. Unter der Leitung
Mascagnis erhielt namentlich die einaktige Eifer-
suchtstragödie ein ganz anderes Gesicht, vrie in
der Darstellung an unsrer Hofoper. Vor allem
durch die jeden Maassstab hinter sich lassende
Leistung der Bellincioni als Santuzza, durch die
durchweg realistische Darstellung und durch
Mascag^is überaus gemässigte Tempi. Die
italienische Version ist ein Freilichtbild, unsere
Wiedergabe ein Helldunkel-Gemälde. Das, zuge-
standenermaassen, ziemlich grelle, in schreienden
Farben gehaltene Wiener Bild macht auf den
ersten Blick die stärkere Wirkung; naturwahrer,
echter ist das italienische. Da ist eine mit leisen,
aber gerade darum die mit-nachschaffende Thä-
tigkeit des Zuhörers in hohem Grade auffor-
dernde Schauspielkunst im Werden. Ihr Canon
ist aber bis jetzt wohl noch das Geheimnis we-
niger. Freilich, ein Genie, wie Fräulein Bellin-
eoni, schaltet frei und souverän auf dem neuent-
deckten Gebiete — aber wo sind vorderhand noch
die Nachfolger? Keiner der neben ihr Mitwir-
kenden erreichte nur von weitem die Höhe ihrer
Kunst ; vor allem nicht ihr Partner in der „Caval-
leria", Herr Stagno, ein berühmter, aber nicht
mehr junger und sehr blasierter Tenorist, absolut
nicht Fräulein Zanon (Lola), eine Kontra- Altistin
von herrlichen Mitteln und bescheidenster Aus-
bildung.
Was Mascagni als Dirigenten betrifft, so muss
man gestehen, dass er eine, von jeder Ziererei,
jeder unnützen Aeusserlichkeit freie, nur der
Sache gewidmete Herrschaft über die ihm Unter-
stehenden ausübt. Kein Blick, keine Handbewe-
g^ng zu viel, oder zu wenig, keine Geste, die fürs
Publikum berechnet ist. Ein Meister der Direk-
tionskunst.
Im Foyer. 5
66 'X:::^'^:^it::^'t::^iX:::^'X:::^l::::^^
Besonderen Reiz wusste diese seihe Einfluss-
nähme dem Idyll „Freund Fritz" zu verleihen.
Den zweiten Akt dieser lieblichen Oper haben
wir nie so stimmungsvoll gehört, wie unter des
jungen Meisters Leitung. Die zwei Hauptrollen
Susel und Fritz wurden durch Fräulein T o r r e -
s e 1 1 a und Herrn de L u c i a brillant ausgeführt
und standen hoch über dem Niveau unserer und
wohl fast aller deutschen Aufführungen. Die
vollendete Gesangskunst der beiden Genannten,
das von jeder Uebertreibung und Komödianterie
freie Spiel, namentlich Herrn de Lucias, ist ganz
gegen den auf deutschen und österreichischen
Bühnen zum grössten Teile herrschenden Usus.
Ob recht viele von den hiesigen und auswärtigen
Bühnenkünstlern bemüht waren, von den besten
aus der welschen Truppe zu lernen? Man sah
gar viele unserer Grossen und Kleinen aus der
Bretterwelt im Hause, . . . die wenigsten haben
sich geäussert! Nur unsere hübscheste Prima-
donna, die an der Wiener Hofoper nebst anderen
mittelmässigen Rollen eine ganz miserable Susel
zum besten giebt, Hess durch die Zeitungen Ver-
den, Mascagni habe ihr zugesagt, von nun an jede
neue Partie für sie zu bestimmen. Um ein so unge-
heuerliches Missverständnis zu erklären, muss
man annehmen, dass Mascagni die schöne Polin
nie auf der Bühne gesehen hat, und dass das be-
treffende Gespräch von ihrer Seite in polnischer,
von seiner in italienischer Sprache geführt wurde,
weiter dass sie nicht italienisch und er nicht pol-
nisch versteht. Die Liebliche ist also wohl nur
ins Theater gegangen, um von Sonzog^os
Reklamesystem zu profitieren
Die Summe aus der italienischen Stagione
heisst : Mascagni und Bellincioni ! Nur zwei
Namen, aber ein ansehnlicher Besitz an Begabung
und Kunst.
:*
Die Rantzau.
(Oper in vier Akten von G. Targioni'Tozzetti und G. M e n a s c i.
[nach Erckmann und Chatrian.] Deutsch von Max Kalbeck. —
Musik von P. Mascagni. — Erste Aufführung auf dem k. k. Hof'
operntheafer in Wien am 7. Jänner 1893.)
Diejenigen, welche gelegentlich des Erschei-
nens der „Cavalleria rusticana" nicht in den bei-
spiellosen Lärm einstimmten, welcher mit dem
genialen Einakter gemacht wurde, mussten über
sich den Vorwurf der Nüchternheit und derglei-
chen ergehen lassen. Mascagni durfte damals
unbedingt nur als ein vom Himmel Gefallener be-
handelt werden. Jetzt, nachdem „Freund Fritz"
nur zum Teile gefiel und „Die Rantzau" selbst
in ihrem Vaterlande sehr geteilten Sympathien
begegneten, sind die blinden Fanatiker an der
Reihe, aus allen Himmeln zu fallen. Die wirk-
liche Ernüchterung, der ästhetische Katzenjam-
mer wird sie jetzt peinigen, je nach der Grösse
des Rausches, der ihnen damals alle Besinnung
genommen. Es ist nun die schöne Pflicht der
ruhiger Denkenden, das kindische Schlagfwort
vom „Ausgeschriebensein" nicht nachzuplappern,
sondern geradezu darauf aufmerksam zu machen,
dass eine Künstlernatur nicht ausrinnt, wie ein
angebohrtes Fass, dass ein grosses Talent, wie
Mascagni, zwar überangestrengt, aber nicht durch
ein paar Werke völlig erschöpft sein kann. Ueber-
angestrengt — das ist zweifellos — erscheint der
junge Maestro in seiner neuesten Oper „Die
Rantzau", welche gestern auf der Bühne des
Wiener Hofoperntheaters ihre erste Aufführung
in deutscher Sprache erlebte. Die künstlerische
Physiognomie Mascagnis, die in der „Cavalleria"
ein gesundes, lebensvolles Rot zeigte, das in
„Freund Fritz" bis zu einer sogenannten „inter-
essanten Blässe" abgetönt war, zeigt nun eine auf
Kränklichkeit hinweisende bleiche Farbe. Der
Quell der Erfindung fliesst spärlich, die Routine
steht mit aufdringlicher Geschäftigkeit im Vor-
dergrunde und bemüht sich, die vielen offenbaren
Mängel des eilig angefertigten Bühnenbildes zu
verdecken.
Mascagni hat in den drei bisher erschienenen
Werken mit Windeseile den Weg vom naiven
Schöpfer bis zum klugen Manieristen zurückge-
legt. Ein Mann wie er kann aber diese Richtung
auf die Dauer nicht verfolgen; sein eigener
Genius treibt ihn wie mit einem flammenden
Schwerte zurück zu dem Baume der Erkenntnis. .
Und zurück — oder wenn man so will : vorwärts
— m u s s Mascagni nun ! Er muss die Schnür-
bodenfinessen, die Coulissen- und Sof fitengelehr-
samkeit, die ihm jetzt alles dünkt und in denen
er sich als souveräner Meister bewährt, wieder
höheren Zielen dienstbar machen. Er muss wie-
der inniger nach dem Herzschlag seiner Grestalten
lauschen. Mit den „Rantzau" steht er auf
dem Boden jener Theaterstücke, welche die
Bühne als Organ zur höchsten Wirkung bringen,
aber leider höhere dichterische Qualitäten
ganz oder zum Teile vermissen lassen. Um ein
solches Stück zu schreiben, braucht einer kein
bedeutender Poet zu sein. Er muss sich nur vor
allem beim „grossen und kleinen Himmelslicht",
bei Prospekten und Maschinen auskennen, er
muss jene „Wirkung ohne Ursache" hervorzu-
bringen verstehen, die man mit dem etwas ins Be-
denkliche schillernden Worte Effekt bezeich-
net. Gewiss, der echte Dichter, der gottbegnadete
Komponist, beide wollen und sollen mit ihren
Werken Effekt, Wirkung machen. Aber diese
wahrhaftige Wirkung muss tiefen Ursachen ent-
springen. Von den Komponisten hat man ausser-
dem noch zu allen Zeiten verlangt, dass sie mit
leicht transportablen Sentenzen, Melodien nicht
zu sparsam umgehen; ja das Mehr oder Minder
an Melodie ist das sichere Kriterium zur
Schätzung eines Tondichters, und gar eines für
die Bühne schreibenden, geworden. Mit Recht!
Die Melodie ist die Seele der Musik und die
grössten Meister waren immer — wenn auch in
weiterem Sinne — die grössten Melodiker. Die
Melodie in der Oper ist als jene ideale Ober-
stimme zu betrachten, die der Komponist zu dem
Texte, wie zu einem vorhandenen Basse zu setzen
hat. Gerade aber diese Oberstimme nun ist in
den „Rantzau" zum einen Teile unbedeutend und
überraffiniert, zum anderen Teile aber keines-
wegs neu. Melodik, Rh3rthmik und Harmonik sind
fast durchwegs nur aus Ablegern der zwei ersten
Opern desselben Meisters bestritten. Dieselben
harmonischen Bitternisse, dieselbe Verleugnung
der natürlichen Herkunft der Accorde, dieselben
melodischen Phrasen, dieselbe Vorliebe für das
Tieflegen der Melodie oder für eine mit derselben
parallel laufende nicht reale Bassstimme, die-
selben immerwährenden Taktwechsel, die dem-
jenigen, der ohne Partitur die Oper anhört, den
Eindruck einer bestimmten Taktart verwischen,
dieselben stürmisch agierenden Geigenfiguren,
dieselben „dramatischen" Explosionen. Wirklich
neu ist nur einiges in dem geistvoll ausgearbei-
teten Orchesterpart: so namentlich die eigentüm-
lich abwärts sausende Violinpassage in der —
übrigens sehr faden und gequälten — Ballade zu
Beginn des zweiten Aktes, dann eine reizende
Mischung der Holzbläser zu Anfang der dritten
Scene desselben Aufzuges und das merkwürdige
Kontrabass-Solo in der siebenten Scene des drit-
ten Aktes. Abgesehen von diesen Besonderheiten
bieten „die Rantzau" aber ein so ergiebiges Feld
für harmlose Reminiscenzenjägerei, dass jeder,
der die beiden ersten Opern Mascagnis kennt,
ohne viel Mühe mit seiner Gedächtnisschärfe
Staat machen kann.
Einer speciellen Aehnlichkeit mit Mascagnis
zweiter Oper „Freund Fritz" müssen wir aber
Erwähnung thun. So, wie dort, finden wir näm-
lich in „Die Rantzau" dasselbe Missverhältnis
zwischen dem Tone von Text und Musik. Die
kleinbäuerliche, elsässische Dorfgeschichte ist
stellenweise mit erschreckend schreienden Farben
gemalt, die Gestalten erscheinen mit grellen
Theaterblitzen beleuchtet, die dickköpfigen
y2 \^^^^^^^^^'>^:^ri\::^'X::^i^:^:»X::;^r!^^
Bauern toben wie König Lear oder Richard III.
— und gerade dieses Sujet hätte nach Vertiefung
in seelischer Beziehung verlangt.
Der Oper liegt das bekannte gleichnamige
Stück von Erckmann und Chatrian zu Grunde,
welcher Vorlage die Librettisten äusserlich fast
durchwegs genau folgten, mit dem einzigen Un-
terschiede, dass eine, im Drama nur erzählte Lici-
tation in der Oper in die Handlung aufgenommen
erscheint. Der Stoff ist einer jener Urstoffe,
jener poetischen Elemente, auf die jede noch so
komplizierte Verbindung der Theaterchemie
schliesslich zurückzuführen ist. In diesem Falle :
der tiefgehende Hass der Familien zweier Lieben-
den und der daraus erwachsende Konflikt, wie
wir dergleichen aus Shakespeares „Romeo" und
manchen anderen Stücken kennen. Hier aber noch
verschärft dadurch, dass die widerstreitenden
Familienhäupter — Brüder sind.
Im ersten Akte sehen wir die feindlichen Brü-
der zur Auktion einer Wiese schreiten. Johann,
der Vater Louisens, ersteht das Grundstück,
Jakob, der andere, hält sich für betrogen. Der
zweite Akt führt zu einer peinlichen häuslichen
Scene. Johann hat die Liebe Louisens zu Georg,
seines Bruders Sohne, entdeckt, will aber die
Verbindung seines Kindes mit Lebel, dem Ober-
förster, einem eitlen Gecken, zu Stande bringen.
Er lässt sich in seinem Zorne fast bis zur Miss-
handlung Louisens hinreissen, nachdem er kurz
zuvor den herzensguten alten Dorfschulmeister,
welcher der bedrängten Louise beizuspringen
wagte, über die Stiege geworfen. Das Mädchen
erkrankt infolge der Aufregung auf den Tod. Da
die Aerzte meinen, die Leidende könne nur gesun-
den, wenn ihre Seelenqual ein Ende nehme,
geht Johann Rantzau den schweren Weg zu Ja-
kob. Die Alten willigen nur unter demütigenden
Bedingungen in die Verbindung der Liebenden;
als aber Georg und Louise sich weigern, ihre
Namen unter das, vom Hasse diktierte Dokument
zu setzen, fallen sich endlich die beiden alten
Starrköpfe in die Arme. Es geht da einmal um-
gekehrt wie im Sprüchworte: „Wie die Alten
sungen, so zwitschern die Jungen!"
Den grössten Reiz des Stückes, die zarte psy-
chologische Fortentwicklung der äusseren Hand-
lung von innen heraus konnten die geschickten
Librettisten leider nicht in ihr Buch hinüber-
schwärzen. Das nackte Lattengerüste der Hand-
lung erscheint aber für eine Oper etwas gar zu
dürftig , namentlich dann , wenn , wie hier,
der Komponist mit mehr äusserlichen Mit-
teln den inneren Vorgängen gerecht wer-
den will. Interessant zu bemerken ist es,
mit welcher Schlauheit der Tondichter, nach-
dem er einen halben Akt hindurch nur geklügelt,
endlich den Erfolg desselben rettet. So beginnt
in der Schlussscene des zweiten Aktes (bei den
Worten „In meinen Träumen sah ich blonde
Engel") eine fast listig vorbereitete Steigerung,
die mit rücksichtsloser Gewalt dem Ende zu-
drängt. Es ist erschütternd, zu sehen, wie der
jähzornige alte Johann Rantzau vor dem Aus-
bruche seiner eigenen rohen Leidenschaft zurück-
schaudert. — Auch am Ende des dritten Aktes ist
^4 "t5^"t:^'t^'^5^'t5'^'t:^'t?^'b5^'b^'t:^'t5^T^?^'t:^'t^
ein ähnlicher Theatercoup angewandt, der den
applausziehenden Abschluss herbeiführt. Johann
hat nächtlicherweile an Jakobs Thür gepocht
— mit einer brennenden Oellampe in der Hand
tritt ihm Jakob entgegen — grell beleuchtet er
das Gesicht des Harrenden — er erkennt seinen
Bruder — ein schwerer Kampf tobt in den beiden
im Hasse erstarrten Männern — endlich spricht
Jakob sein trockenes „Komm*" und lässt den
älteren Bruder eintreten. Dieser bange, tief er-
greifende Aktschluss ist mit derselben Meister-
schaft gemacht, wie der vorhin erwähnte. Fast
möchte man statt Meisterschaft Pfiffigkeit sagen,
fast möchte man fragen, warum der Mann, der
solche Schlüsse hinzustellen versteht, nicht schon
irüher sein bestes gibt? . . . Dieses Vorgehen
Mascagnis erscheint uns fast z u praktisch !
Scenisch am schwächsten ist — besonders
gegen das Ende hin — der erste Akt geraten,
während dessen die feindlichen Brüder samt
ihrem jeweiligen Anhange in einer Reihe aufge-
pflanzt dastehen und eifrig ein umständliches
• Finale singen. Am natürlichsten baut sich der
vierte Akt auf, der ein ausdrucksvolles Liebes-
duett — das einzige in der an Hassduetten so
reichen Oper — enthält und auch im übrigen
besseren musikalischen Zusammenhang aufweist.
Das hübscheste Einzeln-Musikstück dürfte der
Frauenchor zu Anfang der dritten Aktes sein,
eine graziös trippelnde Nummer von feinster Fak-
tur, dabei von grösstem Klangreiz ; nächst diesem
sind wohl die Romanze der Louise im ersten
und das Solo derselben im zweiten Akte sowie der
grosse Monolog Johanns im dritten Akte zu nen-
nen. Vor dem vierten Akte ist ein kleines Inter-
mezzo eingefügt, das sonderbarerweise ungarische
Anklänge enthält. Der Zigeuner aus „Freund
Fritz" hat da seine Spuren hinterlassen.
Alles in allem halten wir „Die Rantzau" für
ein — zu früh geborenes Kind mit ältlichen, mür-
rischen Zügen. Eine längere Pause im Schaffen
wird den späteren Werken und dem jungen
Ruhme Mascagnis zum Wohle gereichen. Wir
freuen uns aufrichtig auf die «nächste origi-
nelle Oper des Maestro.
Die vorzügliche Uebersetzung der „Rantzau**
rührt von Max K a 1 b e c k her, dem die Opern-
bühne schon eine ganze Reihe wertvoller Ueber-
tragungen zu danken hat.
^
Richard Wagners Mpeen" in Prag.
Am Deutsche^ Theater in Prag wurde am
8. Februar 1893, als elftes Stück eines Richard Wag-
ner-Cyklus, den Direktor A. Neumann anlässlich
der zehnten Wiederkehr von Richard Wagners
Todestag veranstaltete, des Meisters Jugendoper,
„Die Feen" aufgeführt — ein Werk, welches bis-
her nur die königliche Hofbühne in München ge-
geben hat. In der bayerischen Hauptstadt be-
währten sich „Die Feen*' als Ausstattungs- und
Fremdenoper und sind seit ihrer vor wenigen
Jahren dortselbst stattgehabten Premiere nicht
mehr vom Repertoire verschwunden. Ob das
Verhältnis in Prag oder irgend einer anderen
Stadt ein ähnliches sein wird, bleibt abzuwarten.
Der Theaterdirektor kann nur für eine Hauptbe-
dingung des Erfolges, die glänzendste Ausstat-
tung, sorgen; die zweite, die Beschaffung eines
stark fluktuierenden Publikums, liegt ausserhalb
seiner Machtsphäre. Und gerade ein solches ist
nötig, da es nicht gar zu viele geben dürfte, die
das Verlangen empfinden, ein in mehr als einer
Hinsicht schwaches Werk mehrmals anzusehen.
Richard Wagner selbst hat blutwenig von den
„Feen" gehalten. In seinen Schriften nimmt die
andere Jugendoper: „Das Liebesverbot oder die
Novize von Palermo" einen weit grösseren Raum
ein und scheint ihn in späteren Jahren noch so
weit interessiert zu haben, dass er den Gedanken
einer Aufführung derselben in Paris, wenn auch
nur auf kurze Zeit, fassen konnte. Von den
„Feen" berichtet er in der „autobiographischen
Skizze" nur kurz, dass er sie 1833 ^^ Würzburg
geschrieben, etliche Stücke daraus in Konzerten
aufgeführt und dann (1834) den Versuch ge-
macht habe, die Oper beim Leipziger Theater an-
zubringen. Es wurde jedoch nichts daraus. Bald
darauf wurde Wagner Musikdirektor am Mag-
deburger Theater. Da führte er die Ouvertüre
der „Feen" auf. „Sie gefiel sehr." Trotzdem,
schreibt er, „verlor ich das Behagen an dieser
Oper und . . . fasste bald den Entschluss, mich
um diese Arbeit gar nicht mehr zu kümmern, das
hiess so viel, als sie aufgeben." — In einem
Briefe an Uhlig (vom 22. Oktober 1851) taucht
das Werk wieder auf. Wagner ersucht den
Freund, ihm die Partitur der „Feen", drei
Bände (Originalmanuskript), in die Schweiz
nachzusenden. Zum letzten Male redet der Meister
davon in einem Briefe an Fischer vom 2. März
1855. Er will sich das Buch zu der Oper „Die
Feen" nebst jenem zum „Liebesverbot" nach
Paris schicken lassen. Damit verschwindet das
Werk aus Wagners Briefwechsel. Er hat sich
zeitlebens nicht mehr um dasselbe gekümmert.
Das ist nur zu begreiflich, wenn man bedenkt,
dass Wagner kaum zehn Jahre nach jener Jugend-
y 8 'X:^'X::^i^::^\:^X:^'\::^'X:^'X::^'t^^'X::^l^
arbeit den düsteren Ahasver des Meeres, den
„Fliegenden Holländer", beschwor und bald nach
diesem die unheimlichen Gesänge der „Rhein-
töchter" ersann. Eine ganze Welt liegt zwischen
den Sopran und Alt singenden „Feen" des
jugendlichen Anfängers und den wundervoll
charakterisierten Elementargeistern des auf der
Höhe seiner Kunst stehenden Meisters! — Und
dennoch sind „Die Feen" nicht ohne Zusammen-
hang mit dem weiteren Schaffen des grossen
Komponisten, dennoch will uns scheinen, als
zögen gewisse geheime Fäden von dem ersten
dramatischen Versuche Wagners zu mehreren
seiner späteren Schöpfungen. Diese geheimen
Fäden würde man vergeblich in der Musik
suchen, die sich in den „Feen" im ausgefahren-
sten Gleise damaliger Kapelhneistermusik be-
wegt und nur an einer einzigen Stelle, dem Solo
Arindals, „Ich lag in deinen Armen", durch
einigermassen ungewöhnlicheren Klang, durch
etwas intensivere Stimmungsmalerei zu inter-
essieren versucht. Alles andere sind Mozartsche,
Beethovensche und vor allem Webersche Re-
densarten. Wagners eigene Stimme vernimmt
man nur hier und da in etlichen Takten. Die
Zeit seiner grossen geistigen Mutation war noch
nicht gekommen.
Wesentlich fesselnder ist die Betrachtung
des Textbuches, welches Wagner seinerzeit frei
nach dem Gozzi sehen Stücke „Die Frau als
Schlange" „selbst gemacht hatte". Nicht, dass
es etwa dichterische Schönheiten enthielte oder
dramatisch von hohem Wert wäre — es ist fast
durchgängig im konventionellsten Operndeutsch
geschrieben und von primitiver dramatischer Or-
ganisation — aber für den Regisseur Wag-
ner ist das Buch im höchsten Grade charakte-
ristisch, weil sich eine ganze Anzahl von, in
seinen weltberühmten Meisterwerken vorkom-
menden theatralischen Details in den „Feen" be-
reits in embryonalen Andeutungen vorfindet Da
die Oper ausserdem eine Menge scenischer An-
klänge an Werke anderer, älterer Meister enthält,
so verlohnt es sich entschieden, das nunmehr
sechzig Jahre alte Buch, in dem sich Vergangen-
heit und Zukunft die Hände reichen, etwas ge-
nauer zu betrachten. Es ist wie ein altmodisches
Bilderbuch, aus welchem sich dem jungen Feuer-
geiste Einzelheiten unauslöschlich einprägten, die
die er später in seiner Weise ganz neu und eigen-
tümlich belebte.
Die Handlung des Stückes ist folgende: die
Halbfee Ada — ihr Vater ist ein irdischer König,
die Mutter eine Fee — hat jahrelang mit dem
Königssohn Arindal in ehelicher Vereinigfung
gelebt, welcher zwei Kinder entsprossen. Zur
Heiratsausstattung von Personen diskreter Her-
kunft gdiört bekanntlich irgend ein fatales Nisi,
etwas heimliches oder verheimlichtes, welches
geeignet erscheint, das übergrosse Glück ge-
legentlich zu dämpfen. Auch Ada laboriert
an dergleichen: acht Jahre darf ihr Gatte nicht
fragen, wer sie sei, und am letzten Tage dieser
Frist muss sie so viel Qual und Unheil über den
Gatten bringen, dass er verleitet wird, ihr zu
fluchen. Knapp vor Ablauf der fraglichen Zeit
8o "t;^'t5^'fc3^'t:^'fc^"t;^'fc?^"t;^"t?^'t;^'b5^"b5^'t5^'b:^'fc^
richtet Arindal wirklich die Frage an die Gattin :
„Wer und woher sie sei ?" — Wer denkt da nicht
an Lohengrin und Elsa? — Unter schrecklichem
Getöse verschwinden Schloss, Gattin und Diene-
rinnen (ganz wie in der „Schönen Melusine"),
und Arindal befindet sich plötzlich mit seinem
Gefährten Gernot auf der Oberwelt. So wie
Tannhäuser im Walde vor der Wartburg von
dem Landgrafen und den Sängern aufgefunden
wird, so Arindal von jenen Rittern, die gekom-
men sind, um dem Prinzen den Tod seines Va-
ters und den unangenehmen Umstand mitzutei-
len, dass der wilde König Morald in das führer-
lose Reich eingefallen sei, das nur mühselig von
Lora, Arindals tapferer Schwester, verteidigt
werde. Der Königssohn will die Schritte nach
der Heimat lenken, doch durch Zauber wird sein
Fuss gelähmt. Wie Rinaldo in Glucks „Armida"
entschlummert der zum Heldentume nun einmal
nicht bestimmte. Im Feengarten Adas erwacht
er; kaum hält er wieder seine geliebte Gattin
umschlungen, als ihm die Ritter nacheilen und
ihn an sein Versprechen mahnen, die Zügel
der Herrschaft zu ergreifen. Man muss unwill-
kürlich an die Scene im dritten Akt des „Tann-
häuser" denken, wo Wolfram den Verzweifeln-
den von der Rückkehr zu Frau Venus zurück-
hält. Nun erfährt auch Ada, dass ihr Vater ge-
storben und sie zur Königin ausgerufen worden
sei. Sie erklärt, dass sie nun scheiden müssten,
dass Arindal in sein Land gehen möge, und dass
ihnen grosse Prüfungen bevorstünden. „Was du
auch morgen sehen magst, was dich für
Schrecken auch bedroh'n, was dir für Unheil
auch begegne . . . lass nimmer dich so weit ver-
leiten, mich, deine Gattin, zu verfluchen". Arin-
dal beschwört es. Jedes geht nun seiner Wege.
Arindal zu Fusse — Ada fährt in einem von
Tauben gezogenen Wolkenschiffe von dannen.
Lohengrins Kahn in aeronautischer Umgestal-
tung. — Im zweiten Akte befindet man sich
in der „Vorhalle eines Palastes" Arindals. Das
getreue Volk, mit Lora an der Spitze, erwartet
des ersehnten Krön- und Thronerben Heimkunft
und führt denselben unter Jubelgesängen in das
Schloss. Da taucht — wie die drei Damen aus
der „Zauberflöte" — Ada mit zwei Feen-Freun-
dinnen auf ; die vom Schicksal selbst zur Prüfung
des Gatten verurteilte Frau gibt ihrer Zuversicht
Ausdruck, dass sich Arindal bewähren werde.
— Ferne Trompetenstösse verkünden das Heran-
nahen des Sturmes. Die Schlacht der Anhänger
Moralds gegen jene Arindals braust immer näher
heran. Alles drängt in den jungen König, dass
er rettend, befeuernd eingreife. Er aber sagt:
„Zu kämpfen, ach, vermag ich nicht!" Er bleibt
da und singt Tenor. Es erscheint Ada mit ihren
beiden Kindern. Nachdem der überselige Arindal
sie an sein Herz gedrückt, wirft Ada die Kleinen
in einen sich auf ihren Wink öffnenden Feuer-
schlund. Arindal hat sich noch nicht von seinem
Entsetzen erholt, als ein Bote die Vernichtung
des Heeres meldet. Aber nicht genug an dem,
muss der geschlagene König noch erfahren, dass
an der Spitze des Feindes ein Weib gekämpft —
„Ada, die Königini" Nun Ist Arindals Teno-
Im Foyer. 6
8 2 T!5^Tb!^t:?^^i?^t::?^t5^ti:5^t:5^
ristenverstand vollends verloren, er redet sich —
ähnlich wie Elsa, ehe sie die verhängnisvolle
Frage an Lohengrin richtet — in einen verzwei-
felten Zorn hinein und — verflucht die „Zau-
berin", seine Gattin, die ihm nun, zusammen-
brechend, eröffnet, dass sie, hätte er nicht an ihr
gezweifelt, ihr Glück nun ohne Rückhalt hätten
geniessen können, so aber ihr das Los bevorstehe,
dass sie „hundert Jahr' in einen Stein verwandelt
sei". Loths Weib aus der heiligen Schrift und
das Schicksal der Eurydice haben da wohl mit-
geholfen. Ehe Ada aber petrefiziert wird, schafft
sie durch Zauber die beiden Kinder wieder her,
die Arindal nun in die Arme schliesst. Diese
Scene ist leichtlich als das Vorbild der Schluss-
scene in „Lohengrin" zu erkennen, in welcher
Elsas Bruder Gottfried auftaucht, sobald der
Gatte die Kleingläubige verlassen muss. — Unter
allgemeiner Bestürzung schliesst der Akt. — Der
dritte Aufzug beginnt mit einem effektvollen
Einzugsstück, das sowohl in Stimmung, als See-
nerie an das homologe im zweiten Akte des
„Tannhäuser" erinnert. Man erfährt, dass Arin-
dal vor Schmerz wahnsinnig geworden sei. Ein
breit ausgeführter a capella-Satz, ein Gebet um
Erleuchtung der verdüsterten Seele des Königs
schliesst diese Ensemble-Scene wirksam ab, ent-
fernt an den Vokalsatz im ersten Akt des „Lohen-
grin" erinnernd. Nun betritt, wirren Geistes,
der unglückliche Arindal die Scene; er wähnt
einer Hirschin nachzueilen, er schiesst nach ihr.
„Haha, das traf ins Herz! — O seht, das Tier
kann weinen, die Thräne glänzt in seinem Aug' !
O, wie's gebrochen nach mir schaut . . . !" ruft
er aus, Worte, die vernehmlich an die Scene mit
dem Schwan im „Parsifal" anklingen. — In dem
tödlich verwundeten Hirsch erkennt Arindal
plötzlich sein Weib — ! Erschöpft sinkt er zur
Erde. Die Stimme seiner geliebten Gattin er-
klingt ihm: „Durch alle Schranken dringt die
Liebe noch zu dir, und hörst du die Klage, so
eile her zu mir." In dieser tiefsten Not ertönt
plötzlich die Stimme des Zauberers Groma, der
ihm schon oft hilfreich beigestanden. Er weist
ihn auf drei Dinge, einen Schild, ein Schwert
und eine Leyer, die, g^ell beleuchtet, das Auge
des Erwachenden blenden. Die Vorläufer
Nothungs, des neidlichen Schwertes in der „Wal-
küre"! — Arindal rafft sich auf und die zwei
früher mit Ada erschienenen Feen bieten sich
ihm als Begleiterinnen auf seiner Fahrt an. Man
muss an Tamino und die ihn führenden Priester
denken. — Nach einer Verwandlung sind wir in
der „Erde Tiefen", die Qiöre der Geister tönen
uns entgegen. Wie Orpheus vor den „Furien"
und „Larven", steht Arindal vor den geheimnis-
vollen Wesen der Unterwelt, die er mit Schild
und Schwert endlich zum Weichen bringt. Da
ruft ihm die eine Fee zu: „Sieh', Arindal, dort
schmachtet deine Gattini Entzaub're diesen
Stein und sie ist frei !" Arindal ergreift die Harfe
— er ist wie Tannhäuser anzusehen, der sein Lied
auf Frau Venus singt — und, durch die Töne
seines Gresanges entzaubert, sinkt ihm Ada an
die Brust. —
Ueber die Musik zu den „Feen" können wir
6*
84 t^t^'fc^'fc^'fc^t^'fc^t^tj^'fc^'fc^'b^t^t^t?*^
nur wenig sagen, wie überhaupt über Musik, die
selber nicht viel sagt. In der Partitur sieht man,
dass sich da ein junger Kapellmeister ausgetobt
hat. Es ist vieles praktisch, einiges effektvoll,
sehr wenig von wirklichem absoluten Werte und
fast gar nichts, was nur für Richard Wagner
bezeichnend wäre; höchstens könnte eine gewisse
Art von Melodiebildung, die wir — in reiferer
Weise — aus dem „Fliegenden Holländer" ken-
nen, eine besondere Vorliebe für feurige Violin-
figuren, für Hoboen-Soli und ähnliches auf die-
sen Komponisten raten lassen. Auffallend hilflos
nehmen sich die Ritomelle aus. Richard Wagner
hat späterhin eine hohe Meisterschaft in der dra-
matischen Ausnützung dieser Partien erreicht
und seine Orchesterzwischenspiele eine nicht
misszuverstehende Sprache reden lassen. Davon
ist in den „Feen" keine Spur zu entdecken. — Als
Kuriosum sei erwähnt, dass an der Stelle des
ersten Aktes, wo man erfährt, dass Ada zu Arin-
dal gesagt : „Vor allem magst acht Jahre lang du
nimmer fragen, wer ich sei", das synkopierte
Orchestermotiv erklingt, mit welchem die erste
Scene des „Lohengrin" begannt.
Der ersten, wenn auch noch so unselbststän-
digen Oper Richard Wagners gedenken wir heute,
am zehnten Todestage des Meisters, mit jenem
hohen Interesse, welches man nur den Anfängen
grosser Männer entgegenbringt. Der Weg von
der „Zauberflöte", von „Orpheus" bis zum „Tann-
häuser" und „Lohengrin" führte über „Die Feen".
Diese Ueberzeugung, die wir aus der Vorstellung
im Deutschen Theater zu Prag mitnahmen,
hat uns auch dieses Jugendwerk lieb und
wert gemacht, so unscheinbar es in vieler Hin-
sicht ist, und so wenig es hätte ahnen lassen, wie
hochauf sich noch die Laufbahn des Mannes
schwingen würde, der endlich ruhmgekrönt sein
Haupt im meerumschlungenen Palazzo Vendra-
min zur Ruhe legte.
^
Das verlorene Paradies.
(Von Anton Rubinstein. — In Wien auffirefGhrt unter Leitung
des Komponisten am 16. März 1893.)
Wenn Rubinstein als Komponist reist,
so reist er gleichsam incognito. Im Gegensatze
zu grossen Herren, die das. Incognito wählen, um
tmerkannt zu bleiben, thut es Rubinstein, um —
erkannt, anerkannt zu werden. Dabei geschieht
aber leicht, wie so oft auf der Welt, das Uner-
wünschte. Der Landesherr wird, auch im Loden-
rocke, mit Majestät angeredet, der russische
Meister zieht wieder von dannen, ohne dass man
an seine Sendung mehr als bisher glaubt. Der
als Virtuose ' und teilweise auch als Komponist
mit Recht gefeierte Künstler hat nun auch in
Wien sein „V erlorenes Paradies" (Text
von Julius Rodenberg nach Milton) dirigiert; in
erster Linie, um seinen Namen als Tonsetzer wie-
der aufzufrischen. Er hat zu diesem Zwecke die
denkbar unglücklichste Wahl getroffen. Gerade
dieses Werk ist wegen seiner musikalischen
Dürftigkeit, seiner polternden Weitschweifigkeit
absolut nicht geeignet, der Orthodoxie Rubin-
steins Proselyten zu werben. Ueber die Kategorie,
unter welche das „Verlorene Paradies" gehört.
ist der Meister, wie es scheint, nicht im klaren;
er Hess es auf dem Programm als „Oratorium",
auf dem Titel des Textbuches „Geistliche Oper"
benennen. Der richtige Titel ist wohl der erste.
Als mattes Oratorium kann dies „Verlorene
Paradies" gelten. Aber als „geistliche Oper",
als Oper nimmermehr! Weder die Anlage des
Textes, noch die Musik neigen gegen die Oper
hin. Hören wir die Töchter Israels in Hän-
deis „Saul", so umweht uns die heisse Luft der
Bühne, welcher das Oratorium ja ursprünglich
entlaufen ist, wie eine zur Diakonissin gewordene
Theaterprinzessin. Auch in desselben Meisters
„Belsazar", in Mendelssohns „Elias" und „Paulus"
sind einzelne Scenen, die entschieden dramati-
schen Zuschnitt besitzen und die man sich ganz
g^t auf den Brettern denken könnte. In dem
Rubinsteinschen Oratorium ist kaum eine solche
Scene; gewiss aber keine, die nach der Bühne
verlangt. Der erste Teil, ähnlich dem Goethe-
chen Vorspiel „Im Himmel", sträubt sich noch
am wenigsten gegen die Uebersetzung in die
Welt des Scheines. Aber was soll man mit
dem zweiten Teil anfangen, der sich inhaltlich
mit Haydns Schöpfung deckt, was mit dem drit-
ten, dem Sündenfalle — der decenterweise nur
vom Orchester ausgemalt wird — , der Strafver-
handlung zwischen Gott Vater und dem ersten
Menschen und der endlichen Urteilsvollziehung,
der Vertreibung aus dem Paradiese ? Wenn e i n
Stoff episch ist, so ist es dieser. Nicht einmal
die Caprice eines russischen Musik-Gewaltigen
kann daraus einen dramatischen machen. Eine
88 Ti«t:"Tb"Tiirit5^'C5^T5^'t?^'t^'t'''t^T:5^'t'^'t?5^;s^
dämonische Macht zieht Rubin stein immer wie-
der zur Bühne, ohne ihn, seinen „Dämon" viel-
leicht ausgenommen, mit vollem Erfolge zu krö-
nen. Der Gedanke, es mit einem Mitteldinge
zwischen Oper und Oratorium zu versuchen, lag
nahe. Rubinstein schrieb sonach eine ganze Reihe
„geistlicher Opern", den „Turm von
Babel", „Das verlorene Paradies", „Sulamith",
trotz grosser Schönheiten und genialer Züge lau-
ter Eintagsopem. Neuesten» hat der Meister,
der bekanntlich gegen Trilogien eine gewisse Ab-
neigung hegt, einen Mittelweg gefunden und
komponierte seinen „Moses" als — Zweitagsoper.
Diese gelangt in ein paar Wochen au£ dem
Brünner Stadttheater unter Rubinsfeins Leitung
zur ersten Aufführung.
Das misslungenste dieser Experimente ist
sicherlich „Das verlorene Paradies". Nicht in
einer Nummer erkennen wir den Rubinstein, der
in „Feramors", in den „Kinder der Heide", in
so manchen anderen Werken eigentümliche, ori-
ginelle Töne angeschlagen hat, der in einigen
seiner Kammermusikwerke Themen von strahlen-
der Pracht und Jugendlichkeit hinzustellen ver-
mochte. Im „verlorenen Paradies" ist stets der
nüchterne Praktikus am Werke und noch dazu
nicht immer ein sehr geschickter. Namentlidi
die kontrapunktisch einsetzenden Chore sind
kläglich zusammengestoppelt, verflachen gleich
nach den ersten Takten, lärmen fort wie die
„hohle See" und wirken lediglich durch den
stereotypen Schlussspektakel. Ein paar einfach
disponierte Stücke im zweiten Teile sprechen
anfangs etwas mehr an, verlaufen aber auch bald
im Sande. In diesem zweiten Teile ist auch noch
die Erinnerung an Haydns „Schöpfung" von
geradezu vernichtender Wirkung. Wie wir aus
Rubinsteins Büchlein „Die Musik und ihre Mei-
ster" wissen, hat dieser den Genius Haydns kei-
neswegs in seiner ganzen Grösse erkannt. Er
sagt irgendwo, dieser sei „immer nur der liebens-
würdige, lächelnde, zufriedene, sorglose alte
Herr" und setzt ausdrücklich dazu: „sowohl in
seiner Schöpfung, wie in seinen Jahreszeiten."
— Sollte ein Mann von der grossen Begabung
Rubinsteins nie die bräutlichen Schauer der
Stelle: „Seid fruchtbar alle, mehret euch" em-
pfunden haben, wie die — Klänge aus „Tristan
und Isolde" vorausahnenden — Kühnheiten des
Haydnschen „Chaos"? Ein Blick auf sein eige-
nes schwächliches „Chaos" zu Beginn des zweiten
Teiles und jede beliebige Stelle, die als Parallele
zu irgend einer aus Haydns Meisterwerk auftritt,
hätte ihn darüber belehren müssen: die Rubin-
steinsche „Schöpfung" ist Alte-Herren- Arbeit,
die Haydnsche duftet heute noch wie frisch auf-
geworfene Erde, wie Morgenluft und Tannen-
wald. —
Wir wollen uns mit dem vorhergegangenen
nicht in eine Reihe mit jenen „Zöpfen" stellen,
die immer bereit sind, einen Lebenden mit einem
Toten — totzuschlagen ! Nach unserer Meinung
muss aber ein Moderner über einen von einem
älteren Meister behandelten Stoff etwas ganz
Neues zu sagen wissen, wenn sein Werk Berech-
tigung haben soll. Feuerbach und andere neuere
Maler haben an ihrer Behandlung der Madonna
und ähnlicher Vorwürfe gezeigt, dass das ganz
gut möglich, und wie es zu machen ist.
Rubinstein dirigierte sein Werk selbst, und
zwar in schlichter, gewinnender Weise, kaum
einen Blick in die Partitur werfend. Das war
wohl das interessanteste am Ganzen. Der Bei-
fall überschritt nirgends jene Mittellinie, die
durch die allgemeine Liebe und Verehrung, die
der Meister geniesst, und die Oede diesies von
Mause aus verlorenen Paradieses wie von
selbst gezogen war. Hätte Rubinstein nach dem
langweiligen Oratorium auch nur ein Stück
auf dem Klavier gespielt, jeder Mensch im Saal
hätte den Titel desselben erraten: „Das wieder-
gefundene Paradies". — Am Tage nach diesem
Konzert war es einer kleinen Schar von Ver-
ehrern gelegentlich einer halböffentlichen Soiree
bei Baron Todesco gegönnt, den Meister am
Flügel zu bewundern. Er spielte nur eigene Kom-
positionen, darunter eine schauderhafte Phantasie
über Bürgers „Lenore*". Somit hat er sein In-
cognito bis zum Schluss seines Wiener Aufent-
halts bewahrt.
^
FalstafF.
(Lyrische Komödie in drei Akten von Arrieo B o i t o. Musik von
Cuiseppe Verdi. — Erste Auffuhrung auf dem k. k. Hofopern-
theater in Wien am 23. Mai 1893.)
,,Dass Shakespeares Weiber von Windsor
eines seiner schwächsten Stücke sei, giebt jeder-
mann zu", schreibt Grillparzer irgendwo. Auch
andere Kenner sind ähnlicher Meinung; allen
voran — das Publikum, welches kein dringendes
Bedürfnis fühlt, das Stück von der Bühne herab
zu vernehmen. Der gesamte Kern des Lustspiels,
der erfolgreiche Kampf saturierter Weiblichkeit
gegen die Uebergriffe lockerer, etwas übertrage-
ner Männlichkeit, der köstliche Aufbau der
Handlung sind aber wohl Ursache, dass schon
viele Opernkomponisten nach dem Stoffe langten
und unter mehr oder minder engem Anschlüsse
an das Shakespearesche Scenarium ihre Opern-
bücher formten. Der erste, der sein Auge auf die
„Lustigen Weiber" warf, scheint der Franzose
Papavoine gewesen zu sein, der 1770 mit seiner
Oper „Le vieux coquet" hervortrat. Im Jahre
1794 erschienen dann „Die lustigen Weiber" auf
dem Mannheimer Theater, 1796 kam Dittersdorfs
Q2 T^:?^Ti5i^Tbi^'t:^'b?^Tb^t:::^'t^t:?^Ti5^'b?^T^:^T^^
gleichnamige Oper zur Aufführung, 1798 folgte
der Italiener Salieri mit seinem „Falstaff", 1838
griff der süssliche Engländer Balfe nach dem
englischen Originalstoffe. Alle Vorhergegange-
nen stellte aber Nicolai mit seiner weltbekannten
Oper (1849) *i^^ ^^ ^^^ Schatten. Ein von Adam
(1856) unternommener nochmaliger Komposi-
tionsversuch blieb ohne Wirkung. — Es hat wohl
kaum jemand daran gedacht, dass in der Gegen-
wart noch eine Bearbeitimg erscheinen werde.
Da tauchte die Mär auf, der greise Verdi
schreibe an einer komischen Oper „Falstaff". Die
Mär ist zur Thatsache geworden und eben durch-
zieht eine brillant einexercierte italienische
Operntruppe die grösseren deutschen Städte, um
das in mehr als einer Richtung merkwürdige
Opus in die Welt einzuführen.
Verdi nennt das Stück nicht komische Oper,
sondern „lyrische Komödie". Das ist sehr rich-
tig. Die Grazie, die Leichtigkeit, der kaum
irgendwo bis zum lauten Lachen aufdringende
Ton der feinen Komödie sind es, die Verdis „Fal-
staff" kennzeichnen. Wollte man den Ausdruck
„Komödie" vermeiden, so müsste man das
Stück eine „humoristische Oper" nennen, eine
Bezeichnung, welche auch für Mozarts „Figaro"
und Wagners „Meistersinger" nicht übel taugen
würde. Und zu diesen Werken steht des achtzig-
jährigen Verdi „Falstaflf" in nicht zu ferner Be-
ziehung. Hat Mozart in den grossartigen Finales
von „Figaros Hochzeit" das System einer durch
keine rein musikalische Kunstform beengten fort-
fliessenden dramatischen Musik mit unerhörter
Kühnheit inauguriert, hat Wagner — wohl am
schönsten in seinen „Meistersingern" — jenes
System in der Weise ausgebaut, dass er den gan-
zen Opernakt wie ein Finale behandelte, so hat
Verdi am eindringlichsten im „Falstaff" ausge-
sprochen, dass er, der so viele Opfer auf dem
Altare der alten Oper dargebracht, die Mozart-
Wag^ersche Behandlungsart für die einzig rich-
tige halte. Dieser Umstand erscheint uns als das
wichtigste an der interessanten neuen Erschei-.
nung. Freilich ist es für genauer Zusehende
keineswegs ein Sprung, den Verdi machte, son-
dern nur die Folge einer naturgemässen Fortent-
wicklung. Der geniale Maestro hat auch in den
besseren seiner älteren Werke nicht etwa für
die Leierkästen gearbeitet, wie noch immer so
manche zu glauben scheinen. Er war immer ein
starker Dramatiker. Was seinen „Trovatore", die
„Traviata", „Rigoletto" und „Hernani" auf den
Repertoires so vieler Bühnen erhalten hat, sind
bei weitem nicht die feurigen, hinreissenden Me-
lodien, sondern der starke dramatische Zug, die
theatralische Schlagkraft, die, abgesehen von
nicht abzuleugnenden modischen Abirrungen,
jeden Satz, jede Scene erfüllen. Auch die Keime
der unendlich vornehmen, geistreichen, dabei nie
raffinierten Orchestrationskunst, die sich in „Fal-
staff" in geradezu bewunderungswürdiger Weise
entfaltet, sind in jenen älteren Opern anzutreffen.
Nur dem oberflächlichsten Hörer können die da-
rin auftretenden zahllosen klanglichen Feinheiten
entgehen.
Etwas total Neues, Ungewöhnliches hat Verdi
04 '\:^i^:^iX::^r>^:^r>^:^ri^::^'i^:^r>^:^'^:^ri^^
durch den Uebertritt auf das Gebiet der heiteren
Oper unternommen. Er, der immer nur Stürme
entfesselte, der für Ausbrüche menschlicher Lei-
denschaften so bezeichnende Töne gefunden, er
hat im hohen Alter lächeln gelernt, hat tausend
graziöse, liebliche Tongewinde ersonnen, die sich
schmiegen und wiegen wie ein weicher Frauen-
leib. Gerade diese tönenden Ranken sind es, die
das anziehendste in der „Falstaff"-Partitur aus-
machen. Eine Fülle von weniger auf das konzen-
triert Melodische als aufs dramatisch Anschau-
liche gerichteter Erfindung ist da niedergelegt.
Es ist ein immerwährendes Spriessen und Wach-
sen flüchtiger, dem Augenblick, dem dramatischen
Zwecke aufs vollkommenste dienender Gebilde.
Das Orchester — und in diesem ruht das Haupt-
gewicht der neuen Oper — agiert förmlich, an die
Stelle der Melodie ist die Musikgeste — man er-
laube diesen Ausdruck — getreten ! Darin liegt
zugleich die Stärke und die Schwäche des Wer-
kes. Die Stärke, weil dadurch die Oper bis hart
an die Deutlichkeit, die dialektische Zweifellosig-
keit und Schlagfertigkeit des gesprochenen
Schauspieles heranrückt, die Schwäche, weil die
Musik dabei doch gar zu kurz kommt. Es ist
nicht ein Stück in „Falstaff", das in ununter-
brochenem Flusse fortströmt, das sich nach den
Geboten rein musikalischer Logik kräftig
aufbaut und dem Ohre, dem dramatisch unbewaff-
neten Ohre sich willig gefangen giebt. Das macht
sich bei der. Aufführung empfindlich geltend.
Man wird von dem ununterbrochenen Schaum-
naschen nicht satt, sondern hungrig. „Ein König-
reich für eine grosse, geschlossene Melodie",
möchte man endlich ausrufen. Schade, dass sich
Verdi die günstigste Gelegenheit, schöne Musik
zu machen — wir meinen die Elfenscene im drit-
ten Finale — hat entgehen lassen. Es wird da
allerdings viel gesungen, viel zu viel sogar; aber
es ist lustloses, künstlich gemachtes, nicht aus
dem Vollen mit Bedürfnis quellendes. Die ana-
loge Scene m Nicolais „Lustigen Weibern" steht
bergehoch über dieser hocheleganten Dürftigkeit.
Der Vergleich mit jenem Meisterwerk kommt
dem „Falstaff" überhaupt nicht gut zu statten.
Ohne Zweifel ist das Verdische Opus das pikan-
tere, geistreichere. Aber die ungesuchte Natür-
lichkeit, die anmutige Erfindung, die ansteckende
Lustigkeit, wohl auch die Knappheit der Nicolai-
schen Oper mangelt demselben. Kurz : die ältere
hat die — Jugend für sich !
Von entscheidender Wichtigkeit für die Zu-
kunft dürften manche Anregungen, die Verdi im
„Falstaff " gibt, aber dennoch sein. Vor allem hat
er das Muster eines modernen Parlando-Stils ge-
schaffen, an dem die spätere Produktion nicht
achtlos wird vorüberschreiten dürfen. Wie durch
übermütiges Figurenwerk, durch kaum sich ein-
mal bis zur wirklichen Melodie verdichtende Ton-
linien das Wort in Musik umgeschaffen wurde,
das ist entschieden genial. Es prickelt und
kichert in diesen mutwillig daherhüpfenden In-
tervallen; jede Note hat wirklich ihren „eigenen
Kopf". . Das zeigt sich am deutlichsten in den
kleinen Ensembles der Frauen, die zu dem besten
gehören, was wir an humoristischer Theater-
q6 '\::^y::::^i^:::^i^:::^r>\::::^X::^it::^^
musik kennen. — Von grösstem Interesse ist die
Instrumentation, die, bei durchaus feinster Erle-
senheit der Klänge, nirgends die Stimme deckt,
sondern dieselbe zu heben, zu verschönern, gleich-
sam zu vergolden scheint. Höchste Meister-
schaft !
Da bei „Falstaflf", wie bei jeder neuen Oper,
die Frage nach den Leitmotiven gleichsam in der
Luft liegt, sei vermeldet, dass Verdi von diesem
Kunstmittel, einige wenige Stellen ausgenommen,
keinen Gebrauch macht, also weit weniger als
sein Vorgänger Nicolai, in dessen „Lustigen
Weibern" es an derlei tendenziösen Anklängen
nicht fehlt. Einmal erzielt er aber damit eine
köstliche Wirkung. Falstaff wird durch eine Ver-
traute im Gasthaus „Zum Hosenbande" aufge-
sucht und zu dem verhängnisvollen Rendez-vous
geladen, das bekanntlich mit dem feucht-unfröh-
lichen Waschkorbabenteuer endet. „Alice h mia !"
(Alice ist mein !) ruft der alte Geck und schreitet
unter den Klängen eines marschähnlichen Themas
(in As-dur) wie ein Puterhahn in der Gaststube
auf und ab. „Va vecchio John, va, va per la tua
via." (Geh' alter John, geh' immer deines Wegs)
.... Als er, der Gefahr glücklich entronnen, aber
noch ganz elend vom reichlich geschluckten
Themse- Wasser, wieder vorm Wirtshaus sitzt
und sich mit einem Glas Glühwein ins seelische
Gleichgewicht hilft, ertönt derselbe Marsch in
As-moll, eine schelmisch lächelnde Traüermusik,
eine Grabrede auf verspätete Verliebtheit.
Das Boitosche Textbuch zu „Falstaff"
schliesst sich — wie natürlich — dem Shakes-
peareschen Lustspiele in den meisten Haupt-
sachen ziemlich enge an, weist jedoch auch einige
principielle Unterschiede auf. So ist Nanetta
nicht die Tochter der Frau Reich, sondern jene
der Frau Fluth (sie heisst hier Ford), das Mäd-
chen soll Dr. Ca jus heiraten und nidit den Jun-
ker Spärlich, den Boito, sowie den Herrn Reich
ganz wegliess. Dafür sind die zwei Kneipbrüder
Pistol und Bardolf — beide fehlen in der Nico-
laischen Oper — in den neuen „Falstaff" hinüber-
geschlüpft. Der zweite Aktschluss ist dahin ab-
geändert, dass man bei Boito- Verdi zusieht, wie
der Waschkorb zum Fenster hinausgeworfen
wird. Dem brillant gemachten Nicolaischen Text-
buch gegenüber will uns das Boitosche, bei vielen
augenfälligen Vorzügen, als keine Verbesserung
erscheinen. So ist sdion die erste Scene, die uns
„Falstaff" mit seinen Zechgenossen zeig^ — wie
bei Shakespeare — dramatisch gerade nicht un-
entbehrlich und daher wohl seinerzeit von Nicolai
verworfen worden. Wenn in den „Lustigen
Weibern" die zwei Frauen mit den Briefen aus
ihren Häusern treten, ist man mitten in der
Handlung und erfährt genug von „Falstaff", um
auch über den Absender der Billetts völlig im
klaren zu sein. Man muss ja nicht dabei sein,
wie die Briefe abgesandt werden. Boito füllt den
halben ersten Akt mit dieser geringfügigen
Sache. Es Hessen sich noch etliche solcher Pa-
rallelen anführen, die aber stets zum Vorteile des
älteren Werkes ausfielen. Theaterwirksam ist
aber auch Boitos Buch; es enthält ausserdem im
Detail zahlreiche dichterische Schönheiten und
Im Foyer. 7
q8 Ti;^"b::^Ti^'t:^'t^Ti5^Tb5^t:^'t5«^'b^'b^'b:'^'t5^"t?^
zeigt nicht nur die Hand des vornehmen Littera-
ten, sondern auch die tiefste Kenntnis der musi-
kalischen Ansprüche.
Die Aufführung durch die italienische Truppe
vom Scala-Theater darf man als Ganzes eine
meisterhafte nennen. Manche haben geglaubt,
dem Vollwert der Leistung etwas abziehen zu
sollen, da das Ensemble schon mehrere Monate
beisammen ist und sich daher das bisher kaum ge-
sehene Zusammenspiel eher begreifen lässt Wer
es aber weiss, wie viel Energie dazu gehört, um
gerade bei solch einförmiger Thätigkeit keine
„Bummelei" einreissen zu lassen, wird darüber
anders denken. Das ist nun wohl in erster Linie
das Verdienst des feurigen Kapellmeisters Herrn
Mascheroni, der die Vorstellungen — es
fanden in der Hofoper deren zwei statt — mit
Virtuosität leitete. Von ihm gingen die kecken
Tempi aus, die ein gut Teil des Effekts verbürgen,
er befeuerte die Sänger, dämpfte das mächtige
Orchester. Er hat sich als ganz hervorragender
Dirigent gezeigt. Von den Solisten ist zuerst
Herr M a u r e 1 (Falstaf f) zu nennen, ein Mann
in den „besten Jahren", feiner Sänger, bedeuten-
der Schauspieler. Seine Stimme, ein hoher Bass,
steht nicht mehr in voller Blüte, ist aber noch ein
durchaus williges, geschmeidiges Werkzeug, das
der Künstler, namentlich im parlando, unendlich
vielseitig zu gebrauchen versteht. Maurel hatte
einen ungeheuren Erfolg. Neben ihm kamen ein
trefflicher Baritonist, Herr Pini-Corsi (Herr
Ford) und die Damen Pini-Corsi (Quickly,
die Frau Hurtig im Shakespeare), Stehle (Na-
nette) und Fr. E. Zilli (Frau Ford) zur Gel-
tung.
Ob es deutschen Sängern möglich sein wird,
„Falstaff" in ähnlich vollkommener Weise wie-
derzugeben, wie die Italiener, ist mehr als frag-
lich. Ist Verdis neuestes Werk lebensfähig, so
dürfte es dies nur im Idiom des Originals sein.
In Deutschland wird der Ritter „Falstaff" vor
dem hellen Lachen der „Lustigen Weiber" zu-
rückweichen müssen.
^
7*
Gasa Sonzogno & Comp.
Wien widerhallt jetzt mehr, als seit langen
Jahren von italienischer Musik, In der Hofoper
hat der mutige Renner Mascagni den grössten an-
deren Meistern den Rang abgelaufen — wenig-
stens was die Zahl der jährlichen Aufführungen
betrifft — , im verflossenen Sommer gab's die be-
rühmte erste Sonzog^osche Stagione, in diesem
Frühjahre kam die „Falstaff"-Truppe und jetzt,
seit ein paar Wochen, ist wieder der unterneh-
mungslustige Sonzogno am Platze erschienen und
führt im Theater an der Wien bekannte g^te und
weniger bekannte, weniger gute Werke dem
Wiener Publikum vor. Seit Mascagnis Stern hell
am musikalischen Himmel aufflackerte, haben
eifrige Seher in dessen Nähe noch ein paar
freundliche Lichter entdeckt und man gewöhnte
sich, von Italien, das in produktiver Richtung
recht still geworden war, wieder etwas zu erwar-
ten. In Wien aber, das früher auch politisch mit
Italien zusammenhing, war man besonders dis-
poniert, den Bestrebungen jenseit der Alpen mit
Wärme entgegenzukommen. Es war wie die
Rückkehr zu einer alten Liebe. Und es sieht fast
so aus, als vermöchte die Zeit wiederzukehren,
in welcher die alljährliche stereotype Stagi-
one eine Fülle mehr gesunder, als raffiniert
durchgeistigter Musikgenüsse bot, die Zeit, in
welcher das Publikum im Theater halblaut, zu-
weilen sogar mit voller Kraft die üppigen Can-
tilenen Bellinis, Rossinis, Verdis mitsang. Frei-
lich fehlt jetzt zu solch überschwenglichem
Mitgenusse das wichtigste: die geschlossenen,
packenden, glühenden Melodien von ehedem. —
Die Opern Jung-Italiens sind das Widerspiel der
politischen Gestaltung der gesegneten Halbinsel.
Das Königreich ist geeinigt, die Opern aber haben
etwas Zerfahrenes, an dem die in den Einzelländ-
chen Sardinien, Modena, Parma und Neapel ent-
standenen Werke nicht laborierten Dass
diese heutigen Opern doch schneller ihren Weg
auch in fernere Länder antreten, ist in den mo-
dernen Verkehrsmitteln begründet, in der ge-
steigerten Geschicklichkeit der Unternehmer, den
Konsumenten im vorhinein einen noch unbekann-
ten Genuss als Bedürfnis aufzuschwatzen. „Tro-
vatore" und „Rigoletto", die doch hundertmal
mehr wert sind als alle Opern, die Herr Sonzogno
in die Welt bugsiert, haben viel, viel länger ge-
braucht, um sich ihren Weg, namentlich auf die
deutschen Bühnen, zu bahnen, als die „Cavalleria"
oder „I Pagliacci". Der junge Verdi konnte nur
seine Partituren versenden, im günstigsten Falle
brachte eine reisende welsche Solistentruppe die
neuen Werke in italienischer Sprache zur Auf-
I02 t^t:!^"t;^t5^t:^t^t^t^t:^t^t^t^t^t^
führung. Um „Falstaff", das letzte Opus des
genialen Maestro, in Europa bekannt zu
machen, reist eine ansehnliche Gesellschaft, Mau-
rel an der Spitze, umher, und Sonzogno hat es mit
unerhörtem Mute gewagt, sogar mit einem
grossen Solo- und Chorpersonale und einem ganz
exquisiten Orchester, kurz, mit dem ganzen Thea-
terapparate in die Fremde zu ziehen und für seine
Landsleute Propaganda zu machen. Ein klein
wenig zu viel nimmt er aber doch auf die Reise
mit. Erstens immer ein paar misslungene Opern,
die ihm schwer genug im Sacke liegen mögen,
für deren Ausmünzung im kleinen aber hier nicht
der richtige Boden ist ; zweitens eine ge-
wisse Dosis fertigen Erfolg, Vorruhm, der
viele verstimmt, den die .tüchtigen Werke
nicht brauchen, und der den schwachen
nichts nützt. Der Glaube an seine Verlagsartikel
hat ja etwas Rührendes, aber .... der Glaube
ohne die guten Werke ist tot ... .
In der eben zu Ende gehenden Stagione hatte
Herr Sonzogno mit den Novitäten kein Glück.
Er führte „II piccolo Haydn" von C i p o 1 1 i n i ,
„Festa a marina" von Coronaro und „Flora
mirabilis", von F. Samara auf, ohne etwas an-
deres, als ziemlich unverhüllte Misserfolge einzu-
heimsen. Die bewährten Stücke „Cavalleria",
„Amico Fritz", „Pagliacci" und „Mala vita" da-
gegen lockten immer wieder alte und neue
Freunde ins Theater.
„II piccolo Haydn" ist, in einer Hinsicht
wenigstens, ein bemerkenswertes Stück. Es han-
delt nämlich nicht von getäuschter, oder vielmehr
blamierter Liebe, einem Lieblingsartikel des Son-
zognoschen Verlages. In „Cavalleria", „Pag-
liacci", „Festa a marina", „Mala vita", überall
Homer, in allen Formen und Grössen; der kleine
Haydn und alle seine Mitspielenden gehen unge-
hömt aus dem harmlosen Dramolet hervor. Der
Stoff des Stückchens erinnert an die beliebten Ge-
schichten zur Aneiferung der „reiferen Jugend",
die, nachdem irgend eine staunenswerte, natürlich
unwahre Episode aus dem Jugendleben eines
Künstlers aufgetischt worden, etwa mit den Wor-
ten schliesst: „Nun dürfen wir auch den Namen
des Helden unserer Erzählung nennen: es war
der unsterbliche Soundso, der nachmalige grosse
Meister, dessen Name mit goldenen Lettern im
Ehrenbuche der Soundso-Kunst eingezeichnet
steht." — Ich weiss nicht, ob diese Geschichten
bei der heutigen Jugend verfangen. Ich erinnere
mich ziemlich genau, meistens darüber gelacht,
oder wenigstens nicht daran geglaubt zu haben.
Da ist nicht zu verlangen, dass mir der „piccolo
Haydn" sonderlich imponiert. — Die, jedenfalls
fabelhafte, Fabel des Einakters ist folgende:
Porpora, der berühmte, etwa 1750 in Wien an-
wesende Komponist, ist soeben mit Vollendung
einer Oper „Armida" beschäftigt, ohne dass ihm
die wichtigste Melodie, was man heutzutage in
der geschäftsmässigen Theatersprache einen
„Schlager" nennt, einfallen will. Er ist verzwei-
felt. Um so mehr, als Kaunitz selbst kommt, um
die Herausgabe der Partitur zu urgieren. lA
tritt der Knabe Haydn, Porporas Schüler, hervor,
erklärt, dass er heimlich das fatale Stück kompo-
niert habe, und singt es zum allgemeinen Ent-
zücken aller auf der Bühne Beschäftigten. Por-
pora ergreift einen Lorbeerkranz und krönt den
Jüngling. Apotheose. Die süssliche Geschichte
nimmt sich unter den nervenschwächenden Son-
zognoschen Opern aus, wie der Kuckuck im
Zaunkönigsneste. — Die Musik des Herrn Ci-
p o 1 1 i n i bedient sich einer archaisierenden
Ausdrucksweise und könnte in manchen Teilen
von einem Vor-Haydnschen Meister herrühren.
Im entscheidenden Moment, bei dem durch den
jungen Haydn komponierten Liede, redet Jung-
Italien in seinem eigensten, neuesten Idiom. Die
Wirkung bleibt nicht aus. Nach so viel gleich-
massigem Menuettgetfippel thut einem sogar
diese, doch nicht allzu üppige Melodie recht wohl.
Ein in die Enge Getriebener bot einst seine Erst-
geburt für ein Linsengericht, ein anderer ein
Königreich für ein Pferd. ... Es handelt sich
also meist weniger um das, was gegeben wird,
sondern wie, unter welchen Verhiiltnissen es ge-
geben wird. —
Am selben Abend kam „Festa a marina" unter
des Komponisten Herrn Coronaro persön-
licher Letung zur Aufführung. Der Komponist
reist schon eine Zeitlang mit der Sonzognoschen
Truppe und konnte sich bereits in mehreren Städ-
ten von der geringen Wirkung seines Werkes
überzeugen. So nimmt er die Herbigkeit des Miss-
erfolges in Portionen nach und nach zu sich, lässt
sich ratenweise bestatten und hat obendrein das
Vergnügen, dazu die Musik zu machen. . .Kennen
Sie die Geschichte von dem weichherzigen
Manne, der seinem Hunde, damit dieser auf ein-
mal nicht zu viel leide, den Schwanz stückweise
abschlug? - . .
„Festa a marina" ist, wie die beliebtesten an-
deren Sonzognoschen Ehebruchsopem, ein Ein-
akter. Dies wohl, um auszudrücken, dass ein
Akt genügt, um einen Ehebruch zu vollführen.
Wenn sich der Vorhang hebt, glaubt man, es
müsse die „Cavalleria" beginnen. Fast genau die-
selbe Scenerie wie dort. Nur ganz links oben im
Hintergrunde um eine Kapelle mehr. Dafür in
der Oper um sehr viel heiligen Geist weniger.- In
der Handlung folgt „Festa a marina'* leider skla-
visch jenem berühmten Mascagnischen Vorbilde.
Das ist sehr schädlich. Um so schädlicher, je
schärfer ausgeprägt die Eigenart des Originals
ist. Während der Gemeinplatz tausendmal wie-
der erscheinen kann, ohne gerade Anstoss zu er-
regen, hat der präcis umrissene und restlos aus-
gedrückte Gedanke nur das erste Mal seinen
Wert. — Der Textdichter ist nicht ge-
nannt. Es ist auch unnötig. Denn da er ja doch
nichts gedichtet hat, ist sein Name ganz gleich-
gültig. — Er hat Santuzza, Alfio und Turiddu und
ihre Erlebnisse zusammengeknetet und aus dem
mixtum sein Stück geformt. Sara, die ungetreue
Frau Tonios, liebt einen sicheren Cicillo. Der
Gatte erfährt, genau wie Alfio, den Handel und
tötet — das ist der einzige Unterschied — sein
Weib und nicht den Nebenbuhler. — Die Musik-
stücke und Effekte, aus denen die Oper besteht,
sind genau wie bei Mascagni verteilt. Ein kräfti-
ger Anfangschor, der mehr verspricht, als die
Io6 't^"b:^'b:^T^:i^"fc?^^5^"fc5^'b5^"b5^ti5^"b5^'b^'b;^t^
Oper dann hält, eine Hymne an die Madonna,
ein paar Gesänge hinter der Scene, der rasche
krasse Schluss, alles genauer Abklatsch des Ori-
ginals. Ein Intermezzo fehlt; dafür ist ein Ballett
eingelegt, das manches Gute enthält. Um auch
an „Rantzau" etwas zu erinnern, hat der Kompo-
nist einen Plauderchor der Dorfmädchen ge-
schrieben, ein witziges, geistreiches Stück, das
einige Begabung verrät und zwar vielleicht ge-
rade mehr für das Graziöse, Freundliche, dem
der junge Maestro, wie es scheint, vorderhand
noch aus dem Wege geht. Coronaro arbeitet eben
noch ganz im jung-italienischen Stile, der bemüht
ist, den Beweis zu erbringen, dass Blut kein be-
sonderer Saft sei. Blutrünstig sind die Libretti,
blutrünstig die Musik. Dennoch wird diese
neueste Phase der Oper nicht ohne günstige Wir-
kung auf die Zukunft bleiben, und daher möchten
wir kaum die Ausschreitungen derselben ver-
missen. In diesem Sinne ist auch Coronaros Ar-
beit keine verlorene. „Festa a marina" ist hier
abgefallen, trotzdem die italienische Kolonie er-
hebliche Kräfte aufbot, um einen Erfolg zu in-
scenieren. Namentlich der ans Ekelhafte strei-
fende Schluss hat abgestossen. Sara fällt mit
durchschnittener Kehle, gurgelnde Laute aus-
stossend, zu Boden. Sie hat im Kampf ums Da-
sein den kürzeren gezogen. Da erhob sich ein
gut Teil des Publikums, und es entspann sich ein
Kampf ums — Fortsein! —
Die schwächste der neuen Opern, „Flora mi-
rabilis", hat die Herren F o n t a n a und S. S a -
m a r a zu Autoren. Der erstere schrieb den
.S
Text, ein bedenklich langweiliges Zauberstück,
der zweite lieferte die Musik, eine fleissige, aber
recht ungeschickte Dilettantenarbeit, die sogar
des einen Vorzuges aller anderen neu-italieni-
schen Opern, glänzender Instrtunentation, ent-
behrt. Die Handlung spielt diesmal in Schweden.
Die Tochter des Fürsten von Oerebro, Lydia, ein
herzloses Mädchen a la Turandot, soll mit dem
jungen Ritter Waldemar verlobt werden. Sie
nimmt die Sache aber von der lustigen Seite,
lacht den Helden, trotz seines schönen Kürasses
und wallenden Federbusches, kräftig aus und be-
hauptet, die Seine erst werden zu wollen, wenn
Waldemar die schneeglänzenden Gefilde ihrer
Heimat in lachende Fluren verwandelt habe. Statt
nun seinerseits der Dame mit einiger Heiterkeit
zu begegnen, wird Held Waldemar melancholisch
und findet seine, eines Tenors würdige Fassung
erst wieder, als ihm der finstere Graf von Adel-
fjord entgegentritt, dessen Sohn einst Lydia ge-
liebt, von ihr aber abgewiesen, den Tod suchte.
Die That, an der Lydia die Schuld trägt, soll
nicht ungesühnt bleiben. Adelfjord, der, um
gründlich Rache nehmen zu können, mit grosser
Zaubermacht ausgestattet wird, geht daran, Lydia
schweres Herzeleid zu verursachen, denn erst
dann, so lautet der Schicksalsspruch, werde Wil-
frieds, seines Sohnes, Geist Ruhe finden und auf
seinem bisher völlig unkultivierbaren Grabe eine
Rose spriessen. Dem zaubernden Grafen wohnt
aber offenbar ein gut Teil jener Kraft inne, „die
stets das Böse will und stets das Gute schafft,"
denn er verwandelt die gewiss recht unfrucht-
Io8 ■fc^t5^'t;^Ti;^'t^'fc^"t:^'fc^"t:^'t?^'t;^'fc^'t:^^::«
baren Besitzungen der eiskalten Lydia in pran-
gendes Land und verschafft der Mörderin seines
Sohnes, nach den notwendigsten, den zweiten und
dritten Akt erfüllenden Schwierigkeiten, auch
noch einen Mann, besagten Waldemar, worauf
merkwürdigerweise der offenbar gar niciit
eifersüchtige Geist Wilfrieds vollständig beruhige
ist und dem Gredeihen der ersehnten Rose nichts
mehr im Wege steht.
Der Musik des Herrn Samara kann man die
Anerkennung nicht versagen, dass sie sich überall
bestrebt zeigt, zusammen mit dem Buche ein ein-
heitliches Ganzes zu bilden. Sie ist ebenso fad,
ebenso talentlos gemacht, wie das Buch. Der
edle Wetteifer der Autoren, die Zuhörer einzu-
schläfern, hat die schönsten Früchte getragen. —
Ein paar gar leidenschaftliche Verehrer des In-
termezzos aus der „Cavalleria" sind an diesem
Abend noch trauriger, als alle übrigen aus dem
Theater gegangen. Sie haben die drei markierten
Auftakt-Achtel auch in der „Flora mirabilis" ent-
deckt und erfahren, dass diese Oper viel älter
ist, als Mascagnis Einakter. Nach Abzug dieser
drei Achtel, die sie nun auf das Konto Samara
buchten, schien ihnen der Ruhm Mascagnis nur
mehr fünf Achtel seiner früheren Grösse zu be-
tragen. Armer Mascag^i ! Ganz ohne Ver-
gnügen sind wir aber in „Flora mirabilis" auch
nicht ausgegangen. Das Ballett — tanzende
Blumen — hat uns und zahlreiche andere erhei-
tert .... Der, „der die Lilien kleidet auf dem
Felde", hatte dieser Rosen fast ganz vergessen,
und — wenn ich ebenso wenig Worte darüber
r
sagen wollte, als die Tänzerinnen Kleider ange-
legt hatten, so müsste ich fast schweigen. Ein
Ballett für Kannibalen. . . . Unsereiner, ein ver-
bildeter Kulturmensch, hat doch immer nur den
halben Genuss!
Ausser den Novitäten hat Sonzogno eine
Reihe hier unbekannter Gesangskünstler vorge-
führt. Das meiste Aufsehen von diesen hat wohl
Sigra. Frandin gemacht, eine Französin, die
die Santuzza mit einem Fanatismus, mit einer
sinnlichen Glut darstellte, wie man dergleichen
selten sieht. Eine grosse Schauspielerin, eine be-
deutende Sängerin, der nur leider die innigen
Herzenstöne fehlen, damit ihr die ganze Skala
menschlichen Empfindens zur Verfügung stände.
Sr
A Santa Lucia.
(Melodram in zwei Akten nach den neapolitanischen Volksscenen
G. Cognettis von Enrico G o 1 i s c i a n i. Musik von Pierantonio
Tasca. — Erste Aufführung auf dem Hofopemtheater in Wien
am 4. Oktober 1893.)
Die Jung-Italiener holen aus einer seit, jeher
sprudelnden Quelle, aus dem Volksleben, ihre
Opernstoffe — und sie thun g^t daran. Wo man's
anpackt, da ist's interessant. Dass man hie und
da abgestossen wird, wenn — wie in Giordanos
„Mala vita" — der Griff gar zu tief nach abwärts
geht, wenn einem den ganzen Abend über nicht
ein anständiger Mensch auf der Bühne entgegen-
tritt, das ist bei den mehr keck zugreifenden als
zart tastenden Versuchen der neuesten Schule
wohl kaum zu vermeiden. Die gesunde Menschen-
natur wird da aber wohl bald eine vernünftige
Grenze ziehen. Die Künstler werden weniger
wagen, das Publikum wird etwas mehr vertragen
lernen. Die Zeit, in der nur Könige und „Herr-
schaften" auf den Brettern erschienen, und die
Gefühle nur etwas galten, wenn sie die Brust
des Edelmannes, der Edeldame aufwühlten, ist
gründlich vorüber. Das Weib aus dem Volke,
das heute um das Stück Brot, morgen um einen
Blick des Geliebten, um das Leben ihres unche-
j
liehen Kindes ringt, erscheint uns heute mit
Recht rührender, ergreifender, als die ehemalige
Opern-Mathilde, die, von keiner Drangsal des
Lebens berührt, nur nach den Koloraturen ihres
Opern- Alfons lechzte.
Manche finden freilich auszusetzen, dass man
jetzt immer sogenanntes „niederes Volk" tragie-
ren sieht. Was sollte aber der Dichter mit den
„höheren Töchtern" anfangen, denen der Bräuti-
gam ebenso zur rechten Zeit ins Haus gebracht
wird, wie etwas früher das erste Paar Hand-
schuhe, das erste lange Kleid, mit jenen Wohl-
dressierten, deren Erziehung als tadellos gilt,
wenn sie ihr vernehmliches „Ja" ohne viel Nactt-
denkens zu sagen wissen, nachdem die Herren
Eltern die Höhe der Mitgift und ähnliches ange-
nehme Beiwerk sorglich und zur beiderseitigen
Zufriedenheit beraten . . . Diese Welt liefert die
Stoffe teils für das Salon-Lustspiel (meist vor
der Hochzeit spielend) oder — darnach spie-
lend — für jene galanten Stücke, die den „Ehe-
bruch aus Langweile" behandeln.
Der, ungezügelten Trieben entsprossene, Ehe-
bruch „unterer Gesellschaftsschichten" ist auch
ein Lieblingsthema der italienischen Veristen,
und wir haben in den im Laufe des letzten Jahres
in Wien gesehenen welschen Opern alle mög-
lichen Variationen über dasselbe zu geniessen be-
kommen. Er liebt sie nicht, sie liebt ihn nicht, er
betrügt sie, sie betrügt ihn, er stirbt, sie stirbt,
alle beide sterben. Nur eines ist fast all den
Opern gemeinsam; der Kampf zweier Frauen um
einen Mann. Sind in Italien die Männer so rar
1
112 "fc^^?o"t:^^;^'b^^:«Ti:^Xi:^ti^Tb^"fc^Ti?^'t^»Xi^
oder trägt die Frauenbewegung unserer Zeit die
Schuld daran — Thatsacfae ist, dass stets der
Mann der Umworbene, der Begehrte ist. Und
gerade diese Männer der Sonzogno -und Ricordi-
Opern ! Alle sind roh oder ordinär, auch wohl
etwas dumm. Sie laufen stets der wertloseren
der beiden Frauen nach und sind misstrauisch und
brutal gegen die edlere, aufopferndere.
Auch in T a s c a s ,,A Santa Luda" ist das so.
Ciccillo, ein Fischer und Tenorist, lässt sich von
Rosella, einem heissblütigen Mädchen, lieben und
verlässt sie, nachdem sie einem ICinde das Leben
geschenkt, wegen einer boshaften Dirne, die er
offenbar ebensowenig liebt, ¥rie sie ihn. Rosella
bringt aber dennoch in einer ergreifenden Liebes-
scene den Mann ihres Herzens wieder so weit in
Flammen, dass man vermeint, ihrem Glücke
stünde nichts mehr im Wege; da begiebt sich
Ciccillo auf eine längere Seefahrt, während wel-
cher Totonno, Ciccillos Vater, Rosdla in sein
Haus nimmt, wie es scheint, ohne zu wissen,
dass sie die verlassene Geliebte seines Sohnes sei.
Der Alte ist Austernhändler, und seine Seele
gerade so beschaffen wie sein Handelsartikel.
Aeusserlich rauh, inwendig weich, sehr weich.
Er verliebt sich nach Alter-Herren- Wdse in das
schöne Mädchen, dessen Mutter er einst ange-
betet und die ihn um „eines reichen Herren wil-
len" verlassen. Als der Sohn endlich heimkehrt,
bringt ihm Maria (die nicht im selben Hause
wohnt und daher nach bewährter Opemlogik alles
mögliche weiss, was sich darin zuträgt oder auch
nicht zuträgt) die Nachricht bei, dass sein
Vater Rosella zu seiner Frau machen wolle, was
dieser, der vom Alten zwar noch nicht das
Austerngeschäft, wohl aber schon die Dummheit
geerbt hat, ohne weiteres glaubt. In seinem
Wahne wird er freilich noch durch den Vater be-
stärkt, der ihm selbst von seinen Absichten auf
Rosella erzählt, aus welchem Zwiegespräch man
erfährt, dass Rosella — seit einem Jahre die
Hausgenossin des Austernhändlers ! — nichts von
der Neigung Totonnos weiss. O, diese Opern-
logik ! Als Ciccillo dann die vor Sehnsucht nach
ihm fast vergehende Rosella entgegentritt, einen
glückseligen Empfang' erwartend — stösst er sie
weg, insultiert sie aufs gröblichste und bringt das
arme Wesen in solche Verzweiflung, dass es sich
von hohem Felsen herab ins Meer stürzt. — Zum
Sterben wird Rosella natürlich (d. h. eigentlich
unnatürlich) auf die Bühne gebracht, Ciccillo
trägt sie vom Strande herauf, an ihrer Leiche bre-
chen weinend Vater und Sohn zusammen, To-
tonno, der gern Stiefvater seines Enkels gewor-
den wäre, Ciccillo, der es, wenn's nach dem Kopfe
des Alten gegangen, bis zum — Stiefbruder sei-
nes eigenen Kindes gebracht hätte. Ob der Alte
nun noch auf Rosellas Töchterchen wartet, um in
der dritten Generation sein Glück zu versuchen,
erfahren wir nicht.
Die Geschichte, etliche Unwahrscheinlichkei-
ten abgerechnet, im Leben nicht ganz unmöglich,
wäre kaum geeignet, grosses Interesse zu er-
wecken, wenn nicht die Gestalt der Rosella alle
Mängel des Buches wett machte. Die Art aber,
wie der Librettist Enrico G o 1 i s c i a n i (der
Im Foyer, 8
114 'bJ^'bJ^'b^'^:^'t;«^T^5^T^5^'t;»^"t?^Ti?^Ti::^Ti?^'^^
sich übrigens seinerseits an ein Volksstück von
Gof fr. C o g n e 1 1 i hielt) diese Figur anlegte,
wie er jeden Anlass benutzte, um die Heldin des
Stückes von einer anderen Seite zu zeigen, ver-
mag immerhin, den Zuschauer durch eine Stunde
in Spannung zu versetzen und seine Mitleiden-
schaft zu erregen. Im Titel des Stückes hat sich
der geschickte Theatermann aber offenbar geirrt.
„A Santa Lucia, Melodram in 2 Akten", steht
auf dem Zettel. Viel besser hiesse es : „Belli n-
c i o n i , Melodram u. s. w." Denn weder die
„Familiengeschichten und Heiratssachen" der Fa-
milie Totonno, noch die M-usik Tascas lockten ein
massenhaftes Publikum ins Theater, sondern ein-
zig und allein die Bellincioni, die vielleicht ein-
seitig auf realistische Darstellung leidenschaft-
licher italienischer Weiber eingearbeitete, aber
jedenfalls in ihrer Art beispiellos vollendete, hin-
reissende Künstlerin. Es ist noch nicht lange
her, dass Fräulein Bellincioni an der königlichen
ungarischen Nationaloper engagiert war und,
ohne besonders Aufsehen gemacht zu haben, den
Mittelpunkt des „ungarischen Globus" verliess.
Entweder hatte man dort nicht entdeckt, was an
ihr war, oder sie hatte sich selbst noch
nicht entdeckt. Seitdem sie als erste San-
tuzza den ephemeren Weltruhm der „Cavalleria"
mitschaffen half und gar seit der Musikausstel-
lung in Wien, wo sie als Cristina in Giordanos
„Mala vita" unerhörte Sensation erregte, gilt sie
unangefochten als Doppelgängerin der Düse, als
die grösste Seelenmalerin unter den derzeitigen
Opernsängerinnen, Auch als Rosella hat sie
sich wieder als solche bewährt, hat die, vom Dich-
ter ihr dargebotene Form mit dem InhaH ihrer
reichen,' heissen Sede erfüllt Mit jedem Leiit,
der von ihren Lippen kommt, mit jeder Bewe-
gung des Löibes oder der Hände, mit jedeih Blick
vervollständigt sie das mit schärfstem Kunstver-
stande klar umrissene Bild des um seine Liebe,
um seine ungebrochene Treue kämpfenden und
endlich dafür sterbenden Weibes aus dem Volke !
Im Aeusseren, im nachlässigen Gang, im lockeren
Werfen der Arme ganz die niedere Herkunft, den
Mafigel besserer Erziehung andeutend, erhob sie
ihre Rosella, sobald sich das Weib, das lie-
bende oder gekränkte Weib in ihr zu regen an-
fing, zu echtem Adel, zu jener Hoheit der Freude
oder des Schmerzes, in der alle Frauen gleich
sind. Die Bellincioni führt dabei Vorzüge und
Mängel ihres Aeusseren mit gleicher Wirkung
ins Treffen; Ihfe dürftigen Arme, ihr etwas
krankhaftes, geistvolles Gesicht 6ind ebenso
mächtige Hilfsmittel ihrer Kunst, wie ihr schönes,
beredtes Auge, wie ihre nicht grosse, aber rüh-
rende Stimme. - Für den übermässigen Rahmen
unserer Hofoper schien uns die letztere hie und
da fast zu klein, die ungemein reiche Schauspiel-
kunst der italienischen Meisterin zu intim. Wir
haben die Rosella zweimal an zwei aufeinander-
folgenden Tagen von ihr gesehen. Das erste Mal
in der Generalprobe, das andere Mal bei der Pre-
miere. In der Probe war Fräulein Bellincioni
ungeschminkt, nicht im Kostüm, sondern im
Strassenkleide. Als wir sie Tags darauf, zur ita-
lienischen Bauernschönheit herausgeputzt, sahen,
8*
n
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bemerkten wir, dass das beste, das feinste, das
rührendste dieses einzigen Mienenspieles unter
der Schminke begraben, nicht so recht zur Gel-
tung kam. So delikat organisierte Kunst braucht
einen kleineren Raum und muss in der Nähe ge-
nossen werden.
Nörgler wollen finden, die Bellincioni stelle
immer sich selbst dar. Bei einer so hochinteres-
santen Persönlichkeit, bei einer so gewaltigen
Natur reicht auch das hin, um unauslöschliche
Eindrücke hervorzubringeti. Es war vielleicht
daher auch das richtigste, dass sie sich — wie in
dem Falle Tasca — gar ein Werk für ihren Spe-
cialgebrauch zurecht machen Hess und dem jun-
gen Autor in der Stoffwahl und wohl in noch
manchem anderen an die Hand ging. In diesem
Umstände mag auch die Erklärung dafür liegen,
dass sie die Oper eines geringeren Autors
ins Schlepptau nahm. Ein bedeutenderer Kompo-
nist wäre vielleicht weniger bereit gewesen, sein
Ich dem dominierenden Einfluss der genialen
Schauspielerin unterzuordnen. Herrn Tasca
machte gerade das wenig Mühe, und so wurde bei
ihm aus der Not eine Tugend. Er lieferte nicht,
wie wirklich bedeutende Meister, ein Bild, wel-
ches für sich vollen künstlerischen Wert besitzt,
sondern steuerte nur musikalischerseits so viel zu
den vielen Täuschungsmitteln des Theaters bei,
als unumgänglich nötig war. Mehr nicht! Es
ist daher auch das Verhältnis, dass die Bellincioni
und ihr Partner Herr S t a g n o Eigentümer des
Werkes sind und über das Aufführungsrecht ver-
fügen, gar nicht so unnatürlich, als es auf den
ersten Blick den Anschein hat. Ehemals enga-
gierte das Theater die Sänger für eine Oper, jetzt
geschieht's, wie man sieht, dass die Sänger den
Komponisten und das Theater engagieren. So steht
das Verhältnis wenigstens hier. Der Stärkere
hat eben immer recht. Und der Geist der Bel-
lincioni ist viel, viel stärker, als jener Tascas !
Katmi eine Partie der Oper — Tasca nennt sie
richtiger ein Melodram — hebt sich prägfnanter
hervor. Sanft und friedlich läuft das brave Musik-
lein des jungen Sicilianers neben der aufregenden
Handlung einher, wie ein stiller Bach, der nichts
weiss von den ihn umdräuenden Felsen und
Schroffen. In der Mache lehnt sich Tasca an den
italienischen Obergötzen Mascagni an, und na-
mentlich die düsteren Partien sind stets nach dem
Muster jener tragischen Stelle aus der „Cavalle-
ria" gearbeitet, bei welcher die Männer einander
den Kampf aufs Messer ankündigen. Auch ein
Kirchenchor mit Orgelklang ist vorhanden, ein
paar wohlklingende Frauenchöre fügen sich frei
nach „Rantzau" ungezwungen ein, ein unerläss-
liches Tenorlied hinter der Scene ist ebenfalls zu
hören, und um doch etwas Neues zu bieten, lässt
der Komponist im Vorspiel etwas Mandolinen-
und Guitarrengeklimper bei geschlossenem Vor-
hange erklingen. Just kein Einfall, auf den ein
Komponist übermässig stolz zu sein braucht! —
Vielleicht ist's aber gut, dass die Musik so
friedlich neben der aufregenden Handlung einher-
geht. Man ertrüge möglicherweise sonst das
Ganze nicht! — Dürftigkeit hat ja auch schon
manchmal Segen gebracht.
I Medici.
(Historische Handlung in 4 Akten. — Text und Musik von Rüg-
giero Leoncavallo. — Erste Auffährung auf dem Teatro dal
Verme in Mailand am 9. IHovember 1893.)
Rossini, der sich ebenso gut airfs Kochen wie
aufs Komponieren verstand, soll einmal geäussert
haben, dass Wildbret und Weltgeschichte gut ab-
gelegen sein müssten, ehe er damit etwas anzu-
fangen wisse. Das ist recht zutreffend gesag^.
Historische Stoffe der neuesten Zeit sind
ausnahmslos ein willkommenes Futter für schmie-
ren-fähige Eintagsdramatiker; mit Vorgängen,
die etwa 50 — 100 Jahre zurückliegen, kann sich
bereits ein honettes Schauspiel befassen, die Oper
die nur schwer auf den Reiz des Kostüms ver-
zichtet, langt mit Vorliebe um etliche Menschen-
alter zurück, wenn sie es nicht gar vorzieht, in
jenes lieblich-dämmerige Gebiet abzuschweifen,
wo Wahrheit und Dichtung, Geschichte und Sage
ineinander fliessen.
Ruggiero Leoncavallo, der mit seinen
„Bajazzi'' auf fast allen Bülinen Italiens und
Deutschlands eingezogen ist, hat in seiner neuen
vietaktigen Oper „I Medici" einen historischen
Stoff seines engeren Vaterlandes ergriffen und
denselben zu einem Libretto verarbeitet, das den
ersten Teil einer — „Dämmerung" benannten
Trilog^e bildet. Die anderen, bisher unvollende-
ten Stücke führen d'c Titel: „Savonarola" und
„Cäsar Borgia". Den schöngeistigen Medici folgt
der glaubenstreue Florentiner Mönch, diesem der
blutschänderische Genussmensch. Der Kampf
gegen den Wankelmut des Volkes, der
Kampf gegen eine übermütig gewordene
Kirche, der Kampf um unlauterste Güter
durch unlauterste Mittel oder, wenn man
will, der Zweifel an der Treue des Volkes, der
Zweifel an der Treue der Kirche und am Glau-
ben, der Zweifel an -^ allem, das ist der Kern
dieser Trilogie des Pessimismus.
Um den langsam beginnenden Verfall des
„grossen Italien" zu zeigen, knüpfte Leoncavallo
an die glanzreichsten Tage der florentini sehen
Republik an. Nennt man den Namen Medici, so
schallt ein ganzer Chor anderer grosser Namen
zurück: Brunelleschi, Donatello,' Lippi, Lio-
nardo, Michelangelo u. s. w. u. s. w. Eine Welt
von neuer, herrlicher Kunst! Und da steckte
schon der Keim des Verfalls? Der Verlauf des
Stückes zeigt, dass der Schwarzseher recht hat I
Hinter all der Schöngeisterei lauerte der Geist
der Uneinigkeit und Treulosigkeit. Und ohne
Einigkeit und Treue kein Glück bei einzelnen,
wie bei Völkern !
Schon mehrere Komponisten haben den
Schauplatz an den Minne- und Hasshof der Me-
diceer verlegt, der nebenbei bemerkt auch als Ge-
burtsstätte der Oper zu gelten hat. So schrieb
1 iO t:5^t^5?^^3^t^5?^^:^^5^t:^t^5^ti:?^ti^tb^^:?»»^^
Combi (1840) eine italienische Oper „Cosmo de'
Medici", Piccini (ein Abkömmling von Glucks
Nebenbuhler) 1854 eine „Elisa Valasco" („Lo-
renzino de' Medici"), G. Roberto (Turin
1849) einen „Pier de' Medici", Poni^tows-
ky (1860) eine französische Oper „Pierre
de Medicis". Mit fast lehrhafter Absicht
hat sich Leoncavallo der Geschichte des
grossen Geschlechts genaht Grösste Gewissen-
haftigkeit muss man dem jungen Maestro sofort
vor rtihmen. . Er suchte zuerst zu vergessen,
dass er Librettist sei, und warf sich auf gelehrte
Studien über seinen Stoff. Er durchwühlte die
einschlägige Litteratur, stöberte in den ver-
gessensten Dichtungen der Mediceerzeit, und als
er sich in dem Kreis längst dahingesunkener
Grossen so heimisch fühlte, als habe er mit sei-
nem Lorenzo und Giuliano getafelt tmd gesungen,
da machte er sich als gesunder, praktischer Kopf
an den Entwurf seines Buches. So g^nz hat er
aber den Schülstaub nicht von den Händen ge-
bracht, trotzdem er sie sich auch im Wasser mo-
dernster italienischer Kunst abgewaschen. Er
schleppte in sein Libretto eine gewisse Vorliebe
für schöngeistige Reden mit hinüber, ein faible
für philosophische Reflexionen, die nun einmal
der Oper stets mehr zum Schaden als zum Nutzen
gereichen. Laubes Wort: „Die Musik ist eitie
dumme Kunst", ist gewiss in dieser allgemeinen
Fassimg eine grobe Unrichtigkeit, aber ein Fünk-
chen . Wahrheit ist doch darin enthalten. Bei
Gemütssachen wirkt die Tonkunst wie eine Fackel,
die auch jene letzten Fältchen einer Seele zu be-
leuchten vermag, bei Verstandessachen ist sie es,
die verdunkelt, verwirrt, unklar macht. Worte
der Liebe blühen auf unter Musikklängen, kluge
Reden verlieren das beste: die Glaubhaftigkeit.
Diese alte Erfahrung konnte man recht augen-
fällig bestätigt sehen im ersten ^Akt der neuen
Leoncavalloschen Oper. Lorenzo de' Medio i, das
Haupt der Republik Florenz, und sein Bruder
Giuliano ziehen zur Jagd aus. In ihrem Gefolge
befindet sich Poliziano, der Dichter, Nicht lange
dauert es, bis die Herren ein mit antiken Anklän-
gen gewürztes Gespräch beginnen, das endlich
der mehr nach Liebe als nach Politik dürstende
Giuliano auf die galante Seite zu wenden ver-
steht. Bei allem Geist, den Leoncavallo auf diese
Partie verwendet hat, hört man doch einen pro-
fessorlichen Ton durchklingen und wird des Ge-
fühls nicht ledig, dass man den — übrigens in
archaisierender Weise singenden — Dichter recht
leicht entbehren könnte. Leben kommt in das
Stück erst, als zwei Mädchen auftreten, Simo-
netta Cattanei, und ihre „Freundin", Fioretta de'
Gori, ein lieblicher Doppelstern, um den sich die
Liebesintrigue der Oper dreht.
Eine der strikteste Gegensatz der anderen, im
Aeussern und Innern sowohl als in ihren Schick-
salen. Simonetta blond, stolz, zurückhaltend und
— lungenkrank. (Diese unglückselige Erbsünde
der Menschheit, für die einst die italienische
Sprache nicht einmal ein Wort hatte, ist die
Modekrankheit der neuitalienischen Libretti. . . .)
Ihr Leben ist ein Decrescendo, das mit einem vol-
len Accord einsetze — als Giuliano, von der Jagd
zurückkehrend, sich um ihre Liebe bewirbt, sie
dieselbe von ganzem Herzen erwidern kann —
und das dann in Siechtum und Verlassenheit
endet. Fioretta schwarz, von fast aufdringlicher
Leidenschaft und — ungemein gesund. Ihr Leben
ein Crescendo, das sackte anhebt, als sie Giu-
lianos Herz sich geneigt zu machen versteht, das
immer voller und stärker wird unter den Süssig-
keiten einer ersten Liebe, und das grell abbricht,
als der Vater ihres ungeborenen Kindes unter
den Dolchen seiner Feinde verblutet.
Doch wir haben der Handlung vorgegriffen,
— Als die Mädchen die Bühne betreten und rei-
zende Lieder über Mai und Wiesenblumen ge-
sungen, erscheint Giämbattista da Montesecco,
päpstlicher Hauptmann und florentinischer Wüst-
ling, und will, ohne viel nach Liebe zu fragen,
Simonetta küssen. Sie wehrt ihn ab. Aeusserlich
frech, doch innerlich beschämt zieht er ab. Giu-
liano dagegen, der, eine Hindin verfolgend, auf
die im Wald Fortschreitende stösst, findet Simo-
nettas Herz bereit, dem «einigen Gehör zu schen-
ken. Als der Vorhang fällt, sind der jüngere Me-
dici und das liebende Mädchen ein seliges
Paar ^- allerdings belauscht von dem erbitterten
Montesecco und beneidet von der eifersüchtigen
Fioretta, die mit Windeseile ihre Liebe zu Simo-
netta gegen eine viel glühendere zu Giuliano ein-
tauscht. — Im zweiten Akt beginnt die regel-
rechte Verschwörung — wie immer: Ensemble
von etlichen finsteren Bässen und einem verführ-
ten Tenor — man beschliesst die Ermordung
der Medici.
Kaum ist dieser Racheplan mit einem düsteren
Unisono besiegelt worden, so kommt schon der
sangeslustige Lorenzo einher — natürlich mit
seinem Reimhelfer Poliziano — und singt eine
Art Serenade, die alsbald in ein allgemeines Sin-
gen und Tanzen, in ein improvisiertes Fest über-
geht, an dem sich auch Simonetta und Fioretta
beteiligen. Ja, die erstere wird so sehr von der
allgemeinen Freude erregt, dass sie ihres Leidens
nicht achtet, sich im feurigsten Reigen dreht
und endlich niederstürzt. Das Libretto meldet,
ein Blutstrom entquölle ihrem Munde. Man
war hier so tolerant und hat das nicht so genau
genommen und Hess jenen „besonderen Saft" hin-
weg. Wenn es einen Operntod giebt, warum soll
es keine Opernkrankheiten geben ? . . . Nachdem
das Unglück geschehen ist, eilt alles weg, man
bringt Simonetta nach Hause und nur zwei blei-
ben auf der Bühne zurück, denen Nacht und
fremdes Unheil günstig sind: Fioretta und Giu-
liano . . ., in den weichsten Lauten verraten sie
Freundin und Geliebte und verhöhnen das Wort
der Schrift: Liebe. ist stärker als der Tod! Sie
legt sich wie ein Siegel an seinen Arm, wie ein
Siegel an sein Herz, — das schwellende Leben
hat die Erinnerung an die liebliche Dahinster-
bende verwischt. — : Was nun folgt, sieht, ober-
flächlich angesehen, wie politisches Verhängnis
aus, es ist aber Sühne für Giulianos Liebesver-
brechen. Im dritten Akte — der auf einer
Strasse spielt, die links von Fiorettas, rechts von
Simonettas Hause begrenzt ist — sehen wir die
in Reuethränen aufgelöste Fioretta. Sie beklagt
ihre eigene Leidenschaft, und doch — zum
Schlüsse bricht sie in den Jubelruf aus : „Für die
Liebe will ich leben und — sterben**; und als
nun gar Giuliano nächtlicherweile zu ihr kommt,
da ist der Seligkeit kein Ende. Aber während die
Treulosen ihres kurzen Glücks geniessen und die
ahnungslose Simonetta am Hause gegenüber die
laue Nachtluft einsaugt, nahen die Verschwöre-
nen und bestimmen den Tag (es ist der histo-
rische 26. April 1478) zur Ausführung ihres
Racheplanes. Im Augenblick, wo der Priester in
der Messe die Hostie hebt, sollen die Verhassten
fallen. Simonetta hört mit an, was die Männer
beraten, sie stürzt zu Fioretta, findet da den
Mann ihres Herzens — und mit den letzten Kräf-
ten ihres gebrochenen Leibes ruft sie: „Morgen,
morgen ... die Medici . . ." Sie stirbt. — Im
letzten Aufzuge erfüllt sich das Geschick. Wäh-
rend der heiligen Handlung fällt Giuliano dem
Stahl zum Opfer, Lorenzo entkommt und zeig^,
zurückkehrend, den Nobili an Ort und Stelle den
Herrn. In namenlosem Jammer stürzt Fioretta
über die Leiche des Geliebten.
Ein spannendes, effektvolles Buch, an dem
man allenfalls aussetzen könnte, dass der Wan-
kelmut Giulianos verletzt, dass in den ersten zwei
Akten zu wenig für' die Handlung wichtiges vor-
geht, und dass sowohl der zweite als der dritte
Akt bei Nacht spielen, was einen für die Augen
etwas einförmigen Eindruck macht. Diesem letz-
teren Uebelstande wird dadurcli abgeliolfen, dass
beim Feste Fackelträger erscheinen, und die
Bühne, ohne der Logik allzu viel Zwang anzu-
ihun, erleuchtet werden kann.
Der Musiker Leoncavallo fühlte ganz gut,
dass ihm der Dichter Leoncavallo in den zwei
ersten Akten das Terrain nicht günstig vorberei-
tete und setzt daher erst im dritten Akte mit vol-
ler Kraft ein. Der erste Aufzug enthält wohl
mehreres Hübsche, der zweite eine überaus rei-
zende, gesungene Tanzmusik, aber im ganzen hebt
sich die Musik nirgends ins Ungewöhnliche, nicht
einmal die beiden Liebesduette atmen rechte
Leidenschaft. Will der Maestro damit sagen, es
sei keine echte, tiefe Liebe, was die beiden, aus —
nur drei Personen bestehenden Liebespaare em-
pfinden? Das darf der Künstler nicht wollen.
Für den Moment muss auch die sündigste Glut
wahr und echt sein. Und wollte der Kompo-
nist dergleichen versuchen, so kann er's nicht.
Die Musik vermag nicht zu lügen! Sie ist viel-
leicht dumm — aber ehrlich! — Warme, tiefe
Töne schlägt Leoncavallo in dem von Leid zur
Freude sich steigernden Monolog der Fioretta
(dritter Akt, C-dur) an und seinen grössten
Trumpf spielt er mit dem Finale desselben Auf-
zuges aus. Das Ensemble der Verschwörer ist
ein mächtig aufgebautes, unendlich effektvolles
Stück, dessen bedeutende Wirkung nur noch
durch die gleich darauffolgende rührende Sterbe-
scene der Simonetta übertroffen wird. — Im
vierten Akt ist es namentlich ein schönes Gebet
Fiorettas, das grossen Eindruck macht und musi-
kalischen Wert besitzt. Geistvoll, sorgfältig ge-
arbeitet, bi-illant instrumentiert (einige brum-
126 t^t^t^t^t^t^"t:^^:^"t^'b^"t:^t^t^'b^
mige, zu tief liegende Stellen abgerechnet) ist
alles. Hätte doch Mascagni die Sorgfalt Leon-
cavallos oder — dieser des ersteren starkes Ta-
lent!—
Die Aufführung der Novität, welche in dem
von Sonzogfno gepachteten Teatro dal Verme,
einem zum Opemhause umgekrempelten Cirkus,
statthatte, war in gesanglicher Richtung ganz vor-
züglich, schauspielerisch ragte nur die Darstelle-
rin der Simonetta hervor; die Dekorationen
waren mittelmässig, die Kostüme mitunter von
sehr zweifelhafter Schönheit, die Regie glänzte
durch vollständige — Abwesenheit. Grosse Wir-
kungen waren von unkundiger Hand fast mut-
willig zerstört, der Wahrscheinlichkeit war alle
mögliche Gewalt angethan worden. In dem
Lande, wo die höchsten Wunder der Malerei ent-
standen, sieht man recht mangelhafte Coulissen
und Prospekte, in der Heimat der Düse und Bel-
li ncioni giebt es noch eine primitive Schauspiel-
kunst, deren sich gaftz kleine deutsche Provinz-
bühnen kaum — rühmen dürften.
Die Simonetta sang Fräulein Stehle, eine
uns schon bekannte, vortreffliche Sängerin, die
Fioretta Frau Gini-Pizzorni, eine Mezzo-
sopranistin mit schöner, weicher Stimme, unter-
stützt von einer prächtigen Persönlichkeit. Die
Rollen der Brüder Medici waren durch zwei kör-
perlich recht unähnliche Künstler besetzt, Giu-
liano, der Liebende, durch den berühmten ita-
lienischen Star T a m a g n o , der gross, etwas
hager, steif und — ganz Tenor ist; Lorenzo,
der Politische, durch den in horizontaler
Richtung besser beanlagten, beweglichen, be-
kannten Baryton B e 1 1 r a m i , der nur in der
äusseren Erscheinung etwas hinter dem Begriff
zurückbleibt, den man sich von einem „grossen**
Medici macht. Das Orchester unter Ferrari
leistete ausgezeichnetes.
Der Erfolg der neuen Oper war ein sehr
guter, aber kein so ungeheurer, wie manche er-
wartet hatten. Die zuweilen recht spärlich
fliessende Erfindung wirkt ernüchternd, auch sind
besonders im ersten und zweiten Akte einige Län-
gen vom Uebel, und rächen sich etliche Fehler der
Disposition. Simonetta singt im i. Aufzug nach-
einander zwei Lieder ungefähr desselben Inhalts,
gleich darauf kommt ein Liebesduett, das wieder
aus zwei aneinandergestückelten Duetten besteht.
Ein Lied und ein Duett müssten fallen. Der
Dichter Poliziano, so wichtig er seinerzeit für
die Gedichte der Medici gewesen sein mag, ist
auf der Bühne eine langweilige Figur; die
Strassentanzscene leidet an zu langsamer Ent-
wicklung und macht nicht die erwünschte er-
regende Wirkung, die langen poHtischen Reden
I/Orenzos, die dieser hält, während sein Bruder
im Sterben liegt, schwächen den Schluss des
Stückes ungemein ab. Mit den Tendenzen ist in
der Musik nichts anzufangen.
Leoncavallo wurde oft gerufen. Mascagni,
der in Sonzognos Loge sass, applaudierte aus
Leibeskräften. Warum sollte er sich bei solcher
Gelegenheit nicht freuen?
^
Der Kuss.
(Volksoper in zwei Akten. Text von E. Krasnohorska. [Deutsch
von L. nartmann.] Musik von Friedrich Smctana. — Erste Auf'
fuhrung in der Hofoper zu Wien am 27. Februar 1894.)
„Der beste Kuss ... ist der, an dem nichts zu
bereuen ist" heisst es in Doczis berühmtem Lust-
spiel „Der Kuss". — Dieser Kuss ist nun
Smetanas gleichnamige Volksoper nicht. An
diesem ist etwas zu bereuen: das nicht geradezu
unmögliche, aber doch bedenklich undramatische
Textbuch, über dessen Schwächen nicht einmal
eine Muster au ff ührung, wie sie in der Wiener
Hofoper stattfand, hinwegzuhelfen vermochte.
Die Fabel des Stückes ist zu unbedeutend. Das
reiche Bauerstöchterlein Marinlgi wird zu Beginn
der Oper von dem jungen Witwer Hanno, der vor
seiner ersten, aus Verstandesgründen von den
Eltern zusammengeschmiedeten Ehe als deren er-
klärter Geliebter galt, zur Frau begehrt. Sie ver-
wehrt, in übergrosser Zartheit, um die Ruhe der
dahingeschiedenen Frau Hannos nicht zu stören,
dem Freier den Verlobungskuss. Trotzdem
Marinka dem ungestüm Drängenden den Grund
ihres Verhaltens erklärt, trotzdem Hanno sieht,
wie sehr sich das treue Mädchen um sein, nach
der Mutter Tode zu ihr in Pflege gegebenes Kind
bemüht, bleibt er bei seinem Verlangen, provo-
ciert einen solennen Auftritt, der sich neben den
ausgiebigsten Streitigkeiten jahrelang Verehe-
lichter sehen lassen darf, geht dann zornent-
brannt in die Kneipe und bringt, umgeben von
weinerhitzten Bauern, umringt von einer Schar
liebeslustiger, lockerer Mädchen, seiner Marinka
eine höhnische Serenade. Musikanten spielen
auf, er tanzt mit den Dirnen und nimmt von der
ihn begleitenden Damenwelt in der Mehrzahl,
was ihm seine Braut in der Einzahl verweigerte.
Das sind nun Küsse, von denen Halm, nächst
Doczi der bedeutendste Kuss- Specialist, in seinem
„Wildfeuer" behauptet, dass sie „entzweien, ver-
giften, trennen" können. Empört verlässt Marinka
das elterliche Haus und begibt sich zu ihrer alten
Verwandten Brigitta, die im böhmischen Grenz-
gebirge Schmuggel treibt. Ihr besonderes Fach
ist die Umgehung gesetzlicher zeitraubender Zoll-
manipulation beim Import von Seidenwaren. Sie
ist eine Meisterin im Verstecken und — daher
v/ohl — auch im Entdecken, und so hat sie es bald
heraus, was Marinka im letzten Herzenswinkel
für Konterbande fuhrt. Das tiefbetrübte Mäd-
chen begleitet die Alte auf einem nächtlichen
„Geschäftsgange", erweist sich aber als so unge-
schickt im Verkehr mit k. k. Grenzwächtern, dass
ihr Brigitta den Rat gibt, dies Spiel schleunigst
wieder aufzugeben und ihr Glück doch lieber
mit der Liebe zu versuchen. Da auch dem heissen
Kopfe Hannos ein Spaziergang im kühlen Walde,
wo er seine Geliebte suchte, aber nicht fand, sehr
gut angeschlagen hat, und er vor sämtlichen
Iva Foyer. 9
130 't^'b^'b^^'t^^'t^'fc^'fc^'b:^'^:^'^?^'^:^'^?^'^::'^^:?^
Tannen und Eichen, sowie seinem ebenfalls in
den Wald geratenen Schwager und Heiratsver-
mittler Janusch feierlich Reue und Leid erweckte,
bleibt zu einer glücklichen Lösung nur mehr
übrig, dass'die kleinlaut gewordenen Zänker sich
irgendwo treffen. Das geschieht nach Absolvie-
rung etlicher hübscher Gesangsnummern. Ma-
rinka fällt ihrem^ Hanno um den Hals, er verwei-
gert nun seinerseits im Scherze einen Augenblick
lang den Kuss, gleich darauf sind die beiden har-
ten Köpfe aber so nahe aneinander, dass auch
dem oberflächlichsten Zuschauer kein Zweifel
darüber bleibt, dass aller Streit und die Oper zu
Ende ist.
Dies Buch ist nun keineswegs spannend oder
aufregend, sondern treibt sich hart an jener
Grenze herum, wo die Langeweile anfängt. Aber
die Handlung desselben ist doch wenigstens nicht
unwahrscheinlich, die auftretenden Personen, be-
sonders Marinka und Hanno, haben warmes
Leben und sind nicht ohne Geschick mit individu-
ellen Zügen ausgestattet, ausserdem ist etwas in
dem Buche, dessen sich manclies andere, weit
bessere Libretto nicht rühmen kann : Poesie. Das
Lieben und Leiden von auf einem ganz bestimm-
ten Fleckchen Erde aufgewachsenen Menschen ist
darin mit feinfühliger Hand geschildert. Das
beste in dieser Richtung ist wohl die Scene im
I. Akte, in welcher Marinka weissen Sand um die
Wiege des Kindes streut, damit man morgens die
Tritte der toten Mutter sehe, die nachts zu ihrem
Kinde komme, es schütze, liebkose und einwiege.
Kein gewöhnlicher Theatereffekt, und eben des-
halb in seiner rührenden Innigkeit jeden Hörer
tief ins Herz treffend. — Das beste an solchen
Details ist, wie die ganze Handlung, aus der böh-
mischen Novelle „Hubicka" (der Kuss) von Ka-
rolina Svetla genommen, die nun, da sie auch
kürzlich in der Reclamschen Universalbibliothek
in einer guten Uebersetzung erschienen ist, durch
Smetanas Oper der verdienten Würdigung weite-
rer Kreise entgegengeführt werden dürfte.
Die Musik Smetanas schliesst sich treuherzig
der Handlung an, vertieft jede der von der Dich-
terin nur angedeuteten Empfindungen, ergeht sich
— fast zu behaglich — im Aussingen echter
Herzenstöne und leidet nur unter dem einzigen
Mangel rhythmischer Eintönigkeit. Nicht nur
das gar zu lange Beibehalten gewisser rhythmi-
scher Figuren ermüdet den Hörer, sondern die
vielen langsamen Tempi sind es, die zuweilen ein
Gefühl der Abspannung erregen. Nach einem
Moderato kommt ein Andante, dann wieder ein
Moderato u. s. w. Das stumpft ab. Um so siche-
rer ist freilich die Wirkung einiger keck zugrei-
fender Stücke, so in erster Linie der echt böh-
mischen Spottpolka, welche die von Hanno be-
zahlten Musikanten zum Schrecken Marinkas vor
ihrem Fenster aufspielen. Eine Scene, die in
ihrer taufrischen Volkstümlichkeit an die bäuer-
lichen Lustbarkeiten im i. Akte des „Freischütz"
erinnert. — Das hiesige Publikum, das seit dem
Sensationserfolge der „Verkauften Braut" im
Ausstellungstheater jedem neuen Werke Sme-
tanas mit besonderer Sympathie entgegenkommt,
hat auch den „Kuss" mit grosser Wärme aufge-
132 T:5^^5^ t:^»"t^ "t3^"C::^ ti^'b^ "t^ts^t^^t^ X;:^"^:^
nommen. Ob wirklich alle unter mancherlei Ver-
zicht auf stärkere Theaterwirkungen so gutwillig
auf die stillere, rührendere Musik der Oper ein-
gingen, oder ob es die Mode ist, die den Erfolg
von vornherein verbürgte, das ist leichter deut-
lich als galant gesagt. Man kann sich ja,
trotz aller Nebengedanken, herzlich darüber
freuen, wenn die Mode auch einmal einem werr-
vollen Werke, einem edlen Meister zu gute
kommt. Es ist nicht immer so ! —
-^
„Die Rose von Pontevedra."
(Oper in einem Akt von Josef forster. — Erste Aufführung im
k. k. Hofoperntheater am 10. April 1894.)
„Der König von Italien soll den deutschen
Komponisten Herrn Löwenpferd beauftragt
haben, eine Oper zu schreiben, deren Textbuch
eine Episode aus der Geschichte Savoyens zu
Grunde lieg^." Diese — allerdings nach berühm-
tem Muster komponierte — Zeitungsnotiz ist
zwar nicht wahr, aber sie könnte wahr sein, . . .
d. h. wenn sich's dabei nicht um einen deutschen
Komponisten handelte. Ein solcher bekommt
nicht einmal in — Italien einen derartigen Auf-
trag. ... Im vorigen Jahre hat ein deutscher
Fürst, der nunmehr verewigte Herzog von Sach-
sen-Coburg — zum ersten Male seit langer Zeit
— der heimischen Produktion gedacht und einen
Preis für eine einaktige Oper ausgeschrieben. Das
Gros der eingelaufenen Opern war Imitation ita-
lienischer Originale, genauer gesagt, es waren
fast lauter Schösslinge der „Cavalleria rusticana",
die ja auch wieder aus einer Preisausschreibung
hervorgegangen ist. Nachdem die Sichtungs-
kommission zahllosen Dolchen und einem Meer
von Ehebrecherblut glücklich entronnen, erkannte
134 '^:^'^<::^'^:^'^<:^^^^:^'^^::^^^::^^
sie, dass eigentlich keine der Opern einen ersten
Preis verdiene. Man wollte aber doch nicht ein
gar zu klägliches Schauspiel aufführen und laut
werden lassen, dass alle deutschen Komponisten
mitsammen nicht einen Akt guter Opernmusik
zu schreiben vermöchten, . . . suchte daher unter
den vielen schlechten Opern, die da vorlagen,
die relativ beste aus. Für diese galt eine mit dem
Titel „Evanthia". In letzter Stunde kam noch
die „Rose von Pontevedra" daher und brachte die
Ansichten der Beurteiler in eine gewisse Gä-
rung. . . . Die Verhandlungen der Rhadamanten
warch geheime, und so konnte es nicht fehlen,
dass die Oeffentlichkeit bald erfuhr, dass man
sich dahin geeinigt habe, in puncto des endgülti-
gen Urteils noch weiterzugehen, als einst der
weise Salomo. . . . Man halbierte das Elind, par-
don, den Preis, und gab die eine Hälfte dem
Norddeutschen Umlauft, dem Autor der „Evan*-
thia", die andere dem Süddeutschen Joseph F o r -
s t e r , dem Komponisten der Oper „D i e Rose
vonPontevedr a", welche wir nun, nach lan-
gen Vorbereitungen, endlich über die Bühne unse-
rer Hofoper schreiten sahen. — Das Inventar der
Novität ist ungefähr dasselbe, wie bei den meisten
anderen neuen VoU-Blut-Einaktern : ein betroge-
nes und ein betrügendes Weib, ein betrogener
und ein betrügender Mann. An Dekorationen und
Requisiten erfordert sie — wie die übrigen der-
artigen Opern — ein Gasthaus und eine Kirche
(oder eine Kapelle, oder doch einen „Bildstock"),
kurz, je einen Labe-Ort für die Seele und den
Leib, Glocken für den Glockenchor, Trinkge fasse
für das unvermeidliche Trinklied, einen Dolch
oder ein Schnappmesser für das betrübliche
Ende. Diese Gleichmässigkeit hat für die Büh-
nenleiter das gute, dass eine Absage und dadurch
nötig gewordene Aenderung der Vorstellung nur
ganz geringe Mühe und Unruhe verursacht. Man
kann „Cavalleria" oder „Festa a marina" oder
„Rose von Pontevedra" geben, ohne — im Not-
falle eine Coulisse verschieben zu müssen. Bis
hierher könnte man sich auch die Uebereinstim-
mung ganz gut gefallen lassen. Dass aber die
Textbücher tmd die Musik sich ebenfalls gleichen,
ist schon fataler. Auch Forster, als talentvoller,
geistreicher und theatergewandter deutscher
Komponist seit Jahren bekannt, hat der Versuch-
ung nicht widerstehen können, zu einer in Spa-
nien spielenden Handlung eine stark italienische
Musik zu schreiben, die fast durchweg an Mas-
cagni erinnert und hoffentlich nur als ein „Ueber-
gang" in des Tondichters Lebensarbeit aufzufas-
sen ist. Indem er der Mode huldigte, hat er den
Erfolg an seinen Namen gefesselt, ein neues
Werk aus seiner Feder wird von dem „berühmten
Forster" herrühren und gefallen, selbst wenn es
viel besser ist, als „Die Rose von Pontevedra".
Nach dem grossen Glücke, das Forster nun in
dem Venusberg« der neuesten Richtung genossen,
sollte er eine Bussfahrt . thun, aber nicht nach
Italien, sondern etwa nach Thüringen oder an
den Rhein, und wenn er dann wieder den gewohn-
ten Boden unter seinen Füssen fühlt, wird ihn
Frau Venus nicht mehr verlocken können; er
möge dann mehr Glück haben als sein Kollege,
136 t^"fc:^^^'fc^^^'b^t5^'b^^:^^^^3*^t^ts^^:^
der Sänger und Dichter Tannhäuser, und sein
Ideal früherer Tage nicht verstorben, sondern in
voller Lebensfrische wiederfinden. Der Ausflug
ins Welschland möge ihm Ruhm und materiellen
Vorteil bringen, das gönnt ihm jeder, der dem
schweren Ripgen des talentvollen, aber vom Miss-
geschicke verfolgten Mannes seit Jahren zusehen
muss. . . . aber dann ernstlich umgekehrt und
wieder etwas echtes, unmaskiertes geschrieben !
Einen Gedanken können wir bei der ganzen
Geschichte nicht unterdrücken: was für ein
rühmliches Werk hätte Forster vollbracht, wenn
er seine „Rose von Pontevedra" in demselben
Sinne komponiert hätte, wie Hauff seinerzeit den
„Mann im Monde" schrieb; wenn er dem deut-
schen Publikum gezeigt hätte, wie dünn eigent-
lich der Leim ist, auf den es gar so willig ge-
gangen. Ich fürchte aber, er hat diesen lustigen
Nebengedanken keinen Augenblick gehabt, und es
ist ihm — wenigstens im Moment — mit seinar
welschen Musik bitterer Ernst. . . .
Jos. F o r s t e r , ein geborener Steirer, hat in
seiner Jugend ein paar Jahre an der Grazer Tech-
nik studiert. Die schöne Murstadt war damals
nicht — wie heute — ein südwärts vorgeschobe-
nes Fort des Deutschtums, sondern zum guten
Teil ein nördlich gelegenes Stückchen Italien.
Zahllose welsche Studenten lebten, studierten und
kneipten daselbst, bis in die späte Nacht durch-
zogen singende Gruppen die Strassen, auf dem
Festungsglacis — derzeit Stadtpark — übten sie
in dem Schatten hoher Kastanien ihr landesüb-
liches Ballspiel. Im Theater wurde die italie-
nische Oper mit Vorliebe gepflegt, „Moses",
„Tankred", „Belisar", „Crociati" waren „Leib-
opern" der Grazer, eine Zeitlang fungierte sogar
ein Italiener, B a r b i e r i , als angestellter Ka-
pellmeister. Italienische „Werkel" mit ihren
immer vibrierenden „Stimmen" sorgten für
eine angemessene Strassen - Popularität der
Bellinischen und Verdischen Opernmelodien.
Savoyarden mit Dudelsack, Schwegelpfeife
und Murmeltier waren alltägliche Erschei-
nungen. Vielleicht ist diese Atmosphäre
der Entwicklung der vielen, aus der Steier-
mark stammenden Musiktalente förderlich gewe-
sen. Auch Forst er hat diese vergnügte Zeit
miterlebt und daher mag sich wohl seine nun so
offenbar hervorgetretene Annäherung an die
Neu-Italiener zum guten Teile schreiben.
Die Handlung der neuen Oper ist bei Gelegen-
heit der Koburger Konkurrenz zwar in allen
Zeitungen erzählt worden, aber auf die Gefahr
hin, einem oder dem anderen der Leser etwas be-
reits Bekanntes zum zweiten Male vorzusetzen,
wollen wir sie doch kurz skizzieren. Pedro, ein
Portugiese, dessen Beruf es zu sein scheint, Mäd-
chen zu verführen und solche umzubringen, die
ihm — derselben Beschäftigung nachgehend —
in die Quere kommen, hat eben seine Frau Dolo-
res verlassen, um in einem anderen Städtchen
(Pontevedra in Spanien) ein anderes Mädchen
(Rosita) zu ergattern. Einer in gar zu gewöhn-
licher Weise dargebrachten Serenade leistet die
junge Schöne noch Widerstand; als aber der
heissblütige Liebhaber einen neben dem Hause
befindlichen Baum besteigt und, einen starken
Ast benützend, über den Balkon in ihr Schlafge-
raach dringt, . . . fällt rasch der Vorhang, eine
Nuance, die, seit sie Wagner im ersten Akte der
„Walküre" zu so ungeheurer Popularität brachte,
überall eindringlichstem Verständnisse begegnet.
Der Theaterpraktikus weiss aufs bestimmteste,
dass in dem, dem raschen Fallen des Vorhanges
folgenden Akte von zerstörter Mädchen- oder
Frauenehre die Rede ist. So auch bei Forster.
Als sich nach kurzem, verhältnismässig wenig
feurigem Zwischenspiel der Vorhang wieder,
etwas verschlafen, hebt, beginnen — nach den
notwendigsten Volksfesten, Glockenchören u. s. w.
— die Fluchtvorbereitungen der Liebenden, die
um so dringender erscheinen, als Rositas früherer
Verehrer, Jose, in Pedro einen berüchtigten
Abenteurer erkennt. Die Mutter Rositas g^esst
durch ihre Weigerung, den Bund ihrer Tochter
mit Pedro zu segnen, Oel ins Feuer, und die Fata-
litäten erreichen mit dem energischen Da-
zwischentreten Dolores' ihren Höhepunkt. Die
Unglückliche, die, den Spuren Pedros folgend, an
den „Ort der Handlung** gelangte, deklariert sich
als Gattin des Verführers, Rosita gibt mit einem
kräftigen Messerstiche dem Räuber ihrer Ehre
den Laufpass ins Jenseits. Eigentlich ist weder
diese „Rose von Pontevedra" noch irgend eine
dieser Messer-Opern künstlerisch zu Ende ge-
führt. Ein Dolchstoss ist allerdings ein Ab-
schluss, sogar ein recht effektvoller Ab-
schluss, aber kein Ende. Nichts natürlicher, als
dass nachdenkliche Köpfe sich verpflichtet füh-
Icn, den Konsequenzen solcher überrascher
Lösungen nachzugehen. Vor uns liegt die Frucht
solchen Nachdenkens in einem kürzlich erschie-
nenen Opernbuche ,,Santuzza", das ein deutscher
Schriftsteller als Fortsetzung der „Cavalleria
rusticana" verfertigte. Santuzza ist nach Tur-
riddus kläglichem Ende verrückt gewor4en, was
sie aber nicht verhinderte, einem hübschen Kna-
ben^ Massimo, das Leben zu geben, den wir in
dem neuen Stücke bereits als kräftigen Jüngling
erblicken. Das Opernverhängnis will, dass Frau
Lola ein Mädchen, Anita, gebar, und sich Mas-
simo gerade in dieses Mädchen verliebt, . . . also
— bei den verzwickten Familienverhältnissen der
Beteiligten — in seine leibliche Schwester. Die
armen Kinder erfahren den Zusammenhang, Alfio
bekommt durch das Geständnis seiner treulosen
Frau die Gewissheit, dass ihn Turriddu damals
gründlich hintergangen, Massimo sieht aber in
demjenigen, den er bisher für Anitas Vater ge-
halten, den Mörder seines Vaters und will die
That Alfios rächen. Seine Mutter Santuzza
kommt ihm zuvor und ersticht Alfio. Massimo
geht in die Fremde, ... die Lösungen dieser
Opern sind also einer späteren Generation aufge-
spart. . . . Hoffen wir, dass Dolores und Rosita
zwei Buben oder zwei Mädchen zur Welt brin-
gen, sonst ist auch in dieser Nachkommenschaft
irgend eine peinliche Verwicklung unvermeidlich !
Nun wieder zu Forster zurück ! Seiner Musik
ist Talent, vortrefflicher Satz, Geschick, Theater-
kenntnis und brillante Instrumentierung nachzu-
rühmen. Die Melodie aber, die Seele dieser, wie
140 t:^t::?^"t5^'b^'^:^b^^:^'b:^'b^'b?^'b:^"b3^"b5^'b5^
jeder Musik, hat mit Forsters Seele zu wenig ge-
mein, um innerlich, gemütlich zu ergreifen. Er
redet immer in fremden Zungen und schreibt
stets eine Musik, nicht wie e r sie empfindet, son-
dern wie etwa Mascagni oder Leoncavallo sie em-
pfänden. Darin liegt der Zwiespalt, zugleich auch
die Qu^Ie des Misserfolges vor den Wissenden,
des Erfolges bei den — anderen. So ruht das
Schwergewicht auf der Bühnenwirkung, dem
applausziehenden Gehaben der auftretenden Thea-
terfiguren. Die geplante äusserliche Wirkung
stellt sich auch ziemlich ein, ein tieferes Inter-
esse wird nirgends erregt. Man merkt die Ab-
sicht und wird verstimmt! Am besten gefielen
uns die warm empfundene Einleitung, ein Quin-
tett im ersten Akte (stark an das Quintett aus
den „Meistersingern" erinnernd) und die Musik
zu einem stillen Gebete Rositas. Dem grossen
Publikum behagten die groben Schlusseffekte
ganz besonders: ein Duett mit dem Fluch der
Mutter, der Aufschrei der verlassenen Frau, das
halb wahnsinnige Gekreische der nach dem
Dolche langenden Rosita und — der tötliche
Stoss. ... Es ist noch recht weit bis dahin, da —
wie unser feinsinniger Dramaturg Baron Berger
einmal voraussagte — derjenige gewonnenes
Spiel haben wird, der mit der „blauen Blume"
auf den Plan tritt. . . .
^
„Lohengrin" in Bayreuth.
„Mit meinem Willen geschieht's nicht," sagte
einmal Liszt, als man ihm von der Theaterauf-
führting seiner „Heiligen Elisabeth" sprach. Ich
meine, wenn Richard Wagner noch am Leben
wäre, er hätte sich über die Zulässigkeit der
Uebertragung seiner Opern „Tannhäuser" und
„Lohengrin" nach Bayreuth wahrscheinlich von
vornherein in ähnlicher Weise geäussert, ganz
gewiss aber nach der vor etlichen Jahren hier
versuchten Inscenierung des „Tannhäuser". Ein
Mann von der tiefen Theaterkenntnis Wagners
hätte nicht übersehen können, dass sich gerade
die unter künstlerischen Ausnahmsgesetzen arbei-
tende Bayreuther Bühne diesen älteren Werken
gegenüber in einem ungünstigeren Verhältnisse
befindet, als jedes beliebige Hof- oder grössere
Stadttheater. So wie „Parsifal" — nach Art ge-
wisser Heiligenbilder, die an einem bestimmten
Altare einer bestimmten Kirche eine so gewaltige
Wirkung machen, weil sie vom Meister gerade
den räumlichen und optischen Bedingungen die-
ses bestimmten Platzes entsprechend geschaffen
wurden — so wie also „Parsifal" gerade im Fest-
spielhause in Bayreuth seinen grössten, wohl nie
von einer anderen Bühne zu erreichenden Ein-
142 't5^"t5^Ti3^Ti:^'b;^'t:?^"t:^Ti5^Xi?^"b^"t:^T^5^'t;'^"b^
druck macht, so werden jene älteren Opern hier
immer in manchem Sinne versagen müssen, da
sie für ein Theater dieser Art nicht geschaffen
wurden, da die den Nibelungen-Dramen und
„Parsifal" zu gute kommenden Specialitäten die-
ser einzigen Bühne, wichtigen Partien des „Tann-
häuser" und „Lohengrin" direkt Schaden zu-
fügen. Das verdeckte Orchester ist es, was weite-
ren Unternehmungen auf dem, neuerer Zeit von
Frau Cosima Wagner beschrittenen Wege ein —
gar nicht verdecktes oder gedämpftes — Halt zu-
rufen müsste. Nicht etwa, dass es sich nicht an
vielen, vielen Stellen vollkommen bewährte; er-
möglicht CS ja doch den Sängern, eine leichtere
Tongebung und damit ein beschwingteres Tempo
anzuwenden, den Text zweifellos verständlich
auszusprechen, ohne je übertreiben zu müssen.
Aber einige grosse, entscheidende Stücke haben
sich eine Spaltung ihrer Gesamtfarbe gefallen
lassen müssen, die den alten, wohlbewährten
Effekt nicht zur Erscheinung kommen Hess. So
in dem kurzen Duett, das Elsa und Ortrud im
zweiten Akte singen, ehe sie den Palast betreten.
Eine herrliche, vom wohlig schwelgenden Or-
chester getragene Streichermelodie zieht wunder-
selig einher und umschlingt auf unseren Theatern
die beiden, anfangs nicht zu bedeutenden Sing-
stimmen ; erst im weiteren Verlaufe, mit entschei-
denden Phrasen gewinnt Elsa den Anschluss an
die Cantilene und damit wieder das melodische
Oberwasser. Hier, in Bayreuth, klangen die bei-
den, von allen Zaubern des Orchesters verlasse-
nen Singstimmen wie verlaufen, wie verloren ins
Haus und aus dem „mystischen Abgrunde" tonte,
wie aus weiter Ferne, jene Melodie, die nie so be-
rühmt geworden wäre, wenn man sie nur hier
gehört hätte. — Eine zweite, entscheidende Par-
tie, wo die Ehescheidung zwischen Sängern und
Instrumentalisten Schaden brachte, war der
„Brautzug" im zweiten Akte. Da hat Wagner
den Chorsatz direkt mit der Absicht geschrieben,
dass er sich mit dem Orchester völlig verschmelze
und mit diesem zusammen einen Klangkörper
ausmache. Die Chorstimmen haben, wie
irgendwelche Fagott- oder Klarinettstimmen,
ins Ganze sich einzufügen, um den Ge-
samtklang zu runden, nicht aber — wie
es jetzt hier geschieht — selbständige Rol-
len zu spielen, welche ihnen der Meister nie
und nimmer vorgezeichnet. Der sonst von Wohl-
laut überströmende „Brautzug" klang denn auch
hier stellenweise geradezu schlecht. Der gewöhn-
lich einheitlich daherflutende Tonstrom war in
zwei getrennt fliessende Bäche gespalten, von
denen jeder der Hauptfluss sein wollte und kei-
ner es sein konnte. Wenn ein Maler irgendwo
sein Violett hingesetzt, darf keiner kommen und
es in Rot und Blau zerlegen. Wenn ein Bildner
die einer Nische zugewandte Rückseite einer
Statue nicht ausführte, sondern roh Hess, so darf
man nicht hinterher ein Drehgestell für diese
Figur anschaffen. Von den Instrumental-
stücken wurde das strahlende Vorspiel zum
dritten Akte am meisten durch das gedeckte Or-
chester tangiert. Es klang — wie bei der starken
Besetzung nicht anders möglich — stark, rau-
144 Ti5?^'tr^"t5^Ti5^T^:?^'b^'b5^Ti5?^Ti5'^'t5^Ti?^'^^
sehend und gewaltig. Aber der helle Jubel der
auf seh wirrenden Geigen, das Drohnen der Blech-
bläser, das Tuscheln der Cinellen hatte etwas vor-
nehm Gedämpftes. Der letzte Glanz fehlte. Höre
ich das Stück im Wiener Opernhause, so nehme
ich gleichsam Teil an dem „prächtigen Rauschen
des Hochzeitsmarsches". Hier schaue ich durch
gemalte Glasfenster in den Saal, sehe und höre
vieles, aber nicht alles.
Konnte man bei der Bayreuther Darstellung
des „Lohengrin" nun nicht übersehen, dass das
rein musikalische hie und da Schaden genom-
men, so musste man dem scenischen gegenüber
oftmals alle kritischen Segel einziehen. Ist man
auch nicht durchweg mit allem einverstanden, und
ist einiges leicht anfechtbar, so muss man doch
einräumen, dass alles so reif überdacht, mit sol-
chem tiefen Kunstverständnis angepackt wurde,
dass es nicht nur genug des Anregenden, sondern
des Bewunderungswürdigen bietet.
Man hatte sich hier, als man daran ging, den
„Lohengrin" zu inscenieren, von vornherein auf
den streng historischen Standpunkt gestellt und
durch die Vorschrift Wagners „die Handlung
spiele in Antwerpen: erste Hälfte des X. Jahr-
hunderts" einen sicheren, wenn auch theaterunge-
wohnten Boden gewonnen. Der übliche „Lohen-
grin" spielt mehr in den Trachten aus der Zeit
der Kreuzfahrer und die brabantischen und säch-
sischen Edlen sind als lauter reiche Leute ge-
dacht, die sich den Luxus eleganter Rüstungen
u. dergl. leisten können. Wenn hier der Vor-
hang sich teilt, erblickt man eine wesentlich ein-
f acher kostümierte Schar, die zu Füssen König
Heinrichs, in der tief nach rückwärts verlaufenden
„Aue am Ufer der Scheide" sich aufgestellt. Da
umgeben keine blitzenden Rüstungen die Leiber
der Männer, sondern die meisten sind mit Waf-
fenröcken aus Stoff, Kollern aus Leder u. dergl.
bekleidet, statt prunkender Helme tragen sie
Sturmhauben, auch eine Art phrygischer Mützen
aus Eisen, einzelne, offenbar „altmodisch" Ge-
kleidete, haben Helme mit Tierhörnern, in den
Händen halten sie die kurzen, breiten „Sachsen-
schwerter". In diesen, sowie in manchen Klei-
dungsstücken sind römische Nachklänge nicht
zu übersehen. Im letzten Hintergründe sind Edel-
bauern. Hörige und Trossknechte in härenen Ge-
wändern zu bemerken. König Heinrich selbst ist
pruhklos gekleidet, sein roter Bart ist lang und
schmal — man muss unwillkürlich an Barbarossa
denken — er sitzt auf einer romanisch gezierten,
einfachen Steinbank, an deren vier Ecken
Schwerter und Dolche senkrecht in die Erde ge-
stossen sind, ein deutliches „Bis hieher und nicht
weiter". Dass es altersgeweihter Boden ist, auf
dem der König Gericht hält, zeigt der Runenstein
hinter der Bank und die sich darüber ausbrei-
tende „Gerichtseiche". Diese Eiche ist nun eines
von den schwachen Inventarstücken der Bayreu-
ther Bühne. Sie ist, altem Theaterbrauche fol-
gend, wenn auch überaus schön, doch nur auf
flache Leinwand gemalt. Die Folge davon ist,
dass die um die Eiche Gruppierten oder dort Spie-
lenden die räumliche Ausdehnung derselben nicht
respektieren und, statt vor oder hinter der
Im Foyer. 10
146 \:^^^::^'\::^i^::^\:^^^:^^^i:^^i^::^'^::^'>^^
Eiche, in ihr stehen und agieren. Ein plastisch
ausgeführter Stamm mit deutlich in die Erde ver-
laufenden Wurzeln würde mit einem Schlage
diesen Fehler beheben und auch Ortrud im letz-
ten Akte vor der Unmöglichkeit bewahren, dass
sie bei Lohengrins Abfahrt geradezu mitten aus
der Eiche heraus auf die Bühne tritt. Das ist zu-
viel der Zauberei.
Das übrige Bild ist ungefähr so aufgestellt,
wie sonst üblich. Es fällt nur die einfachere
Tracht Telramunds und der Umstand auf, dass
Ortrud blond ist und ihr Haar in sehr origi-
neller (wohl friesischer) Weise zu einer kronen-
artigen Form zusammengefasst hat. Im Verkehr
des Königs mit den Edlen herrscht — man
merkt es schon bei der ersten Ansprache — ein
mehr patriarchalischer Ton, der die Empfindung,
Heinrich sei der erwählte König der Deut-
schen, das geliebte Haupt einer Völkerfami-
lie, stets wach erhält. Das Auftreten Elsas
ist leider ebenso, wie auf den übrigen
deutschen Bühnen. Nach Heinrichs Wor-
ten: „Ruft die Beklagte her", ist es nicht
deutlich genug gezeigt, wie etliche Männer
abgehen, um Elsa zu holen, auch tritt der von
Wagner vorgeschriebene „lange Z^g ihrer
Frauen" gar zu militärisch in Reihen zu vieren
auf. Eine freiere, willkürlichere Auftrittsord-
nung würde der Natürlichkeit besser Rechnung
tragen und der Bild Wirkung sehr zu statten kom-
men. Vortrefflich war das Spiel Elsas festgestellt
worden. Sie wurde nicht als mondsüchtige, fade
Jungfrau, sondern als — gegebenenfalls — heftig
empfindendes Weib äufgefasst, und schon in ihrer
ersten Seene — als sie bei Heinrichs Frage : „Ist
die Klage dir bekannt, die schwer hier wider dich
erhoben ?" nach einem Blick auf Telramund h e f-
t i g erbebte — wusste man, dass hier kein Opfer-
lamm, sondern eine, wenn auch nur mit weib-
licher Tugend und weiblichem Liebreiz bewehrte
Streiterin auf den Plan trat. Diese rasche Be-
wegung, der im Verlaufe des Stückes noch viele
ähnliche folgten, zeigte von innerlicher — nur
momentan von der Grösse der drohenden Gefahr
zurückgedrängter — Festigkeit, die der ganzen
Gestalt mehr Halt und Kern verlieh, als bisher
in diesem Punkte üblich. — Zu dem Gebet der
Frauen eilten diese rasch in den Vordergrund,
wie um ihrer Herrin beizustehen in ihrer Not.
Ein feiner Zug, der die Anteilnahme des Frauen-
chores besser motiviert. Als nun der ganz ein-
fache hölzerne Kahn mit Lohengrin erscheint
und alles dem Hintergrunde zudrängt, bleibt Elsa
fast ganz allein in malerischer Pose, in tiefer Be-
geisterung im Vordergrunde knien — es ist, als
wäre es ihr vergönnt, mit geistigem Auge den Er-
wählten ihrer Seele zu sehen, den alle anderen
nur mit den leiblichen Augen aufzufassen ver-
mögen. Endlich wendet auch sie sich nach dem
Helden, bleibt aber wie in tiefer Befriedigung
nahe dem König stehen; kaum ein paar Schritte
nähert sie sich dem Ersehnten. Sie, die so lange
geharrt, harrt nun leicht diese kurze Weile.
Lohengrin hat sein Lied an den Schwan, fast ehr-
furchtsvoll gegen diesen gebeugt, gesungen. Er
ist in silberner Kettengliederrüstung und hat den
10^
148 "t^"t:^"t?o^::^'t^'t:^'t:?^"b;^'t;:^"t:^"t^'t5^"b^"t:^
bisherigen Gk)ldfisch-Charakter unserer Lohen-
grine völlig abgestreift. Nur sein Helm glänzt,
alles andere ist fast matt. Als er vorschreitet,
geht er mit fest prüfendem Blicke die Reihen
der Krieger entlang, einen Augenblick misst er
Telramund, dann tritt er vor den König. Alles
einfach und feierlich, ohne jeglichen Tenoristen-
schwung. Zu Elsa redet er weich und freund-
lich; man fühlt es deutlich, derselbe, der als Rit-
ter zu den Rittern kam, kommt zu dem Weibe als
liebender Mann. Die Worte Elsas : „Dir geV ich
alles, was ich bin" wurden von dieser in rühren-
dem Decrescendo gesungen. Die Vielgeprüfte
sank unter der Last ihres eigenen Glückes fast
in sich zusammen und sagt' es leise dem Ge-
liebten, dass sie ihm alles gebe, was sie zu
geben hat. Das war schön und echt weiblich.
Das Gewaltigste, was die Frau in ihrem ganzen
Leben sagt, sagt sie ja doch nur mit einem Blicke,
einem Kusse, mit einem, kaum dem Einzigen ver-
nehmlichen Worte. . . .
Ehe nun Lohengrin verkündigt: „Frei aller
Schuld ist Elsa von Brabant !" g e 1 e i t e t (nach
Wagners Vorschrift) Lohengrin Elsa
zum Könige und übergibt sie seiner
Huld. Diese Bemerkung hat Frau Wagner ver-
leitet, einen bedenklichen Fehler zu begehen, in-
dem sie Elsa neben König Heinrich auf der Stein-
bank Platz nehmen lässt. Dass sieht sehr lieblich
aus, verstösst aber gegen den Begriff des Grerichts,
ist offene Parteinahme, die selbst mit der grossen
Verehrung, die die Frau im deutschen Altertum
und Mittelalter genoss, nicht zu rechtfertigen ist.
Der Kampf der beiden Ritter wurde hier nun
im raschesten Tempo ausgeführt; bald ist Telra-
mund niedergestreckt, er fällt nach vorne auf
beide. Knie und legt sich, wie ein Fechter, der
den Todesstoss erwartet, seinem Ueberwältiger
zurecht. — Während des nun folgenden jubeln-
den Ensembles, das sich — wie alle Chorpartien
— durch reiches, warmes Leben auszeichnete,
umkreisten einmal die Ritter paarweise und in
gleichem Schritte die beglückten Lieben-
den. Der Gleichschritt — eine vom „alten Des-
sauer" zuerst angewandte, durchaus moderne
Erfindung — stört da ungemein ! Es kommt etwas
so neuartig Soldatisches in dieses Ritterwesen,
dessen äussere Formen gewiss durchwegs von alt-
deutschen und römischen Bräuchen beeinflusst
waren. Und diese wussten sicherlich nichts vom
gleichen Schritte.
Ein sehr schöner Effekt schliesst den ersten
Akt. Als Lohengrin und Elsa „auf des Königs
Schild" weggetragen werden, schwingen junge
Krieger im Hintergrunde rasch herbeigeschaffte
Bäume und Zweige. Ein überaus festlicher An-
blick. Schade, dass man sieht, wie diese grünen
Reiser aus der Coulisse geholt werden. Man
müsste sie auf der Bühne abbrechen sehen.
Auch hat es befremdet, dass der Zug, der sich
zum Abgehen anschickte, plötzlich stockte und
nach alter Theatermanier etwas „Tableau ge-
macht" wurde.
Der Erfolg dieses ersten Aktes war ein voller.
Enthusiastischer Applaus durchbrauste den wei-
ten Saal, und nachdem sich das Theater geleert,
150 '^^!^X::^'^^::^'^::^^t:::^i:::?r>l::^^
nachdem alles im Sonnenscheine auf der Platt-
form des Festspielhügels durcheinanderwogte,
machte sich die Bewunderung des vielen Schö-
nen, das man miterlebt, in fast stürmischer Weise
Luft. Es gab ein Debattieren, an dem jeder und
jede teilnahm. „Lohengrin" ist heute die po-
pulärste Oper, und von dieser versteht ja wirk-
lich fast jedermann etwas.
Das dekorative Bild des zweiten Aktes ist der
allgemeinen Anordnung nach etwa wie in Wien,
wie überall, die Architektur aber aufs raffi-
nierteste im frühromanischen Stile durchgebildet,
jedes Kapital, jedes Erkerchen, jede in die Mauer
eingelassene Steintafel passt zum Ganzen, ver-
vollständigt die malerische Wirkung. Sehr vor-
teilhaft ist es, dass der ganzen Frauenwohnung
(Kemnate) entlang — also links — ein zum Teile
gedeckter Gang, eine Galerie ausgeführt ist ; diese
gestattet Elsa während der Soloscene eine freiere
Bewegung als die bei vielen Bühnen üblichen
Balkons.
Das Duett zwischen Ortrud und Telramund
bot ausser schärfster Hervorhebung deklamato-
rischer und schauspielerischer Ac.cente nichts
neues. Nur am Schlüsse, als die beiden in Ok-
taven ihre Strophe singen : „Der Rache Werk sei
nun beschworen" fiel eine eigentümliche Nuance
auf : beide sassen auf den Vorstufen des Mün-
sters. Das sieht nicht gut aus und verdient kaum
Nachahmung. Umsomehr kann die Art wie Elsas
Gesang „Euch Lüften" gebracht wurde, als un-
übertreffliches Muster empfohlen werden. Elsa
trat aus einem innen erleuchteten Gemache
auf die Galerie, nur wenig Übergossen von mil-
dem Mondlichte. Ganz leise, frei von jedem Be-
streben, da eine „Arie", ein Solostück singen zu
wollen, haucht sie die liebliche Melodie vor sich
hin — kein lauter Ton beleidigt, entheiligt die
Stille dieser letzten Mädchen-Nacht. . . . Die
Schlussworte „Wollt' Kühlung nun gewähren der
Wang', in Lieb erglüht" versanken in immer
langsameres Tempo, was einen überaus rühren-
den Eindruck hervorbrachte. Die Musik kann ja
nicht, wie die Architektur, mit Raum und Wert
Luxus treiben; das Objekt ihres Luxus ist die
Zeit. Daher die grosse Wirkung eines gutange-
brachten Ritardandos, die Macht 'eines schönen,
vollblütigen Adagios.
In der stummen Scene zwischen Elsa und Or-
trud vor dem Betreten des Palastes wurde unse-
res Dafürhaltens zu dick aufgetragen. Dieses
immerwährende Unter würfigthun Ortruds wirkte
nahezu komisch und hätte auch der naivsten Elsa
als plumpes Spiel auffallen müssen. Das An-
brechen des Tages, das langsam sich steigernde
Leben und Treiben im Burghofe scheint mir in
Wien weit besser zu sein als hier. Es werden da
nur ein paar Krüge beim Brunnen gefüllt, einige
Bündel Heu und Stroh in den Stall getragen
und dann beginnt wieder das eigentliche Stück.
Die „Edlen und Mannen" erledigen ihre Chor-
gesänge unter lebhaften Bewegungen, die aber
an Natürlichkeit, und Einfachheit noch einige
Aufbesserung vertrügen. Namentlich wäre es
wichtig, und sei es auch gegen die Vorschrift
Wagners, den Heerrufer mitten unter die Männer
152 t:^t:^^^'fc:^'b;^'fc:^^^^:^'b:^'t5'5"fc?^^5'^t::»^'b^
herabschreiten zu lassen, denn sobald dieser eines
seiner drei Gesätze von der Treppe des Palas aus
singt, ist der Chor gezwungen, jedesmal sich ihm
zu nach dem Hintergrunde und darnach wieder
gegen das Publikum zu wenden. Sehr effektvoll
war die Chorstrophe „Treu sind wir unterthan
dem Schützer von Brabant" arrangiert. Laut
jubeln es die Ritter, die Hände wie zum Schwur
emporstreckend, zum ersten Stockwerke der Burg
hinauf. Uns hat nur befremdet, dass das nach
links hin, also gegen die Frauenwohnung zu, ge-
schah, während Lohengrin doch im Hintergrund-
trakte wohnend angenommen werden muss. Da
musste wohl die Korrektheit vor dem praktischen
Bedürfnisse weichen. Man konnte diesen begei-
sterten Anruf nicht wieder in den Hintergrund
singen lassen, ohne ihn aller Wirkung zu berau-
ben. Ein nochmaliger — wieder paarweiser,
gleichschrittiger — Umzug der „Mannen" er-
innerte zu sehr an ähnliche studentische Unter-
nehmungen, an die man um so mehr denken
musste, als die meisten der Chorsänger niedere
farbige Kappen als Kopfbedeckung trugen. Der
Brautzug, den wir in musikalischer Richtung be-
reits besprochen, brachte eine Anzahl wundervoll
schöner Kostüme, hat aber durch das gar zu lang-
same Tempo des Einherschreitens im ganzen
einen starren Eindruck gemacht. Es ward fast
wohlthätig empfunden, als Ortrud mit ihren
scharfen höhnischen Worten die kalte Grandezza
ins Wanken brachte. Noch lebendiger wurde das
Bild, als Telramimd aus dem Münster trat, die
Frauen — Elsa ausgenommen — in den Hinter-
gnind flohen, und der Geächtete mit stürmischem
Wort und wilder Geberde, gleich einem Volksred-
ner, für seine verlorene Sache zu streiten wagte.
Loheng^in steht während dessen mit zum Him-
mel gewandten Augen und schlaff herabhängen-
den Armen regungslos im Vordergrunde. Er
scheint den Hagel von Schmähungen im Anden-
ken an jenen einen, der die Leiden einer ganzen
Welt getragen, nicht hören zu wollen, jedenfalls
aber zu verachten. Glaubt er sich doch Elsas
Herzen völlig sicher . . . Mit engelgleicher
Milde — in ihm kreist das Blut seines Vaters
Parsifal — verweist er Elsa den Verkehr mit den
zwei Verworfenen, er richtet die schon Un^gamte
liebevoll auf — mit umflortem Blicke schreitet
er neben seiner Braut und dem Könige in das
Münster. Dass sich knapp vor diesem Schlüsse
der Zug förmlich nochmal von der Tiefe der
Bühne her entwickelte, erschien uns — als Wie-
derholung — nicht gerade vorteilhaft.
Das Brautgemach des dritten Aktes ist von
feinstem Geschmacke. Im ganzen romanisch,
mit vielen byzantinischen Heiligenmosaiken ge-
schmückt, von einer, auf einem riesigen antiki-
sierenden Leuchter aufgesteckten Kerze matt er-
hellt. Das Brautlied — wundervoll intoniert
und nuanciert — erklingt. Der Zug tritt auf.
Alles wie sonst. Nur die eigentümliche, von
acht Frauen gesungene Stelle „Wie Gott Euch
selig weihte" wird ganz ungewöhnlich und über-
aus schön gebracht. Die Frauen schreiten mit er-
hobener rechter Hand um das Brautpaar und sin-
gen und raunen ihren Spruch in geheimnisvoller
154 "ti^"b5^"t5>5T^:^'t?^'t:^Tb^t5^"ti5'^'tr^"t^'t?^"b5^^:^
Weise. Es klang wie aus heidnischer Vorzeit
herüber ... Im Liebesduette zeigte sich — sehr
sinngemäss — Lohengrin schon weit früher, als
es die meisten Darsteller zu markieren für gut
finden, von trüben Ahnungen erfüllt . . . Endlich
bricht das Verhängnis herein, neben der Leiche
des erschlagenen Telramund fällt halb entseelt
die ärmste Frau zu Boden — eine lange, lange
Pause und Lohengrin spricht, allein aufrecht
stehend, die Worte : „Weh* ! Nun ist all' unser
Glück dahin."
Dieses lange, bange Schweigen, dieser einzige
Ausdruck wortlosen, tiefsten Schmerzes ist von
erschütternder Wirkung.
Nach der Verwandlung zeigt sich dieselbe
Dekoration, wie im ersten Akte, alles aber in
glühendes Morgenlicht getaucht. Eine Meister-
leistung der theatralischen Mal- und Beleuch-
tungstechnik. — Des Königs Steinbank ist dies-
mal von einem Baldachin überdeckt. Warum?
— Die Eiche gab während des mittägigen Gottes-
gerichtes im ersten Akte Schatten genug, sie
müsste am frühen Morgen auch hinreichend Küh-
lung schaffen. — Der Aufzug der „Fähnlein" des
brabantischen Heerbannes ist lebhaft arrangiert,
würde aber noch gewinnen, wenn die Heerhorn-
bläser auf der Bühne erschienen. Wenn ein
Edler erscheint, müsste sein musikalischer Adla-
tus mit ihm auftreten. Nun erscheint der Heer-
rufer mit der Königsstandarte, ihm folgen eine
ganze Schar von Reisigen mit kleinen Fähnlein
und umgeben des Königs Sitz, den Hintergrund
füllt der sächsische Heerbann. Statt un Fahnen,
schart sich dieser um plastische, polychromierte
Bildwerke* Lindwürmer, ungeheuerliche Vögel,
gewaltige Adlerflügel u. s. w., die auf langen
Stangen getragen werden. Tiefen Eindruck
machte in den nun folgenden Scenen die Haltung
der kaum je ganz aus der Ohnmacht sich aufrich-
tenden Elsa. Ein Bild tiefster Zerknirschung
und Reue. Nur einmal rafft sie sich auf und
fleht den scheidenden Gatten auf den Knien an,
zu bleiben — die Scene fällt leider meistens weg
— da erscheint ein letztes Mal ihre Verderberin —
deren Hohn den Gralsritter antreibt, den jungen
Gottfried von Brabant zu entzaubern und seiner
Schwester zuzuführen. Auf unseren Bühnen läuft
dieser Gottfried meist ganz familiär und etwas
kokett auf Elsa zu. Hier that man das Gegen-
teil. Der Knabe musste schnurgerade aus einer
Pagenschule oder dergleichen kommen, denn er
schritt höfisch-stramm auf den König zu, machte
seine Verbeugung, dann grüsste er die Edlen tief
und gründlich, endlich ging er Elsa entgegen. . .
Das ist steif, zu sehr stilisiert und vor allem
menschlich undenkbar. Gewiss, dem König ge-
bührt der erste Gruss ! Aber dann mit Windes-
eile in die Arme der Schwester !
„Lohengrin" wurde in Bayreuth ohne
„Striche" aufgeführt. Die Wirkung wurde durch
diesen Umstand (mit wenigen Ausnahmen) kaum
gefördert, wenn auch die Verständlichkeit ein-
zelner Partien, so z. B. der Vorgänge im letzten
Finale, nicht unbedeutend gewann. Die böse, viel-
verlästerte Theaterpraxis hat aber doch — wie
man jetzt ganz gut sehen kann — fast nur L ä n -
156 t^"t^t^t:^"t^^:^"t:^t^t^t^t^"t:^t^5t:^
gen entfernt und so dem Gesamteindruck ge-
nützt. Am wenigsten wurde seit jeher im ersten
Akte gestrichen, am meisten im dritten. Daher
kam der erste Akt auch hier zur besten Geltung,
der dritte zu weit schwächerer. Die Handlung
soll gegen Schluss eher schneller fortschreiten.
Hier wird sie durch die umständlichen Ausein-
andersetzungen auf der Bühne zu sehr aufgehal-
ten und verliert die nötige Straffheit. Trotz der
„aufgemachten" Striche war die Länge der Akte
keine unmässige. Der erste Akt dauerte eine
Stunde und 11 Minuten, der zweite eine Stunde
und 26 Minuten, der dritte eine Stunde und 10
Minuten, Zahlen, die nur durch sehr beflügelte
Tempi — Mottl dirigierte die Vorstellung —
erreicht werden konnten. Wir wüssten bei offe-
ner Scene auch nicht ein einziges Tempo, das wir
irgendwie anders wünschen könnten. Nur mit
dem Vorspiel konnten wir uns absolut nicht be-
freunden. Dieses Stück dauerte hier volle 13
Minuten, fast nochmal so lang, als etwa in Wien,
wo doch auch ein Wagner-Kenner — Hans Rich-
ter — am Pult sitzt. Hier mussten wir von einem
Melodieton zum nächsten gleichsam mit dem
Fernrohr gucken; man verlor die Uebersicht und
damit den besten Teil des Genusses.
Nachdem wir im bisherigen das principielle
der hiesigen „Lohengrin"- Aufführung bespro-
chen, müssen wir noch berichten, inwieweit das
Gewollte in die Wirklichkeit übersetzt wurde, in-
wieferne die Sänger im stände waren, im Typus
aufzugehen. Durchweg war das Bestreben, dra-
matisch nicht aus der Schule zu schwätzen, deut-
lieh bemerkbar. Es wurde von den Darstellern
nie der Handlung vorgegriffen, man konnte es an
tausend Details sehen, dass die Ausführenden
das weiter folgende der Handlung selbst als
etwas durchaus Neues zum ersten Male erfahren
mussten. Das drückte dem Ganzen den Stempel
der Natürlichkeit auf. Nur ein Beispiel, das mir
eben einfällt. Als Elsa im zweiten Akt plötzlich
in stiller Nacht ihren Namen rufen hört, sieht sie
nicht sogleich auf den ihr aus den Proben wohl-
bekannten Platz, wo Ortrud sitzt, sie späht- mit
forschendem Auge durch den weiten Burghof
und erst bei der zweiten Anrufung schält sich ihr
aus dem Öüster die Gestalt der auf der Erde
kauernden Ortrud los. Solcher Züge Hessen sich
tmzählige anführen. Sie alle zusammen erst geben
ein Ganzes und gewährleisten dessen möglichste
Lebenswahrheit.
Von den Darstellern ist nur einer ganz auf
der Höhe seiner Aufgabe gestanden: unser
Grengg, der mit seinem König Heinrich ein
herrliches Bild germanischer Kraft und Ritter-
lichkeit bot. Ihm zunächst ist Fräulein Nor-
d i c a , eine tüchtige amerikanische Sängerin,
zu nennen, die der Elsa so weit gerecht wurde,
als es eine äusserst intelligente, gesanglich
sehr versierte, dabei aber etwas kühle Künstlerin
mit allerbestem Willen imstande ist. Einzelnes,
so das Lied an die Lüfte, war unvergleichlich
schön, dem Ganzen fehlte aber der Reiz, der Zau-
ber der Persönlichkeit.
Als Lohengrin sprang für den erkrankten
van Dyck Herr Gerhäuser ein, ein noch sehr
158 't^»"t^'t3'9'b?^"b^Ti::^'t?^'b:^"t5^'b^'b3^'b:^"b?^X5^
junger Sänger von allerbesten Anlagen, aber
nicht hinreichender Ausdauer und unzulänglicher
gesanglicher Fertigkeit. Am besten, was er gab,
erkannte man das, was er hier gelernt. Er hat
aber auch viel Gutes und Seltenes mitgebracht ; hüb-
sche Stimme, edle Erscheinung und — Poesie. —
Die Ortrud Fräulein Bremas (Engländerin)
war in mancher Einzelheit gelungen, fast durch-
wegs aber durch Uebertrcibungen im Spiel bis
an die letzte Grenze des ernsthaft Zulässigen ge-
trieben. Sie ritt den wohlbekannten alten Intri-
ganten-Schimmel. Herr P o p o v i c i aus Prag
(ein Kroate) gab den Telramund sehr wi kungs-
voll als altdeutschen Wildfang, als einen sich in
seiner eigenen blinden Leidenschaft Berauschen-
den. Der Heerrufer des Herrn Bachmann
verdient volles Lob. Die Chöre waren unüber-
trefflich studiert, konnten aber, da von dem
Klange des verdeckten Orchester fast gar nichts
auf der Bühne zu hören ist, nicht korrekt into-
nieren. Es gab daher einige bedenkliche dies-
bezügliche Differenzen und etliche empfindliche
Taktschwankungen. An schwerer zu entschul-
digenden tonlichen Unreinheiten litten auch die
Trompeter auf der Bühne. Das Orchester bot,
bis auf einige kleine Mängel, eine Leistung e sten
Ranges.
Den vielen Vertretern auswärtiger Bühnen,
die hier durch ihre — Abwesenheit glänzten, kön-
nen wir, nachdem wir den Bayreuther „Lohen-
grin" gesehen, nur zurufen: „Prüfet alles und
das beste behaltet."
Juli 1894.
„Im Brunnen."
(Komische Oper in einem Akte von Sab i na. Musik von Wilh.
Blodek. — Erste deutsche Aufführung in Wien, am Theater
a. d. Wien, am 7. September 1894.)
Nachdem wir auf der Musik- Ausstellung
S m e t a n a , den Schöpfer der böhmischen Na-
tionaloper kennen und schätzen gelernt, wurde
uns letzthin im Wiedener Theater Gelegenheit
geboten, das Hauptwerk eines seiner liebenswür-
digsten Nachfolger, W. Blodek, zu hören.
Dieser letztere verhält sich zu Smetana ungefähr
wie Kreutzer zu C. M. v. Weber. Ein freund-
liches, trauliches Licht neben einer Flamme. Blo-
deks Talent hat, so wie jenes C. Kreutzers, die
Eigenschaft, angenehm zu erwärmen, ohne gerade
hinzureissen, zu begeistern. Dabei ist alles, was
dies Talent erzielt, ohne Ueberspannung der eige-
nen Kräfte, ohne alle Grossmannssucht, an-
spruchslos, also mit voller künstlerischer Ehrlich-
keit geschaffen und daher durchaus erquicklich.
Blodek (geboren 1834, gest. 1874) hat sich
den Bahnen Smetanas insoferne angeschlossen,
als er nationale Anklänge eher suchte als ver-
mied; der reicheren Mittel des grossen böhmi-
schen Meisters bedient er sich nirgends. Seine
Oper „Im Brunnen" mit ihren knappen, meist
1 6o t:^t^t^^^t^"fc^t:^t:^t:^'fc^t^t^'b^'fc:?^
sich nur unweit von der Liedform entfernenden
Konstruktionen ist weit eher ein Singspiel als
eine Oper. Nur die Ouvertüre holt weiter aus,
aber nicht zu ihrem Vorteile. Das etwas pedan-
tische „Durchführen" der Motive schmeckt nach
der Orgelschule, überhaupt nach Schulstaub.
Nachdem sich aber der Vorhang hebt, folgt ein
hübsches Stück dem anderen, und der einzige Vor-
wurf, den man diesen Nummern gegenüber er-
heben konnte, ist der, dass sich alle untereinander
zu ähnlich sehen. Immer dieselbe stille Freund-
lichkeit, immer dieselbe rundliche Melodik, die-
selbe, etwas bequeme Rh3rthmik. Nur die lustigen
Gesänge eines von der Liebe nicht gar zu be-
günstigten Bauers heben sich vorteilhaft ab.
Schade, dass Blodek durch seinen frühen Tod
verhindert wurde, die humoristische Seite, gewiss
also die eigentliche Stärke seines Talentes, zu
höherer Reife und Fruchtbarkeit zu bringen.
Der Text zu „Im Brunnen" rührt von Sabina
her, dem Librettisten der „Verkauften Braut".
Wie in jenem Meisterwerke, ist auch hier die
komische Figur die beste, jene des Pechvogels
Peter, eines nahen Verwandten des prächtigen
Heiratsvermittlers Kezal. Er belebt die Hand-
lung und hat auch den Komponisten bei der Ar-
beit auffallend belebt.
Die „Fabel" der Oper ist einfach genug.
Anna, eine Dorfschöne, wird von einem ledigen
Konrad (Tenor) und einem Witwer Peter (Bass-
Buffo) geliebt. Trotzdem die Mutter Annas den
Wunsch hegt, dass das Mädchen den Witwer ehe-
lichen möge, wird jedem älteren Opembesucher
schon aus dem Namen klar, wer die Braut heim-
führt. Wenn ein Konrad und ein Peter einander
gegenüberstehen, kann nur der Konrad siegen.
So auch hier. Anna scheint bei ihrem Herzea
nicht genügende Ausktmft über ihre eige-
nen Wünsche zu erhalten und begiebt sich zum
Zwecke der Klärung der Situation zu einer, im
Gerüche einer verlässlichen Wahrsagerin stehen-
den Alten, Liese genannt. Diese giebt Anna den
Rat, in der Johannisnacht in den ortsüblichen
Zauberbrunnen zu blicken, da werde sie das Bild
ihres „Zukünftigen" sehen. Beide Liebhaber
hören dieses Rezept mit an. Es ist nun natürlich,
dass beide auf die Idee kommen, auf einen Ast
des über dem Zauberbrunnen befindlichen Bau-
mes zu steigen, damit Anna das Spiegelbild des
oben Sitzenden erblicke. Der dicke Witwer ist der
erste oben ; aber er hat einen zu dünnen Ast erwischt
und plumpst ins Wasser. Konrad, der nach ihm
den Baum besteigt, ist vorsichtiger, erlebt aber
das Missgeschick, dass Anna, als sie ihren Blick
in die Tiefe wirft, nicht sein Bild, sondern den
leibhaftigen Peter erblickt, der eben pudelnass
in die Höhe klettert. Nachdem der Aermste noch
von allen herzugekommenen Dorfmädchen gründ-
lich ausgelacht wird, verlässt er den Schauplatz
und Anna bekommt ihren Konrad. Die Stelle
einer Verwicklung nimmt wie in mehreren böh-
mischen Opern ein harmloser Ulk ein, drama-
tische Spannung ist in dem ganzen Textbuche
nirgends vorhanden. Trotzdem unterhält das
Stückchen in bescheidenem Maasse und dürfte nur
in grösseren Schauspielhäusern „fehl am Ort"
ImFoyer. II
sein. Ein g^tes Dilettantentheater wäre der rich-
tige Boden für Blodeks „Im Brunnen". Da
die vier Hauptrollen gerade unter die Stimmen
eines gemischten Quartetts verteilt sind und die
Chöre eine stärkere Besetzung kaum nötig haben,
würde die kleine Oper in Vereinsaufführungen
eher gewinnen als verlieren. Der Prunk-Rahmen
einer modernen Bühne ist zu gross für diese thea-
tralische Filigranarbeit.
^
Iphigenia in Aulis.
(Von Ch.W. Gluck; nach R. Wagners Bearbeitung vom fahre 1847.
Neustudiert undjinsceniert; aufgeführt i in der Wiener Hofoper
am 22. September 1894.)
Glucks „Iphigenie in Aulis", die am 19. April
1774 in Paris unter des Meisters Leitung ihre
Premiere erlebte und als Hauptstreitobjekt im
Kampfe der Piccitiisten und Gluckisten figurierte,
wurde nach langer Pause im Hofoperntheater
neu studiert und insceniert wieder gegeben. Es
war erst die 28. hiesige Aufführung dieses Wer-
kes, das vom 14. Dezember 1808 bis 15. Februar
1869 nur fünfundzwanzigmal, Ende 1874 noch
zweimal im Repertoire erschien. Eine „Zug-
oper" war die aulische „Iphigenie" in Wien also
wohl nie. In Paris, dem eigentlichen Heimats-
boden der späteren Gluckschen Reform-Opern,
war der Erfolg ein gewaltiger, in Berlin strebte
Spontini unablässig darnach, diese Iphigenie, so-
wie die anderen Hauptwerke des „Lessing der
Musik", auf der Bühne lebendig zu erhalten, in
Dresden war späterhin kein geringerer als
Richard Wagner in derselben Absicht thätig.
Auch mit leidlichem Erfolge. Er selbst berichtet,
II*
I 64 t^t^t^t^t5^t:^t5^t?^'t5^t?^t?^t5^t^t:^
dass „Tphigenie in Aulis" in Dresden „den popu-
lärsten, das heisst am wenigsten affektierten
Erfolg unter allen Gluckschen Opern" errungen
habe. Diese mehr als durchsichtige Stelle (aus
Richard Wagners Aufsatz: Glucks Ouvertüre zu
„Iphigenie in Aulis", 1854) giebt zu denken. Lässt
sie doch deutlich erkennen, dass schon vor nahezu
50 Jahren der Erfolg Gluckscher Werke meist ein
affektierter war. Wir modernste Men-
schen können uns also, falls wir uns in einer der
Opern des grossen, alten Meisters hier und da der
Langweile nicht erwehren können, getrost auf
unsere Grossväter berufen, denen es offenbar auch
schon ähnlich ergangen.
Trotzdem ist auch heute noch die Wiederauf-
führung einer Gluckschen Oper Anlass zu viel-
fachen Kontroversen. Die einen schreien "Zeter,
dass man ihnen diese Meisterwerke so hartnäckig
vorenthält, andere gestehen unumwunden, dass
ihnen dieselben keinen oder nur einen geringen
Eindruck machen. Man kann bekanntermassen
in der Seele eines anderen nie mit voller Sicher-
heit lesen, und so muss man sowohl den angeblich
Begeisterten, sowie den Gelangweilten aufs Wort
glauben. Was aber der grösste Herz- und Nie-
renerforscher nicht zu ergründen vermag, das sagt
mit grösster Deutlichkeit die — Kassa des Thea-
ters. Es ist gewiss recht nüchtern, von derglei-
chen zu reden, aber Angebot und Nachfrage ent-
scheiden auch auf dem Gebiete der Kunst, und da
die vor den Augen des Kassiers auflaufende
Einnahmssumme alles verrät, was das Publikum
aus Respektsgründen nicht auszusprechen wagt.
so mag denn hier kurz einmal auch davon die
Rede sein.
Wofür zahlt das Publikum.? Für dasjenige,
was es zu sehen wünscht. Das ist nicht immer
gerade das allerbeste, aber im Grunde genommen
hat den Bestrebungen der besten niemals der
finanzielle Beifall des Publikums gefehlt. Als
„Figaro", „Don Juan" und „Die Zauberflöte" neu
waren, gab es volle Häuser und heute noch, nach
hundert Jahren, „ziehen" diese Opern. Mit
Lortzings lieblichen Komödien wurden Tausende
verdient, Webers „Freischütz" hat bis auf den heu-
tigen Tag seinen materiellen Wert so wenig wie
seinen künstlerischen eingebüsst, Richard Wag-
ners Meisterwerke haben stets gewaltige Sum-
men eingebracht und bringen sie noch heute ein.
Daneben ist freilich auch ein Nessler mit seinem
jämmerlichen „Trompeter" ein reicher Mann ge-
worden, und so manche andere Schleuderarbeit
nährte und nährt ihren Mann. — Das war auch
zu Zeiten Glucks so und wird stets so bleiben. Das
Publikum hat ein Recht auf Abwechslung und
dieses Recht lässt sich nicht immer mit Werken
allerersten Ranges befriedigen.
Warum will nun Gluck gar nicht mehr „zie-
hen", warum findet sich nicht eine genügende
Menge aufrichtiger Verehrer, um jährlich ein
paarmal unser Opernhaus damit zu füllen ? Unse-
res Erachtens, weil die Kunst Glucks im Laufe
der Zeiten so weit überholt worden ist, dass seine
vor hundert Jahren epochemachenden Werke zum
grössten Teile nur mehr ein litterarhistorisches
Interesse bieten.
1 66 t^i'ti^t^^i^t^t^t^t^^t^t^t^^t^^'b^^t^i
Wie hartherzig apostrophierte doch einmal
Platen den Major v. Knebel :
„Was das Säculmn der Gleime
Sich als klassisch auserkor.
Klingt uns fast wie Leberreime,
Lieber, alter Herr Major."
Soll das in der Musik nicht so sein? In der
raschlebigeren Kunst? Soll man sich immer an
den Errungenschaften einer längst hinter uns lie-
genden Zeit begeistern? Als Gluck seine Opern
schrieb, stand er, wie einst Kolumbus, auf bis
dahin unentdecktem Boden, ein Held, ein kuhner
Neuerer. Nach ihm haben aber, gerade auf dem
Gebiete der Oper, Mozart, Weber, Meyerbeer und
Richard Wagner so viel Neues, Gewaltiges ge-
leistet, und zwar mit musikalisch weit wertvolle-
rem Materiale, so dass die Werke Glucks unge-
heuer überboten erscheinen. Ein nicht durch
Verstandesmittel aufgepäppelter Genuss dersel-
ben ist daher kamn mehr denkbar. — r Der beste
Beweis ftir die Richtigkeit dieser Behauptung
ist, wie oben gesagt, das üble Kassa-Ergebnis der
Gluckschen Opern. Kaum eine Direktion ist
imstande, eine derselben mehr als über ein
paar Respektsauf führungen hinaus auf dem Spiel-
plane zu halten. Dasselbe Publikum, das heute
noch den Mozartschen und Weberschen Meister-
werken zujubelt, das — auch da zeigte sich die
Kassa als gutes Barometer — den „Trompeter"
etwa nach Jahresfrist fallen Hess, dieses Publi-
kum sieht sich eine „Iphigenia" oder „Armida**
ein-, zweimal, aber nicht öfter an. Es betrachtet
mit einem gewissen Interesse dies oder jenes Mo-
nument eines überholten Kunststadiums, will aber
dann doch wieder von ernstem oder lustigem
Spiele gepackt werden. Die Zuhörer Glucks hiel-
ten es ebenso; sie Hessen die steiferen Arbeiten
seiner Vorgänger fallen und hörten sich seine
Werke an, weil sie von diesen ergriffen, erschüt-
tert wurden. Wir sollen ebenso ehrlich sein wie
unsere Vorfahren, und uns nicht gegenseitig
weismachen wollen, dass — von etlichen ge-
waltigen Stellen abgesehen — die Opern
Glucks „Blut ziehen", was ja doch Gluck selbst
von der dramatischen Musik forderte.
Und warum sind Glucks Opern veraltet, da
uns doch die viel älteren Werke Seb. Bachs ent-
zücken und begeistern? Es mögen da zwei
Gründe massgebend sein. Erstens hält Glucks
rein musikalische Begabung und Technik keinen
Vergleich mit dem Genie und der beispiellosen
Kunst Bachs aus, zweitens hat die Kunstform der
Oper sich über Gluck hinaus so sehr entwickelt,
dass Gluck heutzutage absolut nicht mehr als
Vollender, als ErfüUer, sondern nur als gewalti-
ger Anbahner, als Führer in einem längst beige-
legten Streite gelten kann, während Bach in einer
ganzen Reihe von Formen das überhaupt Er-
reichbare geleistet hat. Die Schönheit und Innig-
keit seiner Cantilenen, die Romantik seiner Sara-
banden und Fugenpräludien sind weder von
Schubert noch von Chopin übertroffen worden,
Beethoven selbst hat die Grösse der Matthäus-
passion nur mit seiner 9. Symphonie erreicht.
Gluck zog einst gegen das Arienunwesen sei-
l6^ ^^'it:^'^::^:*^:^^^^:»^::^'^:^^:^^^:^^»^::^^
ner Zeit zu Felde; gegen die weit beweglichere
reichere Kunstform aber gehalten, die Mozart
schuf und Wagner noch weiter entwickelte, er-
scheint Gluck selbst im Banne seiner Zeit. Wo
wir rascheren Gang der Handlung wünschen,
stehen seine Figuren ariensingend, duettensingend
vor uns. Das Tempo, in dem sich die Ereig-
nisse vollziehen, ist uns ein zu langsames, es weilt
manches etwas zu lange und — langweilt daher.
Mozart war es, der uns an das rascheste Tempo
in den Bühnenvorgängen gewöhnt hat, und daher
ist er es, der mit seinem ,J)on Juan" und „Figaro"
alle vor ihm dagewesene Opernkimst verdun-
kelte. Er war es, der Glucks Ideal erreichte.
Gluck ist — wenn vielleicht auch noch heute
nicht, so doch in absehbarer Zeit — dem Schick-
sale verfallen, von dem manche andere schöpfe-
rische Geister auf dem Gebiete der Oper ereilt
wurden. Monteverdi und Scarlatti haben fast
ebenso grosse Bedeutung für die Oper, als . er.
Ihre Namen glänzen noch, ihre Opern sind ver-
gessen. In der Musik gibt es, wie in der Liebe,
kein archaistisches Vergnügen.
Es sollte mit all dem bisher gesagten gewiss
nicht einer Unterschätzung der ungeheuren Ver-
dienste Glueks das Wort geredet, oder gar — wie
es oberflächlich Lesenden vielleicht erscheinen
könnte — der Geldsack gegen das Grenie ausge-
spielt werden. Aber wir wagten auszusprechen,
was so viele empfinden, wir zeigten, dass es
nicht „Verbildung und Verwilderung" unseres
Publikums ist, die die Schuld tragen an dem sin-
kenden Interesse an Glucks Werken, wir bewie-
sen, dass es eben gerade der Fortschritt in der
musikdramatischen Kunst ist, der den Schöpfer
dieses Fortschritts langsam, aber stetig von der
jetzigen und noch mehr von den nachfolgenden
Generationen entfernt. Ein Gegenstand ernsten
Studiums für Musikfreunde und besonders für
Komponisten wird Gluck auch wohl in Hinkunft
bilden. Der Sauerteig, der in unsrem Brote seine
Blasen treibt, ist er nicht mehr. Jeder Gebildete
soll wissen, wie diese Sachen ausgesehen haben,
aber kein Meister, kein Dichter unserer Tage
wird an jene Werke anknüpfen.
„Iphigenie in Aulis" wurde wohl nicht ganz
ohne Zusammenhang mit den oben besprochenen
Umständen zu wiederholten Malen Bearbeitungen
unterzogen. Zur Ouvertüre, die Richard Wag-
ner „das vollendetste Instrumental-Tonstück von
Gluck" nennt, haben Mozart und Wagner neue
Schlüsse geschrieben mit der Absicht, diese Num-
mer, die im Original gleich in die Oper überleitet,
für den Konzertsaal zu gewinnen. Die Oper
selbst renovierten Spontini und Richard Wagner,
und zwar hat sich letzterer seinerzeit die alte
Pariser Partitur-Ausgabe verschafft, um, wie er
selbst sagt, nicht „durch einzelne Spontinische
Arrangements" der ihm vorliegenden Berliner
Partitur irregeführt zu werden.
Die Urteile über Wagners Bearbeitung fielen
ziemlich ungleich aus. Ein angesehener Dres-
dener Kritiker äusserte sich nach der am 15. Mai
1847 stattgehabten Aufführung sehr wohlgefällig
darüber und fand nur das Tempo der Ouvertüre
I 7 O t:?^ t:« ^5^ t^ "b^^t^ t^t^ t^t^"^::^ t^ t:^"^:^
unpassend. Robert Schumann schreibt darüber in
sein „Theaterbüchlein": „Richard Wagner hat
die Oper in Scene gesetzt ; Kostümierung und De-
korationen sehr angemessen. Auch an der Musik
hat er hinzugethan; ich glaubt' es hie und da zu
hören. Auch den Schluss „Nach Troja" (am
Schlüsse des dritten Aktes) hinzugemacht. Dies
ist eigentlich unerlaubt. Gluck würde an Richard
Wagners Oper vielleicht den umgekehrten Pro-
zess vornehmen — wegnehmen, herausschneiden.
Was soll ich über die Oper sagen? Wie lange
die Welt steht, solche Musik wird immer wieder
einmal zum Vorschein kommen, wird nie alt!"
Schumann hat gewiss recht, wenn er das Hinzu-
thun für unerlaubt hält. Wagner that es aber
mit feinster Kenntnis der Wirkung und daher
zum besten des Werkes. Ist es doch bezeich-
nend, dass gerade die von Richard Wagner am
kräftigsten retouchierten Stellen bei der neuer-
lichen Aufführung am besten wirkten. Wag-
ner war sehr klug. Er wusste, dass er, wollte er
der Gluck sehen „Iphigenie" einen „unaffek-
tierten" Erfolg sichern, gerade im letzten Akte
kräftig nachhelfen müsse. Und er half kräftig
nach. Gegen Schluss hin wird Wagners Stimme
immer vernehmlicher, jene Glucks immer stiller.
Das ist nun allerdings nicht Glucks, aber doch
ein wirksames Finale und somit giebt sich das
Publikum zufrieden. Genaue Leute werden über
den Frevel schimpfen und sich über die gute
Wirkung freuen. . . .
Zum Schlüsse dieser gewiss von mancher
Seite als ketzerisch verurteilten Zeilen verpflichte
ich mich, mir von demjenigen, dem „Iphigenie in
Aulis" einen grossen, aufrichtigen, unaffektierten
Genuss bereitet hat, die ganze „Messiade" von
Klopstock vorlesen zu lassen. Ich will den be-
treffenden dann genauestens auf die Schönheit
dieses berühmten Gedichtes aufmerksam machen.
wBT^
tfMdra.
(Oper in einem Aufzuge. Dichtung von Axel D e 1 m a r. Musik
von Ferd. Hummel. — Erste Auffuhrung an der k. k.. Hofoper
zu Wien am 4. Oktober 1894.)
„Ich erlaube mir, den verehrten Herren Ge-
schäftsfreunden — Theaterdirektoren, Kapell-
meistern und Regisseuren — die ergebenste An-
zeige zu machen, dass ich mein reichhaltiges
Lager an realistischen Opern wegen vorgerück-
ter Saison unter dem Selbstkostenpreise zu ver-
äussern beabsichtige. Bei Abnahme einer grösse-
ren Partie Ware entsprechenden Rabatt. Her-
kules Blechtöter , Komponist , Ziegenhain, am
Holzweg, Nr. 17."
Lange kann's nicht mehr dauern, und eine der-
artige Annonce erscheint in irgend einer Zeitung.
Die Fabrikation realistischer, veristischer Opern
ist zum Geschäft, das Grauen, das Entsetzen zum
gangbaren Handelsartikel geworden. Und Deut-
sche sind es, die einer von Italienern geschaffe-
nen Kunstrichtung ihr grobes Handwerkszeichen
aufdrücken. „Erst gab's nur einen Kotzebue,
jetzt giebt's ein ganzes Schock", sang einmal
Graf Platen. Man könnte das Verslein heutzu-
tage für Mascag^i und seine Nachtreter ummo-
deln. Die Blutarbeit aber, die der Italiener ga-
lant und reinlich mit dem Stilet besorgt, leistet
der schwerfälligere Deutsche mit dem Dresch-
flegel. Wo der pfiffige — oder geschmackvol-
lere? — Südländer eine in schrankenloser Lei-
denschaft ausgeübte Schreckensthat vorführt,
glaubt der deutsche Nachahmer nicht mehr ohne
gründliche, umständliche Erregung des Ekels
auskommen zu können.
H u m m e 1 s „M a r a", die wir dieser Tage an
der Hofoper zum erstenmal gehört haben, drängt
uns alle diese Betrachtungen auf! Es sei ferne
von uns, speciell auf den tüchtigen, wenn auch
nüchternen Komponisten dieser Oper einen Stein
zu werfen. Er hat gewiss in bester Meinung sein
Werk geschaffen — ein Schelm, der mehr giebt
als er hat — aber gerade seine „Mara" zeigt in
krassester Form, wohin der Weg führt, auf dem
uns über die Alpen her die Blutopern der Son-
zognisten eingeschmuggelt wurden. Joseph For-
ster hat mit seiner „Rose von Pontevedra" den
Anfang gemacht. Aber dieser süddeutsche Mu-
siker besitzt doch noch weit mehr Temperament
als der kühle Hummel und macht uns sein Werk
— und sei es tausendmal eine Verirrung
— dadurch glaubhafter. Der Künstler ist ja
doch die feinste Menschenblüte, die ein ganz be-
stimmter Boden erzeugt, ein ganz bestimmtes
Klima zur Reife bringt. In Wien können künst-
lerische Südfrüchte noch weit eher gedeihen als
in Berlin. Und gerade zwei Berliner haben sich
zusammengethan, um einmal dem deutschen
Publikum gründlich das „Gruseln" zu lehren.
Aber sie machen's nicht wie der Praktikus in dem
174 X:::^'t^t^t^t:^t3^t^"t^t;^'b:^"t5'5t:^'fc?^t^
Märchen, der seinen Zweck mit einem Kübel
Wasser und etlichen Fischlein erreicht. Sie über-
schütten ihre Zuhörer mit einer Flut raffinierter
Qualen, in ihrem Füllhorn ist Blut, in dem Blute
wimmelt es von Schlaneen und Skorpionen.
Mit einem belanglosen Aufschäumen des Or-
chesters beginnt die Exekution. Der Kompo-
nist nennt es — Ouvertüre. Gegen Ende dieses
Stückes fällt ein Schuss, ein abstürzender Geigen-
lauf malt das Kollern eines Körpers. Der Vor-
hang geht auf, man sieht Mara, die Frau des
Tscherkessen Eddin, auf dem Platze vor ihrem
Hause sitzen und mit ihrem Kinde Dimitri „Ver-
stecken spielen". Die Scene ist von überflüssiger
Länge und schliesst mit einem Schlummerliede,
das in seiner ungeheueren Ausdehnung ganz gut
für einen an Schlaflosigkeit leidenden Vierziger
ausreichen würde. Aber auch das ist Berech-
nung: man soll möglichst lange nicht erfahren,
welche Bewandtnis es mit dem Schusse hatte,
das Idyll soll den folgenden Greüelscenen als
Folie dienen. Nachdem Mara den Kleinen in die
Hütte gebracht, erscheint mit äusserster Hast
hoch oben auf dem Felsenpfad Eddin. Er ist es,
der geschossen hat, er ist das Wild, das verfolgt
wird. Schrecken, Todesangst malt sich in seinen
Zügen — Mara begrüsst ihn jubelnd — bald aber
verrät er ihr das Verhängnis — aber nur zum
Teil — wer das Opfer seines Schusses geworden,
bringt er nicht über die Lippen. Jetzt eilen die
Rächer herbei, an ihrer Spitze Djul, Maras Bruder-
Eddin verbirgt sich in einem hohlen Baum; der-
weil suchen die Männer nach dem Verfolgten,
dessen Aufenthalt Mara nicht zu kennen vorgiebt.
Auch die Mitteilung, dass Eddin ihren Vater er-
schossen, macht das Weib nicht wankend. Djul
erklärt nun, am kleinen Dimitri die Blutrache
üben zu wollen, da verlässt Eddin sein Versteck
und stellt sich seinen Feinden, die ihm das Ur-
teil dahin sprechen, dass er lebend von einem
Felsen ins Thal gestürzt werden solle. Nun noch
ein rührseliger Abschied von Mara, und Eddin
wird, gebunden wie ein Opfertier, hinweggeführt.
Mara sucht im Gebet Trost. . . . Plötzlich kommt
ihr ein verwegener Gedanke . . . ehe die Männer
ihren Gatten in die Tiefe schleudern, sendet sie
ihm aus seiner eigenen Flinte das todbringende
Blei ins Herz. Sie bricht vor Schmerz zusam-
men und verbirgt das Angesicht in ihren Händen
— da tritt Dimitri aus der Hütte und meint, die
Mutter wolle wieder mit ihm scherzen. . . .
„Kuckuck" ruft er — der Vorhang fallt. Noch
nie ist mit den Gefühlen des Publikums ein scho-
nungsloseres Spiel getrieben worden! Alle Em-
pfindungen, die den Kitt der Familie bilden, wer-
den in den 45 Minuten, die diese Oper dauert, auf
die Folter gespannt. Der Gatte als Mörder, der
Bruder als Rächer des Vaters, das Kind in Ge-
fahr, anstatt des Vaters geopfert zu werden, die
Frau vor die Wahl gestellt, den Gatten oder ihr
Kind dem Tode auszuliefern, in der Hütte der
ahnungslose Elleine, im hohlen Baume der Mann
mit all seinen Seelenqualen. . . . Das ist mehr,
als die Nerven zu ertragen vermögen. Diese
Häufung von krassem stösst ab und um so
mehr, als man weder aus der Dichtung
noch aus der Musik die Ueberzeugung gewinnt,
dass da — etwa wie in Grabbes „Herzog von
Gothland" — eine übermächtige, unbändige Per-
sönlichkeit den Antrieb zu alledem gab. Librettist,
D e 1 m a r nennt er sich, und Komponist sind
kluge, verständige Leute, die ganz kühl, wie Fol-
terknechte, mit den grässlichsten Werkzeugen
hantieren. Sie kommen mir wie wohlsituierte
Apotheker vor, die — konzessionsgemäss — ganze
Mengen von Giften schön geordnet in ihren
Kästen, auf ihren Stellagen bewahren und plötz-
lich anfangen, damit Missbrauch zu treiben. Wo
der weise Arzt mit einem Tropfen Gift, die Hei-
hmg fördernd, auslangt, spenden sie es löffel-
weise, womöglich kannenweise, und ertöten damit
das Lebendige. Delmar und Hummel haben zu
viel von jenen, in kleinen Dosen heilsamen Mit-
teln erwischt; das Publikum kam dahinter und
fand das Gebotene — ungeniessbar.
Geschicklichkeit darf man keinem der Auto-
ren absprechen. Besonders von dem Librettisten
dürfte bei seiner bedeutenden Bühnenkenntnis
gutes, oder doch wirksames zu erwarten sein.
Aber Umkehr thut dringend not. Der Komponist
ist — ein seltener Fall — diesmal der schwächere
von beiden. Seine Musik ist lediglich Koulissen-
rtialerei ! Praktisch, von fast mehr als nötiger
Deutlichkeit, dabei in der Erfindung nicht origi-
nell. In der Technik durch den Librettisten ge-
stützt und vor manchem Ungemach bewahrt, be-
geht Hummel den Fehler, dort vollständig sitzen
zu bleiben, wo im Textbuch nur eine kurze Rast
vorgesehen ist. An der Stelle, wo die Rächer das
Leben des Kindes fordern, hat der Dichter ein
paar Verszeilen eingeschaltet, in denen Mara
sich bereit erklärt, dies Opfer zu bringen. . . . Der
Komponist formt daraus einen für die Situation
viel zu langen Satz. Die Tscherkessen wollen
Eddin fortschleppen und scheinen es — besonders
anfänglich — recht eilig mit ihrem Rächerge-
schäft zu haben; da bemerken sie, dass die Gat-
ten noch ein Duett singen wollen, fassen sich in
Geduld und hören zu. Als Eddin bereits weg-
gezerrt ist, beginnt ein heftiges, den Seelen -
kämpf Maras schilderndes Orchesterzwischen-
spiel, während dessen die beklagenswerte Frau
vor einem Marienbilde auf den Knien liegt. End-
lich kommt es wie Erleuchtung über sie : sie sieht
die Flinte Eddins liegen, und — der Zug der
rauhen Männer mit dem Gefangenen erscheint
nicht, Mara unternimmt auch nichts mit
dem Gewehr, sondern — singt ein Gebet an die
Jungfrau. Dann erst geschieht, was man viel
früher erwartet.
Die neue Oper ist also, wie die meisten der
veristischen Stücke, changeant gearbeitet. Sieht
man die Sache von der einen Seite, so dominiert
der blutrote dramatische Faden, während, von
der anderen Seite aus betrachtet, der sanftblaue
lyrische vorschlägt. Dies System bringt einen
steten Wechsel zwischen Vorwärtseilen und
Steckenbleiben, ein fatales ungleichmässiges
Tempo in die Oper, das die wirklichen Meister
von Gluck an bis auf Wagner nicht gekannt
haben.
Gesanglich ist „Mara" unbedeutend, das Or-
Iin Foyer. 12
178 t:^t^t^'b^'t:^t^t:^t^t^"t5^"t:^'fc?^t5^t^
ehester ist geschickt, aber lärmend behandelt;
der Gesang stets durch Hörn, Cello oder derglei-
chen „unterstützt", was auf die Länge ungemein
ermüdet.
Der Erfolg der Oper war massig. Die Ver-
blüffung, die Befremdung erschien weit grösser
als der wirkliche Eindruck.
^
Cornelius Schut.
(Oper in 3 Akten von L. Illica. Deutsch von L. Hartmann.
Musik von Ant S m a re ^ I i a. — Erste Auffuhrung an der k. k. Hof'
Oper in Wien am 23. November 1894.)
Es giebt Künstler, denen ein halber Erfolg
mehr nützt, als anderen ein ganzer, die das Meer
des Glückes wie einen Kork immer wieder an
die Oberfläche treibt, die höchstens etwas unter-
tauchen, nie aber untergehen können. Zu die-
sen Beneidenswerten gehört Antonio S m a r e g -
1 i a , der Autor der neuesten Novität unserer
Hofoper „Cornelius Schu t". Er hat hier
mit seiner Erstlingsoper „Der Vasall von Szigeth"
anständige Wirkung gemacht, obwohl manche
behaupten, das Werk wäre besser, geworden,
wenn dem Librettisten ein anderer Komponist,
oder dem Komponisten ein anderer Librettist zur
Seite gestanden wäre. Man hatte eben an beiden
etwas auszusetzen: an Illica — dem Dichter —
dass er gar so wild, an Smareglia, dass er gar so
mild sei. — Das Werk ging, da es doch hübsches
Talent und vortreffliches Können zeigte, über ein
paar Bühnen. — Als sich die beiden Autoren zu
einem zweiten Werke zusammenthaten, dämpfte
Illica die Töne seiner Laute bis zur Sanftheit
Smaregliaschen Empfindens herab und schrieb
12*
I 8o T;::^"t:^'t^'b;^'t^T:5^'t^Ti?^Ti5^Ti5^"t:^'b:^'t::^'t:^
ihm den Text zu der vorwiegend lyrischen Oper
„Cornelius Schut". Diese wurde in mehreren
Städten aufgeführt und „machte" wenig. Ge-
wichtige Einflüsse bahnten dem Werke den Weg
in die Hofoper, die für andere Opern ein Turm
mit sieben Pforten ist, wenn auch durchaus kein
märchenhafter. Der Eindruck der neuen Oper
war wieder recht massig. Smareglia hat sich
aber doch durch zwei kleine Erfolge einen
grossen Namen gemacht.
Der Stoff zu „Cornelius Schut" ist angeblich
dem Leben des berühmten niederländischen Ma-
lers entnommen. Wenn man in verlässlichen Bü-
chern nachschlägt, kann man sich aber leicht über-
zeugen, dass auser dem Namen des Titelhelden
nicht viel vom historisch Verbürgten in das Text-
buch herübergenommen wurde. Schut ist geboren
1597 in Antwerpen und starb daselbst 1654. Er
war zweimal vermählt, das erste Mal mit Katha-
rina Gheenssins, die 1637 das Zeitliche segnete,
das zweite Mal mit Anastasia Scelliers. Beide
Frauen waren wohlhabend, er verdiente viel und
konnte daher einen luxuriösen Lebenswandel
führen, Landgüter ankaufen (in Hoboken und
Berchem), Wagen und Pferde halten. Ein fata-
ler Liebesroman seiner einzigen Tochter aus
erster Ehe mit dem leichtsinnigen Melchior de
Hase verdüsterte die letzten Lebensjahre des
Künstlers, der sich schliesslich ganz aus der Stadt
zurückzog. So weit, in allgemeinen Zügen, die
Wirklichkeit.
1 1 1 i c a , Smareglias Librettist, gestaltet sei-
nen Schut um vieles romantischer. Erstens lässt
er ihn statt zweier Ehen zwei Liebesverhältnisse
eingehen, die er möglichst ignobel löst, zweitens
steckt er ihm eine kleine Sammlung faustischer
Gedanken und Gefühle in die Tasche, mit denen
er von Fall zu Fall litterarisch posiert, zum
Schlüsse lässt er ihn an chronischer künstle-
rischer Impotenz und akutem Irrsinn zu Grunde
gehen: Trotz all dieses Flitters ist der Schut
lllicas ein uninteressanter Bursche. Er redet
Poesie und handelt Prosa. Er ist ein Egoist, dem
nichts teuer ist, der ein Weib nach dem anderen
abstreift, wie die Schlange ihre Haut, ein bom-
bastischer Schwätzer, der beteuert: „Mehr als
Lust will ich vom Leben, will wissen das Ge-
heimnis, warum wir denn leben und sterben. . . ."
Ja, wer das an der Brust einer geliebten Frau,
wer es in tapferer, unermüdeter Arbeit nicht er-
fährt, der wird auf diese Fragen keine Antwort
bekommen. Und Schut ist vor unseren Augen
untreu in der Liebe und sehr faul, was das Malen
anlangt. Da berühren wir einen Hauptfehler des
Buches. Wir sehen einen wohlgenährten Teno-
risten und sollen ihn für den sich in herrlichen
Arbeiten erschöpfenden Meister halten. Berühmte
Leute, namentlich Dichter und Künstler, sind
schlechte Bühnenfiguren; schon fürs Schauspiel,
und nun gar für die Oper ! Der Hörer ist unfrei,
weil er mit gewissen bestimmten Ansprüchen,
und zwar Ansprüchen, die mit dem Kunstwerk
an sich gar nichts zu thun haben, das Theater
betritt ; der Schauspieler ist unfrei, weil er gleich-
sam eine doppelte Maske trägt. Da"bei glaubt
man all das Gerede von Ruhm u. dgl. nicht, das
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solche Persönlichkeiten auf dem Theater wie ein
Schatten verfolgt. So auch Cornelius Schut. Bei
jeder möglichen Gelegenheit — in jedem Akte
einmal — finden sich z. B. verhimmelnde Maler-
kollegen (wer lacht da?) bei Schut ein, um ihm
vorzusagen, was für ein grossartiger Kerl er sei,
was er der Mit- und Nachwelt zwar schon ge-
schenkt, wie viel mehr er aber zu leisten noch
schuldig sei. Man sieht aber nichts von seinen
Arbeiten, und — sähe man etwas, so sagte jedes
Kind : Aha, der Theatermaler l Richard Wagner
hat die Klippen, die das Auf -die-Bühne- Stellen
eines gefeierten Mannes mit sich bringt, in seinen
„Meistersingern" mit feinstem Takt umschifft.
Sein Sachs ist durch all das bedeutend und sym-
pathisch, was man von ihm hört und sieht. Er
zeigt sich als geläuterter, überlegener Geist, als
guter, edler Mensch, beweist Schalkhaftigkeit und
Humor bei allen möglichen Anlässen. Trüge
diese Figur einen anderen Namen, so müsste man
sie ebenso lieben. Das ist wohl das wesentliche !
Schut bläht sich immer, will immer etwas sein
und macht dadurch einen windigen Eindruck.
Illica hat seinen Stoff folgendermassen ange-
ordnet: Im ersten Akt sehen wir die Antwerpe-
ner Maler beim Weine. Hals, Teniers, Craes-
becke u. s. w. kneipen seelenvergnügt und bespre-
chen allerlei geringfügiges Zeug. Da .kommt
Gertrud, ein lustiges Mädchen, daher und die Ma-
ler reden ihr von ihrem Lieblingsthema, von
Schut. Bald erscheint auch dieser und macht
Gertrud klar, dass er ihrer überdrüssig sei. Sehr
deutlich, aber nicht galant. Das Peinliche dieser,
Übrigens in einem Stimmungs-Mittelton gehalte-
nen Scene liegt darin, dass Schut vor so vielen
Leuten mit dem Mädchen seine Herzenssache
abthut. Goethe sagt irgendwo: „Sobald man in
Gesellschaft ist, nimmt man vom Herzen den
Schlüssel ab und steckt ihn in die Tasche; die,
welche ihn stecken lassen, sind Dummköpfe".
Wie heissen nun gar diejenigen, die ihn jedem
aus einer Gesellschaft zur beliebigen Benützung
in die Hand drücken? Nur ein ganz brutaler
Bengel wird einem Weib, das ihm einst ergeben,
vor einer Schar gaffender Männer den Laufpass
geben. Diese Handlung setzt Schuts CS^müts-
wert in den Augen des Zuschauers gleich auf ein
ziemlich tiefes Niveau herab. Kurz nach dieser
Episode begegnet der lockere Maler auf der
Strasse der schönen Elisabeth von Thourenhoudt,
einem alleinstehenden Fräulein, das sich dem
feurig Werbenden sogleich an den Hals wirft.
Es ist viel darüber geredet worden, was für eine
gesellschaftliche Stellung diese, nur unter Be-
wachung einer alten „Wärterin" (Kathel heisst
sie), lebende Dame eigentlich einnehme. Ich bin
stolz darauf, hinter das Geheimnis gekommen zu
sein: sie ist Kunstgärtnerswaise. So oft Schut
von seiner Liebe zu ihr spricht, beginnt sie von
irgend einer anderen Blumensorte zu schwärmen.
„Margitten", Massliebchen, Rosmarin u. s. w.
sind die Lieblingspflanzen ihrer blumenreichen
Sprache. Merkwürdig, dass die Operndichter
noch immer glauben, dass die Leute im gestmge-
nen Drama schrecklich dumm reden müssen. Und
schrecklich dimim ist es, wenn einer ein paar Lie-
184 't?^'t^'b^t:^'fc^'fc^'b^'fc^'t;'^'b:^'fc^'fc^t^'b^
besleute, die sich ja bekanntlich für nichts als
für sich selbst interessieren^ stets von dem ge-
wöhnlichsten poetischen Gemüse sprechen lässt
Ich verstehe zwar s^r gut, warum die Dichter
bei ihrem alten „Schimmel" bleiben. Es geht
eben schneller ein paar Verse über „Veielein und
Rosmarein", über „Liljelein und Blauglöckelein'*
hinzuschreiben, als einen Blick in die Menschen-
brust zu thim und den Gestalten dann echte, tiefe,
natürliche Laute in den Mund zu legen. Dieses
Fräulein Elisabeth bezieht — darüber belehrt
uns der zweite Akt — mit Schut eine Landwoh-
nung am Alkmarsee, wo sie — so glaube ich —
Blumen zieht imd er malt Sein Ruhm breitet
sich aus, und als zuerst die alte Kathel und dann
gar eine Schar Antwerpener Maler mit der Nach-
richt kommen, dass man in der Elathedrale sich
ordentlich um einen Platz vor dem neuen Altar-
bilde Schuts raufe, da leidet es den bereits liebes-
satt Gewordenen nicht mehr auf dem Lande; er
eilt mit den Freunden fort, imd Elisabeth bleibt
allein zurück. Warum sie nicht mitgeht, warum
sie sich ins Kloster begiebt, bleibt unklar. Sicher
ist, dass sie im dritten Akt als Nonne auftritt,
dass Schut in derselben Kirche, wo sie ihre An-
dacht verrichtet, ein Bild malen soll, aber nichts
fertig bringt, da er den Verstand verloren hat.
Er trifft mit Elisabeth zusammen und versucht,
sie zur Flucht zu bewegen. Sie lehnt sein An-
. sinnen ab, aber sein Geist ist auf einen Mo-
ment erleuchtet. Er eilt zur Staffelei, malt
die Madonna nach Elisabeths Ebenbild und
stirbt.
Das Ganze ist ein Novelle, aber kein Theater-
stück oder doch nur ein recht langweiliges.
Die Musik Smareglias ist nicht darnach an-
gethan, dem Buche besonders aufzuhelfen. Durch-
weg vornehm, hie und da geistreich, drückt sie
sich dennoch meist in wenig überraschender
Weise aus. Alles ausgezeichnet gemacht, aber
gemacht. Eine Tafel, auf der Kunstbutter, Kunst-
wein u. dergl. in den feinsten Sorten vorhanden
sind. Am wohlsten fühlt sich Smareglia in senti-
mentalen, lauwarmen Liebesangelegenheiten.
Auch ein leichter Anflug von Tragik ist ihm nicht
unbequem. Bei burschikosen, derb lustigen Sce-
nen versagt sein Talent völlig. Feine, glückliche
Wendungen findet er fürs Graziöse, Liebenswür-
dige. Die Stimmbehandlung ist im ganzen gut;
die Ueberfülle von Text, die der Sänger hervor-
zusprudeln hat, kommt zum Teil auf Rechnung
des Dichters zu stehen. Je unpraktischer die Li-
brettisten, desto wortreicher sind sie. In der Be-
handlung des Orchesters ist Smareglia Meister;
er bringt zwar keine neuen Farben, geht aber mit
den vorhandenen virtuos um.
Bei der Aufführung gefiel hier am besten ein
Ensemble im 2. Akte. Wie mir scheint, mehr
wegen der Abwechslung, die es in die langweilige
Angelegenheit brachte, als um seines eigenen
Wertes willen. Es ist ein ganz hübsches Stück,
aber nicht bedeutend. Die beste Partie der Oper
dürfte die Wahnsinnsscene im 3. Akte sein.
Wenigstens wirkte sie auf der Bühne am ein-
dringlichsten. — Die Oper hat den Vorteil, leicht
aufführbar zu sein. Ein dramatischer Sopran
l86 \:^'X::^\:^\=^^^^:^'^^::^^^^:^'>^::^p^
und ein guter Tenor sind die Haupterforder-
nisse. Die übrigen Rollen sind irrelevant. Die
deutsche Uebersetzung der Oper rührt von Herrn
L. Hartmann in Dresden her, und dieser ac-
ceptiert das sehr vernünftige Verfahren, den
Reim nur fallweise zu verwenden. In Anbetracht
der vielen Schwierigkeiten, welche die Arbeit in
anderer Hinsicht darbietet, wäre dieser Modus
zu allgemeinerer Nachahmung zu empfehlen.
Hansel und Gretel.
(Märchenspiel in drei Bildern von Adelheid Wette; Musik von
Engelbert Humperdinck. — Erste Aufführung auf der Wiener
Hofoper am 18. Dezember 1894.)
Die Brüder Grimm schliessen ihr Märchen
„Hansel und Gretel" mit den Worten: „Mein
Märchen ist aus, dort läuft eine Maus, wer sie
fängt, darf sich eine grosse Pelzkappe daraus
machen."
Das Beginnen, aus dem lieblichen Märchen
eine Oper, und nennte man sie auch ein „Mär-
chenspier, zu machen, erinnert ein klein wenig
an dieses Ktmststück mit der grossen Pelzkappe.
Für ein Theaterstück ist der Stoff nach den lan-
desüblichen Begriffen nicht ausreichend; es muss
hinzugethan werden, und das umsomehr, als dra-
matische Rücksichten verlangen, dass für die
erste Partie der Geschichte — das wiederholte
Aussetzen der beiden Kinder im Walde — etwas
anderes substituiert wird.
Die Librettistin des Märchenspieles „Hansel
und Gretel" hat denn auch mit meist glücklicher
Hand nachgeholfen und den hochpoetischen Stoff
in eine theaterwirksame Form gebracht. Im
l88 '\:^ri\:::^^^:::^r>l:::^i\^^'^^^^:^\::^^^
ersten Bilde erblicken wir die beiden Kinder in
der Hütte der Eltern. Hungrig, aber lustig. Sie
singen, tanzen und balgen nach Kinderart. Die
heimkehrende Mutter findet ihre Sprösslinge
lachend und zappelnd auf dem Boden liegen. Sie
schilt sie und die Kleinen entlaufen in den Wald,
um Beeren zu suchen. Der etwas angeheitert
nach Hause kommende Vater ist entsetzt, als er
hört, dass die Kinder — es wird bereits Abend
— noch immer im Walde seien. Die Eltern eilen
fort, nach den Kleinen zu sehen. — Das zweite
Bild zeigt das Geschwisterpaar im tiefen Walde.
Es wird allmählich dunkel ; die Kinder finden den
Rückweg nicht mehr und legen sich, nachdem
sich ihnen das Sandmännchen gezeigt, unter
einem Baume schlafen. Im Traume erscheint
ihnen eine Engelschar. . . . Am Morgen erweckt
sie Taumännchen, indem es ihnen mit einer
Glockenblume feuchte Perlen auf die Gesichter
träufelt. Die Elinder wollen in die Richtung
schreiten, von wo sie die Engel kommen sahen;
der Nebel zerreisst, sie stehen vor dem Knusper-
häuschen der Hexe. Nun geschieht alles wie
im Märchen: die Alte fängt die Kinder, sperrt
Hansel in den Stall, um ihn noch zu mästen,
Gretel jedoch will sie gleich braten. Die Kleine
ist aber klüger als die Hexe. Statt dem Kinde
wird die Hexe in den Backofen geschoben, die
geängstigten Geschwister sind frei. Abweichend
vom Originale, beginnen nun die beiden das Ent-
zaubern einer ganzen Reihe von Lebkuchenkin-
dern, die sich die Alte, offenbar als Vorrat, vors
Haus gestellt hat. Sie werden lebendig, schlagen
die Augen auf und singen, das ist die Haupt-
sache, den Schlusschor, in welchen auch die her-
beigeeilten Eltern einstimmen.
Die „Lebkuchenkinder" sind etwas wie unsere
Backhühner — innen Fleisch, aussen Teig —
und sind wohl durch die Vermittlung von „Max
und Moritz" zu „Hansel und Gretel" gekommen.
Vollständig erklärt ist die Sache im Stücke nicht.
Einmal heisst es im Textbuche, dass die Kinder
„gebräunt das Fell" aus dem Ofen kommen und
von der Hexe gefressen werden ; ein anderes Mal :
„Im Zauberofen mein wirst du ein Lebkuchen
fein". Braten oder Lebkuchen ! Das ist hier die
PVage ! Der Hexenofen ist also einmal eine Art
Fegefeuer, das alles Fleischliche verzehrt und
dem Himmel die Seele in einem Lebkuchen-Cou-
vert übersendet, das andere Mal eine gewöhnliche
Bratröhre, aus der das Fleisch mit gebräunter
Kruste, duftend, schmackhaft zubereitet, hervor-
geht. —
Es ist jetzt nicht zum ersten Male, dass „Hän
sei und Gretel" in einer Ausgabe für Erwach-
sene auf dem Theater erscheinen. Schon
Reichardt hatte 1772 in Königsberg ein Singspiel
dieses Namens geschrieben und zur Aufführung
gebracht. Seither ist das kluge Kinderpaar wohl
nur mehr in Theaterstücken „für kleine Leute",
in Kindervorstellungen, aufgetreten. Jetzt aber,
Ende des XIX. Jahrhunderts, erleben wir das
Unerwartete, dass ein blasiertes, sehr blasiertes
Publikum Gefallen an der liebseligen Kinderge-
schichte findet. Das ist eigentlich ein zweifaches
Märchen. Eines spielt auf der Bühne, das andere.
weit märchenhaftere — im Zuschauerräume.
Nach Dumas, Ibsen, Sudermann, Hauptmann,
Richard Wagner, Mascagni, Giordano, Hummel,
Forster, nach der Sarah Bernhardt, der Düse
und Bellincioni: . . . „Hansel und Gretell" Oder
sollten diese Dinge doch in weit engerem Zusam-
menhange stehen, als es auf den ersten Blick er-
scheint? Sollte nicht gerade die Uebersättigung
mit grausamem, nervenerschütterndem, die Sehn-
sucht nach reinerem, kindlichem, sei es sogar
kindischem, erweckt haben? Die Opernkunst
unserer Tage erkannte ihren leidenden Zustand
und fand in Humperdinck ihren Pfarrer Kneipp,
der sie allem ungesunden entsagen, dafür aber im
erquickenden Tau des Märchens wandeln hiess.
Humperdinck ist nicht umsonst off und oft
an einem Tische mit Richard Wagner gesessen.
Er hat des Meister Wort : „Ihr müsst etwas an-
deres machen, als ich" beherzigt und doch
auch wieder nicht vergessen, dass Wagner es
war, der mit seinem Siegfried ein gut Stück auf
dem Wege des Märchens gewandert. Wagner er-
zählt selbst, dass es wie eine Erleuchtung über
ihn kam, als er entdeckte, dass der Junge, der das
„Gruseln" nicht zu lernen vermag, niemand an-
derer sei, als sein jung Siegfried. Da flössen ihm
Sage und Märchen ineinander.
Humperdinck verliess an dieser Stelle den
Meister und beschritt den bisher in solcher Weise
nicht begangenen lauschigen Pfad des Märchens.
Kein Wunder, dass ihm bald im deutschen Walde
das Geschwisterpaar „Hansel und Gretel" be-
gegnete, das trotz der dräuenden Hexe das
„Gruseln" nicht kennt und dem alten Drachen
schliesslich noch den Garaus macht.
Einiges hätte der Komponist freilich auch
vergessen sollen 1 Man kann ihm nämlich den
Vorwurf nicht ersparen, dass er sich in seiner
Musik zu „Hansel und Gretel" wie ein leibhaf-
tiger Doppelgänger Richard Wagners ausnimmt.
Auf jeder Seite der Partitur grüssen einen wohl-
bekannte Figuren, Melodien, Harmonien, aus den
„Meistersingern" und aus der „Tetralogie"; der
Satz ist meist ein vielfältiges, kontrapunktisches
Gewebe im persönlichsten Wag^er-Stil und das
Orchester redet ununterbrochen den üppig
klingenden, aber etwas schwerfälligen Bayreu-
ther Dialekt. Mitten hinein in all das kunstvolle
Getriebe schallen naive Liedchen, einfache Wei-
sen, die zum Teile heute noch im Kindermunde
lebendig sind. Ohne näher zuzusehen, könnte
man diese Verquickung für eine unglückliche Ehe
zwischen einem raffinierten Manne und einem
— Kinde halten. Als solche stellt sich aber
Humperdincks „Märchenspiel" dennoch
nicht dar, weil der Komponist nicht nur ein aus-
gezeichneter Musiker, sondern ein Dichter ist.
Er hat die Welt, besonders die Wagnersche Welt
gründlich kennen gelernt, sich aber einen Schatz
echter Poesie bewahrt, und das Leuchten dieses
Schatzes verklärt die besten Partien aus „Hansel
und Gretel". Wer die reizende Scene im Walde,
im zweiten und dritten Bilde, schreiben kann,
dieses „Hansel- und Gretel-Idyll", der ist mehr
als ein findiger Macher. . . . Man wird — nicht
ganz mit Unrecht — einwenden, dass der Zuhörer
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hier ein gut Teil des Zaubers, den er als Ganzes
von der Bühne aus zu empfangen glaubt, mit ins
Theater bringt . . . aber, ist das bei irgend einem
dramatischen Kunstwerke anders? Wer nicht
einen Fonds von Heiterkeit mit sich hat, wird im
lustigsten Schwanke nicht lachen, den frivolen
Vergnügung wird keine Maria Stuart, keine
Donna Anna ergreifen. Das Publikum ist der
Wald, in den der Dichter hineinruft. Der Wieder-
hall heisst in der Theatersprache: Erfolg.
Dass wir nicht viel von Humperdincks
eigenen Einfällen, seiner Originalität reden kön-
nen, kommt daher, dass die Musik dieses Kompo-
nisten ein starkes persönliches Gepräge vermissen
lässt. Was er aber aus eigenem beisteuert, ist
herzlich, innig, sympathisch. Wer „Hansel und
Gretel" hört, muss Humperdinck lieb gewinnen.
Bei der Wiener Aufführung hielt man sich
genau an die gedruckte Partitur und nahm von
den merkwürdigen Aenderungen, die Frau Co-
sima Wagner an dem Werke vornahm, keine
Notiz. Nur die Nuance, dass die Hexe auf einem
Besen sich*in die Luft erhebt, ist acceptiert wor-
den; dass man sie aber plötzlich ihre Hülle ab-
streifen und als „junges, verführerisches Ge-
schöpf .. . als eine Art Huldin" vor den Kindern
erscheinen lässt, sowie den von Humper-
dinck auf Wunsch Frau Wagners neu kompo-
nierten lustigen Schlussmarsch hat man abseits
gelassen. Wohl auf Anraten des Komponisten,
der durch sein „Hansel und Gretel" bewiesen hat,
dass er von Naivetät weit mehr versteht, als Frau
Cosima, die in diesem Fache nie sehr stark war.
Das Mädchen von Navarra.
^Lyrische Episode in 2 Akten von J. Cläre tie und G. CaTn;
Deutsch von Max Kalb eck. Musik vonj. Nassen et. — Premiere
in der k. k. Hofoper in Wien 4. Oktober 1895.)
Amor auf Reisen.
(Ballet von Gaul und Will n er; Musik von G. Berte.)
Als ich vor Jahren einige Zeit in einer hüb-
schen deutschböhmischen Stadt zubrachte,- erhei-
terte mich der Anschlagzettel einer dort eben
gastierenden Schmiere. Das frech-naive Plakat
besagte ungefähr: „Es ist dem Unterzeichneten
nach langen Mühen und unter Aufwand bedeu-
tender Kosten gelungen, das Original jenes
Stückes zu erhalten, nach welchem der berühmte
Maestro Meyerbeer seine Oper „Die' Afrikane-
rin" komponierte. Es rührt von dem grossen
französischen Dichter Eugen Scribe her und
schildert mit historischer Treue die wunderbaren
Erlebnisse des Seefahrers Vasco de Gama
im dritten Akte kommt ein Seesturm vor, wäh-
rend dessen die ganze Bühne, die das Verdeck
eines Schiffes darstellt, zu schwanken beginnt.
.... Da die Musik die Verständlichkeit des Tex-
tes ohnehin nur schmälert, wird von jeglicher
Benützung einer solchen abgesel en, und kann das
Im Foyer, 13
IQ4 't:^Ti?^Ti^Tb?^Ti5^'t?^'b:^'t?^"fc5^'t^Tb^Ti5'9"t?^T^
verehrte Publikum somit dem Verlaufe des span-
nenden Stückes ungehindert folgen '*
Hereinspaziert ! hereinspaziert !
Damals habe ich über den Zettel ungeheuer
gelacht. Jetzt erkenne ich, dass der Verfasser
desselben, der Schmierendirektor, ein genialer
Kopf, ein Seher war ! Indem er das — ' Textbuch
der „Afrikanerin" — denn das war sein „span-
nendes Stück" — aufführte, war er mit einem
Sprunge der Entwicklung der modernen Oper
weit vorausgeeilt, und erst ganz in der letzten
Zeit hat ihn ein feiner Franzose, Herr Masse-
n e t , so ziemlich eingeholt. — „D a s M ä d -
chenvon Navarra" („La Navarraise") ,
das neueste Werk des geschickten französischen
Meisters, ist fast nur ein gesprochenes Stück, bei
dem die Musik allerdings hie und da Versuche
macht, sich zur Geltung zu bringen, jedoch so-
gleich von dem Moloch Drama verschlungen
wird. Und was für ein Stück ! Eines jener mo-
dernen, in welchem vor lauter Realistik kein
Schauspieler mehr dazu kommt, einen zusammen-
hängenden Satz fertig zu sprechen, ohne dass
ihm ein anderer ins Wort fällt. Die Oper scheint
sich somit parallel mit dem Drama zu entwickeln.
Arien ebenso wie Monologe sind aus der Mode,
Duette so gut wie die ehemals so beliebten
witzigen, geistreichen Dialoge, Volksscenen
gerade so wie die nun als veraltet geltenden
Chöre. Der mit dieser Formveränderung ver-
bundene Fortschritt ist nicht zu verkennen. Die
Handlung ist nirgends aufgehalten, d:e Ereig-
nisse drängen sich zusammen, Schlag folgt auf
Schlag, Ueberraschung auf Ueberraschung, That-
sache auf Thatsache. . . . Aber ist das der allei-
nige Zweck eines Kunstwerkes ? Sind
Theaterdichter und Bühnenkomponist nichts an-
deres als dramatisierende Reporter? Will ein
Drama, eine Oper keine anderen Ziele verfolgen,
als möglichst schnell das Meritorische der Ge-
schehnisse vorzuführen? Das Publikum besteht
ja doch nicht lediglich aus Nähmamsellen, die
in einer Viertelstunde einen Schauerroman durch-
blättern, um recht bald zu erfahren, wo sich die
Liebenden zum ersten Male um den Hals fallen,
wo eins die Treue bricht und wo sich die Ver-
lassene unter die Räder eines heranbrausenden
Eisenbahnzuges wirft. . . . Oder wäre unser
Publikum wirklich auf dem Wege, sich dieser
Art des Geniessens zu nähern? Nach der Auf-
nahme, die Massenets „Navarraise" bei ihrer
Wiener Premiere gefunden, glauben wir dies ver-
neinen zu können. Es wurde viel, sehr viel ge-
klatscht. Herr Massenet, den Jahn von Paris her-
gezogen, zog seinerseits wieder Herrn Jahn vor die
Rampe, die Mitwirkenden wurden oftmals ge-
rufen, und die äusseren Anzeichen eines grossen
Erfolges waren somit zweifellos vorhanden. Aber
nur für denjenigen, der nie einen grossen, echten
Erfolg im Wiener Opernhause mitgemacht hat.
Zwei Drittel alles Beifalls hat die Claque gelie-
fert, die mit grösster Unverschämtheit ihres lu-
krativen Amtes waltete und sich selbst so sehr
ins Feuer hineinklatschte, dass sie in dem auf
die kurze Oper folgenden langen Ballette „Amor
auf Reisen" sogar einen — Esel, der einmal über
13*
196 "t5^t^"t5^"t5^t:^T;^"t5^"t5^"t5^'fc^t5^'fc:'^t^"t^
die Bühne geritten wurde, mit Applaus überschüt-
tete. Das Gros der Zuschauer verhielt sich
äusserlich ruhig, somit also innerlich ablehnend.
Und das ist begreiflich ! Man ist der kras-
sen Stoffe, der brutalen Wirkungen überdrüssig
geworden und bereits dahinter gekommen, dass
der, eine Zeitlang als „neue Kunst", mindestens
als „neue Richtung" gepriesene, Verismo nichts
anderes zu Tage gefördert hat als tragischen
„Gschnas", man hat erkannt, oder beginnt doch
zu erkennen, dass diejenigen, die die psychologi-
sche Motivierung aus dem Drama zu entfernen
versuchten, pfiffige Geschäftsleute, aber schlechte
Künstler waren. Solchen aber läuft auf die Länge
kein Publikum der Welt nach.
Für den Theatervirtuosen Massenet mag ein ge-
wisser Reiz darin gelegen sein, es einmal den ita-
lienischen Gewalt-Operisten gleich zu thun. Mag
er*s bei dem einen Male bewenden lassen I Ist er
auch weder ein Mozart noch ein Wagner, ja
lange nicht einmal ein Flotow, so ist er doch ein
feiner distinguierter Künstler, der es, um zu sie-
gen, nicht nötig hat, den Galanteriedegen, den er
so raffiniert zu führen versteht, mit dem Knüttel
zu vertauschen. Dass er allenfalls auch mit gro-
ber Waffe zu kämpfen vermag, hat er mit „Na-
varraise" genügend bewiesen, und er kann sich
mit dem einen Beweise zufrieden geben.
Der Stoff zu der neuen Oper — die nebenbei
bemerkt einen Tag vor der Wiener ersten Auf-
führung in Paris mit Erfolg gegeben wurde —
ist einer Novelle von Claretie „La cigarrette"
entnommen und wurde von diesem Novellisten
und einem Herrn Cain für die Bühne adaptiert.
Das Muster für diese Adaptierung mussten die
aus Schauerromanen abgezogenen Boulevard-
Dramen abgeben, die für die Nervenerschütte-
rung vorortlicher Arbeiter und Putzmacherinnen
aufzukommen haben. Die Hauptsache dabei ist
Brutalität, Rache und Blut. Der Schauplatz
und die Zeit der Handlung — Spanien und der
Karlistenkrieg 1874 — gaben für dieses Vorhaben
den tauglichsten Untergrund. Unter Trompeten-
signalen, Kanonenschüssen u. dergl. modernen
Kulturträgerlauten hebt sich der Vorhang. Man
befindet sich in einem verbarrikadierten Dorfe
bei Bilbao, das die Regierungstruppen, hart be-
drängt durch Zuccaragas, eines Karlistenführers,
Banden, als letzten Punkt noch eben zu halten
im Stande sind. Retirierende Soldaten eilen über
die Bühne, Blessierte werden auf Tragbahren
hereingeschleppt, halbzerschossene Krüppel hel-
fen sich selber weiter, so gut sie können. Der
Stab, an seiner Spitze der General Garrido, er-
scheint tief entmutigt. Durch militärische Ge-
walt ist Zuccaraga also — wie es scheint — nicht
beizukommen. Da erbietet sich Anita, das Mäd-
chen von Navarra, den Unbesiegbaren zu ermor-
den. Sie braucht Geld ! Zweitausend Duros muss
sie als Mitgift besitzen, wenn sie ihren Geliebten
Araquil zum Gatten erhalten will. So diktierte
es ihr Schwiegervater in spe. Der in die Enge
getriebene General und das in die Enge getrie-
bene Mädchen werden handelseins, Anita stürmt
nächtens ins Lager des Feindes und erdolcht
Zuccaraga. Araquil hat aber von ihrer Unter-
nehmung gerade so viel erfahren, um 3as Ganze
für ein galantes Abenteuer zu halten. Er eilt
ihr nach, wird aber schwer verwundet und kommt
sterbend zurück. Noch ein kurzes Zusammen-
treffen mit Anita, die er beschimpft — da er-
klingen die Totenglocken für Zuccaraga, eine
Stimme ruft: „Er fiel durch Mörderhand", dem
Sterbenden wird der Zusammenhang klar, er ist
aber verloren. An seiner Leiche wird Anita wahn-
sinnig und stirbt prompt.
Zu diesem Rattenkönig von Schreckensscenen
hat Massenet eine fast durchgehends dekorative
Musik geschrieben, die nur an einigen wenigen
Stellen — einem kleinen Liebesduett, einer kur-
zen Erzählung, einem Soldatenliede und einem
stimmungsvollen Notturno — aus dem dramati-
schen Trutzwinkel hervortritt, in den sie der
Komponist verwiesen. Sie malt immer und mu-
siziert fast nie. Eine Rede, die aus lauter Inter-
punktionszeichen besteht, eine Partitur, in der
nur lauter ff, pp, crescendo, marcato, aber keine
Noten zu sehen sind. Selbst das Liebesduettchen
ist nur eine etwas melodischere Reihe von Ac-
centen. Wirkliche Musik kann nur das Notturno
heissen. Da schweigen für kurze Zeit die ge-
quälten Singstimmen, wie schlafsüchtig dehnt
sich ein wundervoll klingender Orchestersatz über
einem Orgelpunkt auf tief F aus. Es ist dies
Stückchen das feinste der vielen originellen und
geistreichen Instrumentaldetails, an denen die
Partitur zur „Navarraise" überreich ist, und in
denen Massenet wirklich erfinderischen Geist zeigt.
Als Kuriosum verdient bemerkt zu werden,
dass der französische Meister diese Greuel-Oper
seiner — Frau gewidmet hat. . . .
Das Ballett „Amor auf Reise n", welches
von den Herren Gaul, Willner, Hassrei-
ter und Berte herrührt, hätte von seinen vier
Vätern eine grössere Mitgift bekommen müssen,
um mehr Verehrer zu finden. Mit vollen Händen
gab nur Gaul, der in Farbenkombinationen und
Kostümerfindungen Unerschöpfliche. Er hat eine
Unzahl reizender koloristischer Harmonien und
Kontraste ersonnen, eine Menge eigentümlicher
Beleuchtungseffekte, und sich, wie immer, als eine
Art Theater-Makart bewährt. Nächst ihm ist
Hassreiter zu nennen, der den choreographischen
Teil vortrefflich bestellte. Dr. Willner, welcher
zu Goldmarks „Heimchen am Herd" den Text
geschrieben, sich also auch an ernsten Aufgaben
versucht hat, lieferte nur eine sehr magere, lei-
der durchaus humorlose Handlung, und Bertes
Musik macht es begreiflich, dass das Paar, dessen
Liebesgeschick den roten Faden der Handlung
abgiebt, erst bei der goldenen Hochzeit zu tanzen
anfängt. Es erkennt offenbar entzückt die —
uralten Melodien.
Das Sujet ^- wenn man schon eines aus dem
vielen Menschen- und Farbengewimmel heraus-
finden will — besteht darin, dass Amor „wegen
eines im Olymp begangenen Fehlers", auf irdische
Reisen gesandt wird und da nun allerlei Streiche
verübt oder eigentlich verüben soll. Er unter-
nimmt aber gar nicht viel. Er schmiedet ein
zerbrochenes Mädchenherz zusammen, versetzt
eine Schar tanzender Landleute in Liebes-
200 "t5?^'fc^"t5?^'fc!^'fc:^'t^"b:?^'t:^'t:^'t5'5't^^:^'t:;^'t:^
entzücken, indem er seine berühmten Pfeile
abschiesst, mid bringt es — für einen so
mächtigen Gott sogar recht langsam fertig,
ein fades Edelfräulein in einen hübschen
jungen Mann verliebt zu machen. Diese
beiden werden endlich ein Paar. Man sieht dessen
erste Einsegnung, dessen silberne und goldene
Hochzeit. Sogar das Ableben desselben und das
Zumhimmelschweben seiner Herzen kann man
mit ansehen. Ein grossartiges Schlussbild be-
endet die getanzte Biographie. Amor besteig^
einen Luftballon und f^rt in seine himmlische
Heimat Hoffentlich ist er dort oben lustiger.
Wer von einem Ballett lediglich Augenweide
verlangt, wird in „Amor auf Reisen" seine Rech-
nung finden. Es giebt immer etwas zu sehen. Ob
nun Mücken oder Vegel, oder Amoretten auftre-
ten, jedesmal steckt in einem reizenden Kostüm
ein bildhübsches Mädchen, jedesmal ver-
wirrt sich die Schar der Tanzenden in an-
derer Art, löst sich das scheinbare Durch-
einander in eigentümlicher, lieblicher Weise auf,
jedesmal spielt das, jetzt bereits mit Virtuosität
benutzte, elektrische Licht in einer anderen
Nuance. Etwas mehr Zusammenhang der Hand-
Itmg, etwas mehr Humor und etwas bessere Mu-
sik wären aber dem Ganzen doch förderlich.
Wenn man wieder einmal eine Oper ohne Mu-
sik und darnach ein Ballett geben will, in wel-
chem die Schaustellung weiblicher Wiener Schön-
heiten die Hauptsache ist, so empfehlen wir hiezu
die Titel: „Die Musik auf Reisen" und „Die
Mädchen von Wien".
Vt'lV
Das Heimchen am Herd.
(Oper in drei Abteilungen, frei nach Dickens' gleichnamiger Er«
Zählung von A. M. Willner. Musik von Karl Goldmark. —
Erste Aufführung auf dem k. k. Hofoperntheater zu Wien am
21. März 1896.)
Der socialistische Zug unserer Zeit spricht
sich wie in den anderen Künsten, so auch in der
modernsten Musik aus. Die populärste Kunst-
form derselben, die Oper, ist sehr zu ihrem Vor-
teile davon ergriffen worden. Man behilft sich
jetzt ohne Könige, Grafen und Marquis und hat
mit diesen, im ernsten musikalischen Drama un-
echtes Pathos, in der komischen Oper immer die-
selben 'Rokokonachklänge befördernden Figuren
den letzten Rest jener Haupt- und Staatsaktionen
entfernt, der, wie die Eierschale an dem Küch-
lein, noch immer dem Wesen der längst volks-
tümlich gewordenen, wenn auch hofgeborenen
Oper anhaftete. Weber schon hat den neuen Weg
in seinem „Freischütz" angedeutet, noch entschie-
dener haben ihn Wagner in seinen „Meistersin-
gern", Bizet in „Carmen", Massenet in „Manon"
und „Werther", Smetana und die Jung^taliener
in ihren Bauernopern, Kienzl im „Evangelimann"
betreten. Ich weiss sehr gut, dass von den letzt-
genannten nur die „Meistersinger" und „Car-
202 Tb;^'b^t5^'t;^'t^"t5?^"ti5^'tb^'b^"fc^"b^'b:^"t:^'t?^
men", allenfalls noch Smetanas „Verkaufte
Braut", als Meisterwerke Geltung haben. Die
übrigen sind mehr oder minder rohe Versuche.
Aber sie haben das Volkstum auf der Opembühne
heimisch gemacht und dem Publikum zur Er-
kenntnis verholfeti, dass — um sich lapidar aus-
zudrücken — Lederhose und tiefe Empfindung
keine sich gegenseitig ausschliessenden Begriffe
sind.
Noch etwas wichtiges Neues hat diese mo-
derne, sagen wir, socialistische Strömung ge-
bracht: die allgemeinere Erkenntnis dessen, was,
in Hinsicht auf dramatische Verwertung, musi-
kalisch ist. Aeltere Meister, Mozart, Beethoven,
Weber, wussten das ja auch längst, und eine
eigentliche Neuigkeit ist diese Entdeckimg so
wenig wie manche andere auf diesem oder an-
derem Gebiete. Aber in der Zeit der Meyer-
beerschen Effektoper, der durch das komplizierte
Scribesche Intriguenstück beeinflussten komi-
schen Oper, der in Handlungsüberladung schwel-
genden modernen Operette ist das Verständnis
für das, was dramatisch und musikalisch ist,
nicht nur beim Publikum, sondern auch bei den
Künstlern zum Teil getrübt worden. Buntheit,
übergrosse Reichhaltigkeit der Handlung galt
schon zum guten Teil als Hauptkennzeichen eines
verdienstlichen Textbuches. Ein arger Irrtum.
Gerade das seelische Motivieren, das künstle-
rische Steigern einer verhältnismässig langsam
fortschreitenden Handlung ist Sache der Musik,
nicht ein kaleidoskopartig wechselnden Situatio-
nen atemlos nachhastendes Melodienaufkleben.
Goldmarks neue Oper „Das Heimchen ara
Herd" ist in diesem Sinne ein Kind der neuesten
Zeit. Der Meister, der früher nur mit heroischen,
mythischen Gestalten, mit der Königin von Saba,
Salomo, Sakuntala, Penthesilea und Sappho ver-
kehrte, ist zum Volke „herabgestiegen" — wie
man sich ehemals auszudrücken beliebte — und
hat im englischen Postkutscher John Peerybingle
und seiner Frau Dot ein paar Leute gefunden,
die alsbald seine Liebe, sein ganzes Herz ge-
wannen. Die — was „Situationen" im üblichen
theatralischen Sinne betrifft — sehr einfache,
dem berühmten Dickensschen Hausmärchen ent-
nommene Handlung hat trotz ihrer äusserlichen
Schlichtheit die Eigentümlichkeit, die beteilig-
len Personen in den verschiedensten Seelenzu-
ständen vorzufüliren, sie bietet demnach der Mu-
sik reichliche Gelegenheit, ihr bestes zu geben, ist
also innerlich musikalisch.
Der Librettist Goldmarks, Herr Willner, war
bis jetzt meistens im Ballettgenre thätig und eig-
nete sich dadurch eine gewisse Bühnenroutine an,
die ihm bei Abfassung seines Buches zum „Heim-
chen am Herde" sehr zu statten kam. Auf die-
sem Wege haben sich aber auch ein paar mehr
nach dem Ballett hinüberschielende Einzelheiten
in die Oper eingeschlichen. Die Abschlüsse des
zweiten und dritten Bildes sind — in gutem Sinne
— geradezu ballettmässig. Das Auge hat mehr
zu thun, als das Ohr, die Sprache der Bilder ist
beredter, als die der Worte.
Herr Willner hat die Fabel der Dickensschen
Erzählung alles Beiwerks entkleidet, die Anzahl
204 't:^'t^'fc?*5'fc;^'t^'t:^'fc!^^?^"t5^Tb^Tb5^T;:^"t:«Ti?^
der Personen reduziert und in der Charakteristik
derselben einzelne wichtige Veränderungen vor-
genommen. Die meisten Adaptierungen sind als
völlig dem Zwecke entsprechend anzuerkennen.
Nur was den Charakter der bei Dickens so über-
aus lieblichen Dot betrifft, ist Willner einen
Schritt zu weit geg^gen. Im Märchen begeht
Dot den folgenschweren Fehler, vor ihrem Mann
ein Geheimnis zu haben. Sie erkennt nämlich in
dem von John mitgebrachten „Greise" sogleich
den verkleideten Geliebten — Eduard — ihrer
Freundin, verschweigt es aber. Ein Zufall will,
dass John sie kurz darauf, mit dem einen Augen-
blick unverkleideten Manne im Gespräch findet
und sich betrogen glaubt. Bald erfährt er aber,
dass die Unterredung dem Lebensglücke Eduards
und der Freundin galt, sein Kummer schwindet,
und Frau Dot bekennt in einem entzückend schö-
nen, gemütvollen Gespräche ihre Schuld. Will-
ner lässt seine Dot ein leichtsinniges Spiel mit
dem treuen Herzen ihres Mannes treiben; sie will
ihn eifersüchtig maehen und es gelingt ihr nur
zu gut. Als sich schliesslich alles in Wohlge-
fallen auflöst, erklärt sich Dot nicht schuldig, sie
thut mehr so, als wäre es ihr gutes Recht ge-
wesen, ihren braven John zu sekieren. Dadurch
bekommt sie mehr den Anstrich einer gewöhn-
lichen koketten Dorfschönen, wie solche auf der
Opernbühne zu jeder Zeit heimisch waren. Was
auf die Dickenssche Dot wie ein Schatten fiel,
ist bei der Willner sehen ein Fleck. Und das
um so mehr, als Dot sich in der Oper in jenem
Zustand befindet, in dem sie das Kind — welches
bei Dickens bereits am Leben ist — noch nicht
besitzt, sondern erst erwartet Dieser däm-
merige Zustand der jungen Frau verleiht freilich
andererseits der ganzen Gestalt etwas rührendes,
unantastbares . . . Von mancher Seite ist die
Zulassigkeit dieser, nach unserem Empfinden
durchaus poetischen Nuance bestritten worden.
Wir halten uns an Groethes schönes Wort: „Das
Theater ist bloss für Männer und Frauen, die
mit menschlichen Dingen bekannt sind''. Die im
englischen Original mit besonderer Kunst ge-
zeichnete Figur des Tackleton wurde von Will-
ner gleichfalls verändert, vereinfacht. Er ist
hier nicht der immerhin interessante, boshafte,
verbissene Kerl wie bei Dickens, sondern ein ko-
mischer, ältlicher Liebhaber, dem das schliess-
liche Gefopptwerden gleich zu Anfang auf jedem
Zuge des Gesichts geschrieben steht. Es war aller-
dings im Rahmen des Stückes auch nicht der ge-
nügende Raum vorhanden, um diese Gestalt ana-
log jener in der Erzählung auszuführen. Willner
erkannte ausserdem mit praktischem Blick, dass
es nicht gut sei, diese nicht ganz im Vorderg^nd
spielende Figur mit zu vielen individuellen Zü-
gen auszustatten. Für den Opernzweck genügen
diese etwas primitiven Umrisse. Die Handlung
gliedert sich in drei Abteilungen. Erste Abtei-
lung: Herr John kommt nach Hause und bringt
einen Gast mit. (Etwas gar wenig Inhalt und nur
durch allerlei lustiges Beiwerk auf die Länge
eines Aktes ausgedehnt.) Zweite Abteilung:
Frau Dot erkennt den Gast, macht John eifer-
süchtig, John fällt in den Ballettschlaf und sieht
2o6 t^t^t^'t;^'b^'b^t^t^t;^X>^'t:;^t^t?^'b^
im Traume allerlei erfreuliches. Dritte Abtei-
lung: Lösung des ehelichen Zwistes, Eduard —
der Gast — bekommt sein Mädchen, Tackleton,
der sich stets vergebens um dasselbe bemüht, kann
mit langer Nase abziehen.
Aus diesem praktisch geformten Textbuch
hat Goldmark nun eine Oper geschaffen, die ich
analog dem „Schauspielerstück" eine Sängeroper
nennen möchte. Jede Rolle, jede Scene ist effekt-
voll. Jede Musiknummer ist durch einen Secco-
Recitativ-Zaun eingefriedet und wirkt mit un-
fehlbarer Sicherheit. Goldmark gehörte nie zu
den Ultra-Wagnerianern, die, dem Meister un-
gleich, jede Form perhorrescieren. Er schuf —
vielleicht der Erste, der das gethan — seine
früheren Bühnenwerke in jener Kompromiss-
form, die Smetana und die neueren Italiener
kultivierten und kultivieren. Im „Heimchen am
Herd" ging er, unbeschadet seiner stellenweise
unverkennbar durchbrechenden Individualität,
noch einen Schritt nach rückwärts, gegen das
Singspiel, gegen die Operette. Mehrere Gesänge
Tackletons, der Spottchor in der dritten Abtei-
lung und anderes zeigen auffallende Verwandt-
schaft mit diesen älteren, primitiveren Gestaltun-
gen. Aus dem altwienerischen Rock guckt aber
doch Goldmarks scharf geschnittener Kopf her-
vor mit all seinem Geist und seiner Gutmütigkeit.
Ich möchte das letztere ganz besonders betonen.
Den reichen Fonds von Herzlichkeit, den Gold-
mark besitzt, hat er noch nirgends so zur Geltung
gebracht, wie in seiner neuen Oper. Etwas so
inniges wie das Liedchen : „Hab' dich auch ohne
Geschmeide gern", hat der Meister kaum noch
geschrieben. — Mit besonderer Vorliebe benutzte
Goldmark im „Heimchen" Melodien, wie man
sie von der Traunse6r Salinenkapelle zu hören
bekommt. Die mit echtem Bauemhumor gesät-
tigte Spottscene, sowie das — dieselbe Musik ent-
haltende — Vorspiel des 3. Aktes sind ganz erfüllt
davon. —
Goldmark, der in Wien nicht nur als Künstler,
sondern auch als Mensch Liebe und Verehrunjj
geniesst, wurde gelegentlich der Erstaufführung
seines neuen Werkes, wie ein Liebling gefeiert.
Seine kleinste Oper hatte den grössten Erfolg.
„Zanetto.**
(,Le passant" von Coppee, italienisch von Targioni'Tozzetti,
'* "^ascagni. — Erste Auffuhrung in *"*-- '^»--'^—
a. d. Wien] am 1. September 1896.)
Es wird immer klarer, dass der ungeheuere
Lärm, der seinerzeit mit Mascagni gemacht
wurde, zum guten Teil zu jenen Modethorheiten
gehörte, die die Menschheit von Zeit zu Zeit be-
fallen, und die so lange vorhalten, bis sich eines
vor dem anderen geniert und — sich allesamt
einer neuen Modethorheit zuwenden. — Mit
einem groben, aber vollen, gesunden Accord be-
gann Mascagfni sein Spiel. Die „Cavalleria"
schlug volkstümliche Töne an, der junge Maestro
fand für manche Züge des ausgezeichneten Text-
buches gleichwertigen Ausdruck, es schien, als
brodelte in ihm ein ganzer Vulkan von glühen-
dem Erze gleicher Musik. Aber die „Cavalleria"
war — wie sicli nunmehr immer deutlicher
herausstellt — keine durch Ueberkraft hervor-
gerufene Explosion, sondern so ziemlich alles,
was Mascagni zu bieten hatte. Nachdem durch
das Sicherheitsventil jener sizilianischen Blut-
oper der Spiritus entwichen war, blieb nur ein
bescheidenes, lauwarmes Wässerlein zurück, das,
immer wieder aufgewärmt, immer fader und fa-
der zu schmecken beginnt Schon „Freund Fritz**
stand — trotz einiger unverkennbar feineren
Einzelnheiten — gegen die „Cavalleria" zurück,
„Die Rantzau" fand man bereits ziemlich kläg-
lich, „Ratcliff" und „Silvano" waren nicht mehr
über die Bühnen zu bringen, und für „Zanetto"
wird die Wien gerade breit genug sein, um ihm
den Weg in die übrige Welt abzuschneiden.
An Autoren fehlt es dem neuen „Einakter"
keineswegs. Coppee hat mit seiner, am 14. Ja-
nuar 1869 im Odeon zum erstenmal gegebenen
Komödie „Le passant" nicht nur den Stoff, son-
dern eigentlich das ganze Textbuch geliefert, der
Leiblibrettist Mascagnis hat die „Striche" ange-
bracht und der neue Direktor des Rossini-Kon-
servatoriums steuerte das bischen Musik bei, mit
dem das kaum „glückhaft' Schiff" der Novität
leicht genug befrachtet ist.
In Zanetto und Silvia, den zwei einzigen Per-
sonen des Stückchens — stehen sich zwei Typ^n
aus der ewigen Komödie der Liebe gegenüber:
der junge Anfänger und die übersättigte Auf-
hörerin, die erst an dem seligen Ueberschwang
des anderen und einem in ihrer Buhlerinnen-
brust zum erstenmal aufkeimenden heissen Ge-
fühle gewahr wird, dass sie in ihrem „liebe"-rei-
chen Lebens keine Ahnung von der echten, gros-
sen Liebe erhalten. Sie kämpft mit immer heftiger
sich vordrängenden Wünschen und entlässt
schliesslich den ihr wild entgegenkommenden
Jüngling ungebrochen, ungenossen. In einem
Strom von Thränen löst sich die Qual ihres Her-
Im Foyer, I4
2 lO \:^\:^'X:^\:^'^:^X::^'^::^'^:^'X::^'X::^\::^'\^^
zens. „Sei gesegnet, Liebe, dass ich noch weinen
kann."
Es ist nicht kurzweg zu sagen, dass Mascagfni
mit diesem Stoffe einen unglücklichen Griff ge-
thai]. Hätte er vermocht, diese durchaus inner-
liche Handlung mit einer ebenso innerlichen Mu
sik zu durchleuchten, so wäre der Versuch ge-
lungen. Aber seine Musik ist lediglich die Ar-
beit eines Theaterhandwerkers. Er drückt im
richtigen Momente auf den richtigen Taster, zieht
an den richtigen Schnüren und Hebeln .... aber
kein höherer Wille lenkt seine Hand .... sein
Werk ist nüchternes Menschenwerk. — Als ge-
wiegter Praktiker hat Mascagni auch in seinem
„Zanetto" nicht auf eine kleine Ueberraschung
vergessen. Sie besteht in der bei offenem Vor-
hange vom Chore — ohne Text — gesungenen
Ouvertüre. Ob das die „Stimmen der Nacht"
sein sollen, oder ferner Gesang von Heimziehen-
den, ist nicht gesagt. Wir hören nur einen be-
quemen Chorus, der die passendste Einleitung
abgiebt zu einer so bequemen Oper, in der als
raschestes Tempo ein quasi Alleg^etto erscheint.
Trag und dickflüssig schleicht Stück für Stück
dahin, und nur in dem Solo der Silvia „No, non
andas da Silvia" (B-dur) nimmt die Musik einr
mal einen bemerkbaren Aufschwung, wenn man
sich überhaupt so hochtrabend ausdrücken darf.
Alles übrige sind Mascagnische Redensarten, ge-
würzt mit dem bekannten harmonischen und in-
strumentalen Mascagni-Pfeffer. Man weiss immer
schon im voraus, was nun kommen wird. Der
junge Maestro lässt sichs dran genügen, seine
Sprache zu sprechen, versäumte es aber, in der-
selben etwas Neues mitzuteilen. Wenn er sich
nicht völlig diskreditieren will, wird er gelegent-
lich mit einem Werke hervortreten müssen, in
dem er nicht etwas sagt, sondern auch etwas zu
sagen hat.
Die zwei Rollen, welche „Zanetto" enthält,
sind im gewöhnlich theatralischen Sinne nicht
undankbar. Silvia hat manches ausdrucksvolle zu
singen, Zanetto bietet einer Künstlerin Gelegen-
heit, in ein paar Scenen das Bild erwachender
Sinnlichkeit auszumalen. Gestern hat das eine
der grössten Bühnensängerinnen unserer Zeit,
Frau G. Bellincioni, gethan. Wie sie, erst
noch ein eckiger, halb knabenhafter Jüngling,
an der Brust eines Weibes . allmählich die Macht
des Temperaments zu fühlen begann, war ebenso
bewunderungswürdig durchgeführt, wie der ge-
sangliche Teil ihrer Aufgabe. Aber diese Oper
kann auch die Kunst einer Bellincioni nicht
retten.
«^
14*
Der Chevalier d'Harmental.
(Komische Oper in drei Akten. Nach dem Roman von Alexander
Dumas von Paul Perrier. Deutsch von Max Kalb eck. Musik
von Andr^ liessager. — Erste Aufführung in der k. k. Hofoper
zu Wien am 27. November 1896.)
Die Hofoper in Wien hatte eine Zeitlang ent-
schiedenes Glück mit Opern, die in Paris durch-
gefallen und an etlichen, als Versuchsstationen
bekannten deutschen Theatern von einem ähn-
lichen Schicksal ereilt worden waren. „Manon",
ein vorher in den weitesten Kreisen unbekanntes,
nur dort oder da abgelehntes Stück, brachte es
hier, dank einer vorzüglichen Besetzung der
Hauptrollen durch Fräulein Renard und Herrn
van Dyck zum Range eines Zug- und Kassen-
stücks. Für Massenet, der bis dahin in Frank-
reich nur als galanter, unbedeutender Komponist
gegolten, hatte. das die angenehme Rückwirkung,
dass man ihn in seiner Heimat nun für einen
heimlichen „Klassiker" zu halten anfing. Denn
dass man in deutschen Landen selbst in den
Gast- und Kaffeehäusern nur klassische Musik
spielt, gilt jenseit der Vogesen für ausgemacht.
— Herr van Dyck, der in Wien einen kolossalen
Gehalt dafür bezieht, dass er in Paris singt, bot
sich nun als natürlicher und wie von der Vorseh-
ung eigens für dieses Geschäft präparierter Ver-
mittler zwischen der französischen — nicht
Durchschnitts-, sondern — Durchfallsproduktion
und dem kaiserlichen Theater in Wien an. Eines
Tages stürzte er, der eben wieder auf einem Ab-
stecher nach Wien gekommen war, ins Bureau
Direktor Jahns: „Direktor, ich habe wieder eine
durchgefallene Oper . ." rief er glückstrahlend.
Der Direktor beeilte sich, das Werk — es ist die
komische Oper „Der Chevalier d'Har-
mental" von A. Messager — zu erwerben ;
die ersten Kräfte des Hofinstituts wurden mit
der Ausführung der Rollen betraut, Herr Direk-
tor Jahn leitete das Studium selbst, .... aber
die Erfahrung, die alle Vertrauensseligen bei der
Premiere machen mussten, war keine selige, son-
dern eine recht traurige. Der Chevalier wurde
als unechter Ritter vom Geiste entlarvt, und man
liess ihn merken, dass sein Besuch am Wiener
Hofe hatte unterbleiben können. Dafür soll er
in der — Apotheke verewigt werden. Wem Trio-
nal und Sulfonal nicht mehr helfen, für den
giebt's jetzt — Harmental.
Das Sujet der Oper stammt aus einem Stücke
des älteren Dumas, das dieser einem eigenen Ro-
man entnahm, welcher wieder zu einem Teile der
wirklichen Pariser Hofgeschichte nachgebildet
war. Es handelt sich um eine zur Zeit der Re-
gentschaft Philipps von Orleans spielende Intri-
gne, deren Haupt in Wahrheit der Fürst Calla-
mare war, der diese Rolle in unserm Theater-
stücke an den Obersten Chevalier d'Harmental
214 Tb?^t5^"t5^Tb?^li5^t:5?^T^?^'t5^Ti:?^t^:?^"^^
— ein obskures Mitglied jenes Komplotts — ab-
treten musste. Man wollte den Herzog von Or-
leans beseitigen und dafür Philipp V. von Spa-
nien die Regentschaft ausliefern. Dieses patrio-
tische Geschäft scheitert an einem Zufalle; statt
Orleans werden die Verschwörer festgeseitzt,
und Harmental soll seinen Kopf verlieren. Sein
Glück ist, dass er sein Herz kurz vorher an ein
Mädchen — Bathilde, die Pflegetochter des könig-
lichen Bibliothekars Buvat — verloren, die sich
zum Regenten begiebt und ihn daran erinnert,
dass ihr Vater ihm einst das Leben rettete. Diese
längst verflossenen Lebensrettungen sind bekannt-
lich eine schonendere Form des Opern-Mutter-
mals . . . Orleans lacht aber nicht, willigt zuerst
gnädigst in eine formelle Trauung der Lieben-
den vor Harmentais Hinrichtung, schliesslich
aber verzeiht er vollständig und überlässt es Ba-
thilde, den geliebten Mann über den Begriff be-
schworener Treue aufzuklären. Mit dem Urteil:
„Lebenslängliche Ehe" schliesst das Stück.
Der Komponist, Herr Andre Messager,
ist kein Neuling auf der Bühne. Er schrieb eine
Anzahl Operetten für kleinere Pariser Bühnen
Folies Bergere, Renaissance, Bouffes Pari-
siennes — , ein Ballett, „Les deux pigeons", für
die Grosse Oper und hatte einiges Glück mit der
1890 zuerst in Paris gegebenen komischen Oper
„La Basoche", die auch den Weg über einige
deutsche Bühnen fand. Wir leben viel zu lange
in Wien, um das natürliche zu erwarten, nämlich
dass die Generalgewaltigen unserer Hofoper nach
diesem mehrerenorts erfolgreich aufgeführten
Stücke greifen würden. Dafür versicherte man
sich des unsicheren „Chevalier d'Harmental", der
hier sogleich eine Verschwörung gegen alle jene
harmlosen Leute zu stände brachte, die im Thea-
ter edle, aber doch geistreiche Unterhaltung
suchen. Herr Messager zeigt sich in seiner neuen
Oper von allen guten Geistern der Tonkunst
verlassen. Weder die dramatischen, noch die
lyrischen Partien sind musikalisch gedacht Ein
Intriguenstück, wie dieser „Chevalier d'Harmen-
tal", verlangt eigentlich nur in den kleinsten
Teilen seiner Handlung nach Musik. Der Kom-
ponist muss also entweder auf das Ganze verzich-
ten, oder — wenn er das nicht thut — die Musik
in jener für den Hörer angenehmen Weise ok-
troyieren, wie es ältere Meister,namentlich Auber,
so virtuos zu thun verstanden. Es bleibt ja noch
immer Gelegenheit, das dramatisch Fortschrei-
tende pikant zu behandeln und die paar lyrischen
Ruhepunkte mit aller Macht musikalischer, me-
lodischer Kunst herauszuarbeiten. Messager hat
in seiner Novität den Missgriff gethan, das Dia-
logische melodisch so weit „aufzuhöhen", dass
es fast wie feste Form aussieht, die lyrischen
Partien aber so wenig zu konzentrieren, dass sie
sich von dem übrigen zu wenig und nicht einmal
vorteilhaft abheben. Das beste in der langatmigen
Oper sind ein paar geistreich erfundene tmd or-
chestrierte Begleitungen zu Dialogen und das
Liedchen eines der Verschwörer, Roquefinette.
Da schaut doch der Charakteristiker, der prakti-
sche Theatermensch aus der Kutte dieses Musik-
Enthaltsamkeits-Fanatikers hervor. Mag es an
2l6 t?^'t3^'b?^'t5^^5^^>^t:^^x^ti;^'b5^X:^t^^:^^:^
diesen Stellen auch etwas nach Folies Bergere
oder ßouffes Parisiennes duften. Doch noch
immer besser, als die aufgelegte Langeweile alles
anderen. Die Liebesduette, selbst in ganz schwa-
chen Opern meistens etwas wärmer und musika-
lisch inhaltreicher, sind in diesem Stücke matt
und ohne Begeisterung. Die Liebenden umschlin-
gen sich, schwören sich Treue auf einem hohen
A, Treue auf einem hohen B — aber man glaubt
nicht an die Sache, denn der Komponist hat all
ihr Singen von vornherein mit dem Banne musi-
kalischer Impotenz belegt.
Es soll nicht verschwiegen werden, dass an
gar vielem eine theatertechnisch sehr gewandte
Hand, an der Behandlung des Orchesters der
feine Sinn eines über das gewöhnliche Geschick
weit hinaus gereiften Künstlers zu erkennen sind.
Eine Oper lebt aber, so gut wie alle Musik, von
der Oberstimme, von der Melodie. Das gilt so
gut von Strauss' und Offenbachs, wie von Mo-
zarts und Wagners Bühnenwerken. Diejenigen
die den grossen Bayreuther Meister für die heut-
zutage mehr als früher zu Tage tretende konfuse
Arbeitsmethode in der Oper, also in letzter Linie
für die vielen Misserfolge schlechter Opern ver-
antwortlich machen wollen, kennen weder die
Werke noch die Schriften dieses genialen Man-
nes. Nur der missverstandene Wagner richtet
Unheil an. Man hat niemals Esmarch oder Bill-
roth angeklagt, weil dieser oder jener ihrer Schü-
ler ein moderner Dr. Eisenbart geworden. Warum
also Wagner allerlei in die Schuhe schieben, wo-
für er nichts kann? Er selbst war es, der noch
bei Lebzeiten die Wahrnehmung machen musste,
dass sein Wirken gerade bei Kunst Jüngern zu-
weilen einer durchaus unrichtigen Auffassung
begegnete. Da warnte er und erklärte: „Ihr
müsst anders arbeiten, als ich !" Damit redete er
gewiss nicht der Verleugnung seiner Kunstprin-
cipien das Wort, aber er meinte, jeder müsse
eben seine eigene Musik schreiben, für die sich
dann von selbst die dafür geeignetste Kunstform
ergebe. Das aber ist es, was so viele, und unter
ihnen auch Herr Messager, unterlassen. Sie
nehmen eine fremde Form und machen keine
eigene Musik. Das Publikum wendet sich mit
Recht von solchen Dingen ab. — Der „Chevalier
d'Harmental" fiel durch, als wäre er mit — zwei
Preisen gekrönt worden. —
Die Göttin der Vernunft.
(Operette von Willner und Buchbinder. Musik von )oh.
S trau SS. — Premiere Wien. Theater an der Wien. März 1897.)
Die Göttin der Vernunft ist dieser Tage dort
erschienen, wo ihr kein Mensch je zu begegnen
erwartete : auf der Operettenbühne. Johann .
S t r a u s s und seine zwei Librettisten, die Her-
ren Willner und Buchbinder, haben sie
so weit gebracht. Allen jenen zürn Tröste, die
befürchten, dass nun eine vernünftige Operette
entstanden sei, teilen wir mit, dass dem nicht so
ist. „Die Göttin der Vernunft" besitzt
zwar einen ganz guten Kern, um den aber so viel
unsinniges, unzusammenhängendes gewickelt
wurde, dass davon nicht viel sichtbar blieb. Wir
möchten hiefür die Textdichter nicht allein ver-
antwortlich machen. Es ist hier Usus, dass
ausser den auf dem Zettel genannten noch sämt-
liche Darsteller, ja sogar der Sache ganz Fern-
stehende ihren „guten Rat" beisteuern und somit *
schliesslich ein Mixtum entsteht, das kaum mehr
einem Theaterstück, jedenfalls keinem guten
Theaterstück, ähnlich sieht.
Den sehr entfernten Hintergrund zur neuen
Operette gab die französische Revolution ab. Das
ist nicht unpraktisch. Sansculotten kann man
bei dieser Gelegenheit auf die Bühne bringen,
ohne gegen die historische Wahrheit zu Ver-
stössen .... halbwüchsige Sansculotten, die ja
doch durch Damen dargestellt werden müssen. . . .
Damit die Sache nicht zu ernsthaft werde, ist sie
nach Chälons verlegt, wohin eine junge Gräfin
Nevers mit ihrem Kammerzöfchen flüchtet, um
hier durch drei Akte aufgehalten und zuletzt
durch ihren Verwandten, den Herzog von Braun-
schweig, aus den Klauen der Republikaner und
all den Fährlichkeiten einer Operettendiva geret-
tet zu werden. Dass sie den, für „ehrbare An-
näherungen" und Liebesduette bestimmten zwei-
ten Akt nicht ohne praktischen Erfolg vorüber-
gehen lassen werde, war bei den vielen Husaren,
die im ersten Akte auftraten, leicht vorauszu-
sehen. Operettenliebhaberinnen wählen bekannt-
lich immer mit der Stimmgabel in der Hand. So
konnte auch Komtesse Nevers (Fräulein Dir-
ke n s) nicht fehl gehen und hatte sich alsbald für
den Mann des hohen a, den Kapitän Robert (Herr
Streitmann) entschieden. Als der Nähr-
vater alles, der Gräfin und ihren Fluchtplänen
günstigen, erscheint ein erzdummer Privatier
Bonhomme (Herr B 1 a s e 1), der eben von Paris
zurück nach Chälons kommt, noch ganz voll von
den Eindrücken, die er bei der seltsamen In-
thronisation der „Göttin der Vernunft" empfing.
Er beschreibt die Feierlichkeit ziemlich ausführ-
lich. . . . Jedes Wort ist dekolletiert, jedes Vers-
lein ebenso leicht als hoch geschürzt. . . Dass er
im Trubel des Festes mit der „Göttin der Ver-
nunft" förmlich vermählt worden war, erzählt
2 20 't5^t5^T^^'b?^^?^"t;?^'b^'b;^'b^'t:^'b^'t?^'b:^Tb:^
Bonhomme wie einen Fastnachtsulk. Aber die
Göttinnen der Operette lassen nicht mit sich spas-
sen. . . Kaum, dass er sein Erlebnis zum besten
gegeben hat, erscheint sie selbst, die „Göttin der
Vernunft" in Gestalt der Volkssängerin Erne-
stine. In der Geschichte hiess sie ^lad. Maillard.
Wem da etwa Maillart einfallt, dem sagen wir,
dass das, was Fräulein Emestine in der Operette
schwingt, nicht das Glöcklein des Eremiten ist.
Nach dem vielen, was man vor dem Auftreten der
populären Dame von ihrem — Kleidermangel er.
zählte, kam uns die „Göttin der Vernunft" (Frau
K o p a c z i) selbst anfangs ziemlich solid vor.
Allerdings drohte sie, — es scheint das schon
französische Sitte zu sein — immer mit „Enthül-
lungen", aber es ging verhältnismässig glatt ab.
Sie sparte sich die grössten Trümpfe wohl für
die „Kammer" auf. Uebrigens zeigte sie sich als
Kind der neuesten Zeit. Ihre Pikanterien gab sie
fast nach Leitmotiven zum besten. Eine Polka
bedeutete z. B. jedesmal : Strumpfband zeigen . . .
Der Zusammenhang besagter Göttin mit der
Handlung ist, wie sie selbst, etwas locker. Man
könnte die Rolle g^anz gut, vielleicht sogar zum
besten des Stückes, auf eine gesanglose Reprä-
scntationsrolle zusammenstreichen^ die von jeder
hübschen Anfängerin darzustellen wäre. Ich
meine, andere Bühnen werden diese heilsame
Operation ohnehin vornehmen müssen, denn sie
sind froh — man kann dieses Wort in zweierlei
Sinn nehmen — nur eine Diva zu haben. Hier,
im Theater a. d. Wien, wo die Dirkens und die
Kopaczi beschäftigt sein sollen, musste die un-
interessante Rolle der Göttin entsprechend zuge-
richtet werden. Die Kosten der Zurichtung be-
zahlten*die Librettisten auf dem Altare der Ver-
nunft.
Der Dialog ist im Anfange des Stückes etwas
matt, hebt sich aber später, bringt zuweilen recht
gelungene Witzworte, leider aber auch recht viele
Eindeutigkeiten. — Johann Strauss hat bei der
Abfassung seiner Partitur weit weniger mit dem
Notenpapier, als mit der Phantasie, mit Melodien
gespart. Man kann eigentlich nur zwei, höchstens
drei Nummern als wohlgelungene, feine Stücke
hervorheben, das graziöse Auftrittslied Komtesse
Nevers' — jede Person hat ein Auftrittslied — ,
das stimmungsvolle Gartenduett zu Beginn, des
zweiten Aktes — je zwei Hauptpersonen haben
ein Duett zu singen — und das drollige Terzett
der Geheimpolizisten, das sich in Ermangelung
anderer Terzette im dritten Akt wiederholt. Ein
Marsch im ersten Akt auf den Text „Der Schöp-
fung Meisterstück ist der Husar" hat, wie man
sagt, „gezündet". Das Publikum, das immer nach
neuem schreit, hat stets die grösste Freude, wenn
es etwas Altes in anderer Verpackung bekommt.
Diesen Husarenmarsch mit seiner mehr als volks-
tümlichen Melodie hat jeder hundertmal gehört,
und doch pac:kt er manche wieder durch seinen
schneidigen Rhythmus. Auch zahlreiche von den
Walzern, Polkas und Galopps, die sich in der
neuen Operette ablösen, sind wohlbekannt. Viel-
leicht nicht Note für Note. Aber der Habitus der
Melodien ist derselbe und gerade nicht immer ein
sehr vornehmer. Am wenigsten gefielen uns,
222 'fc;^t5i^Xi:^Xi:^'t:^t^"t:^"b?^Tb?^t5J^T^5^'t5^'fc^'t5^
wie stets bei Strauss, die sentimentalen Sachen.
Da streift der Walzerkönig den Volkssängerton.
Schiller hat gewiss etwas anderes im Sinne ge-
habt, als er schrieb: „es soll der Sänger mit dem
König gehen". Durchweg anmutig, wenn auch
oft nicht originell, erscheint der Wiener Meister
in den Tanzrhythmen. Seine Grazie verlässt ihn
auch dann nicht, wenn die Muse etwas auf dem
Weg zurückgeblieben ist. Das Bestrickendste ist
aber der Orchesterklang. Die Instrumente be-
wegen sich bei Strauss wie lebendige Wesen.
Jedes spricht seine eigene Sprache, und der Zu-
sammenklang aller ist reinster Wohllaut. In
dieser Richtung sind namentlich die Mondschein-
musik und das schon erwähnte Anfangsduett des
zweiten Aktes wahre Meisterstücke. So sind die
allerbesten Nummern am allerbesten orchestriert.
Man sieht daraus genau, worauf Strauss beson-
ders Wert legt.
Die Aufnahme der Novität war, wie bei
Straussschen Werken üblich, eine sehr g\xtt. Alle
Kränze wurden an Mann und Weib gebracht,
auch ein paar unnütze Wiederholungen erzwun-
gen. Ueber die Haltbarkeit des Erfolges gehen
die Meinungen sehr weit auseinander. Da fünf-
zig Aufführungen kontraktlich festgesetzt wur-
den, so ist nicht daran zu zweifeln, dass das halbe
Hundert von Aufführungen zustande kommt.
;^
.,Der Rattenfänger von Hameln."
(Oper in fünf Akten. Dichtung — mit Zugrundelegung der Sage
und der Jul. Wolff'schen „Aventiure" — von Fr. Hof mann.
Musik von Viktor E. Nessler. — Erste Aufführung im Theater
an der Wien am 30. April 1897.)
Auf einem Hause des hannoverischen Städt-
chens Hameln befindet sich — nach Grimm —
eine Inschrift mit goldenen Buchstaben: „anno
1284 am dage Johannis et Pauli war der 26. junii
dorch einen piper mit allerlei farve bekledet ge-
wesen 130 Kinder verledet binnen Hamelen ga-
bon (orn?) to calvarie bi den koppen verloren".
Diese Tafel erzählt in Kürze die Sage vom Rat-
tenfänger, der nach Goethes Wort „gelegentlich
ein Mädchenfänger", „mitunter auch ein Kinder-
fänger" gewesen. Er sollte die ehrsame Stadt
von dem mächtig anwachsenden Volk der Nager
säubern; da ihm der Rat aber den vereinbarten
Lohn vorenthielt, führte er die Kinder der Stadt
in den Poppenberg. Erst in Siebenbürgen soll er
mit denselben wieder ans Licht des Tages gekom-
men sein. Die Sage lässt die Siebenbürger Sach-
sen als die Nachkommen jener Entführten gelten.
Oftmals haben sich bildende Kunst und Dich-
tung mit jener Sage befasst. In neuerer Zeit war
2 24 ^5^t:5^Ti5!^Tbs^'t?'^Xi5^Ti5=^Ti:^Ti?^Ti?^Tb^
es ganz besonders dem Berliner Dichter Jul.
Wolff vergönnt, mit seiner in den Siebziger- Jah-
ren erschienenen Aventiure „Der Rattenfänger
von Hameln" Aufsehen zu erregen. Ob es die
alte Sage oder die neuen Verse waren, die den
Erfolg entschieden .... Die Thatsache, die sich
in einer Unzahl Neuauflagen des Buches buch-
händlerisch-praktisch ausdrückte, steht fest. Bis
jetzt hat sich die Wolff sehe „Aventiure" eine ge-
wisse Unter strömungs-Populari tat zu erhalten ge-
wusst. Für genauer Zusehende war das Affek-
tierte, Geschwätzige, Gemachte der Sache wohl
gleich anfangs bemerkbar. Mit reizender Ironie
hat sich P. Heyse in seiner Epistel an Emanuel
Geibel gegen diese und ähnliche Dichtungen aus-
gelassen, die „mit Hei ! und Ha" und „Govenanz",
mit dem „MaskentrÖdel guter, alter Zeit" für die
innere Leere zu entschädigen suchen, gegen die
Dichter, die sich gewaltige „Helden" dünken,
wenn sie ihr „Lichtlein auf den Scheffel" stellen.
In dem nach Erscheinen des „Rattenfänger"
entstandenen, freilich rasch verrauschenden Be-
geisterungsrummel wurde der für die jetzige
Generation neu aufgefundene Stoff wiederholt
als Vorwurf für dramatische Bearbeitungen be-
nützt. Ein junger Wiener Komponist glaubte
darin das richtige Sujet für eine Oper gefunden
zu haben, ausserdem der erste zu sein, dem diese
glückliche Idee komme. Als er sich an Jul. Wolff
wandte, um sich die Erlaubnis zur Benützung
der Fabel der „Aventiure", eventuell einiger der
eingestreuten Lieder einzuholen, antwortete der
Dichter unter anderem : „Ich warne Sie — halte
das für meine Pflicht! — vor diesem Ratten-
fänger, tmd behaupte noch einmal: es ist kein
Opernstoff ... Es haben sich schon mehrere
daran versucht und eingesehen, dass ich recht
habe . . . Noch muss ich Ihnen mitteilen, dass
ich auch einem Komponisten in Leipzig, Herrn
Viktor Nessler, dieselbe Erlaubnis, wie Ihnen
jetzt, erteilt habe, und nach einer mir unlängst
(es war dies im Augfust 1877) gewordenen Notiz,
muss seine Oper jetzt schon ganz oder ziemlich
fertig sein ... !" Der Wiener Hess den Hameler
liegen. Herr Nessler, damals Chordirektor
am Leipziger Stadttheater, erschien am 19. März
1879 ™^ seiner fünf ( !) aktigen romantischen
Oper auf dem Spielplan und hatte damit einen
schönen Erfolg. Das Werk ging über viele
deutsche Bühnen, wenngleich es nie jene Beliebt-
heit erlangte, wie der, 1884 erschienene, den
Tiefpunkt der deutschen Philisteroper bezeich-
nende „Trompeter von Säkkingen". Der dra-
matische Nerv — wie der Dichter richtig er-
kannte — mangelte dem Textbuche.
Die Handlung des in fünf Akte und eine ganze
Anzahl von Bildern zerfallenden Librettos
schliesst sich ziemlich genau an die Jul. Wolff-
sche Dichtung an. Hunold Singuf, ein fahrender
Sänger, nebstbei Kammerjäger und Schwarz-
künstler, erbietet sich dem Rat der Stadt Hameln,
gegen hundert Mark Silber die das Städtchen
förmlich bedrohenden Ratten und Mäuse zu ver-
treiben. Unter schweren Bedenken wird ihm der
Lohn zugesagt. Seine viele freie Zeit bringt Hu-
nold mit Singen hin, umsomehr, als er von den
Im Foyer. 15
226 t:^t^t^t;«"t:^'t?^"b5^t^t^"t^"t5^"t?^t^"b^
Hamelern jeglichen Geschlechts und Alters nie
mit der Bitte „Fang* unsere Ratten", sondern
immer mit den Worten „Sing* uns ein Lied!"
empfangen wird. Unter all den jungen Mädchen
des Ortes erwählt sich Hunold die schöne Ger-
trud, eines Fischers Tochter, die er nun auch
eiligst ihrem bisherigen Verehrer Wulf, einem
Schmiede, abspenstig macht. Es ist daher nur
begreiflich, dass sich der mit so vielen Neben-
sachen Beschäftigten eine kleine Ungenauigkeit
zu schulden kommen lässt, und dass — zufällig in
des Bürgermeisters Keller — noch ein „Ratten-
könig" zurückbleibt. Nun will der Rat der Stadt
dem Fahrenden den bedungenen Lohn verweh-
ren, er aber macht sich durch einen gleichsam
mittels magischen Einflusses erzwungenen Kuss
von den Lippen des Bürgermeisters-Töchterleins
Regina bezahlt. Daraufhin grosser Aufruhr,
Verhaftung und Verurteilung des Uebelthäters,
den aber die hochherzige Gertrud dadurch vom
Tode errettet, dass sie ihn nach altem Rechte für
sich begehrt. Da sie sich von Hunold verraten
glaubt, sucht sie den Tod in den Wellen. Der
Rattenfänger aber entführt die Kinder Hamelns
in den sich vor ihm öffnenden Berg, nach dem
Lände „mit sieben Burgen"
Herr Hofmann, der Librettist, hat wahrschein-
lich im Verein mit Nessler oder doch mit liebe-
vollster Rücksichtnahme auf dessen Wünsche
sein Buch ausgearbeitet. Ein Lied folgt dem an-
deren, jedes süsslicher und salbungsvoller als
das vorhergehende; dazwischen ein paar Duette,
ein paar Chöre, in deren gemütlichem Singsang
der Komponist sein liedertafelfreudiges Herz
ausgiessen konnte. Es wird uns unendlich schwer,
aus der Stammtisch-Musik des „Rattenfängers"
irgend etwas hervorzuheben, das auch nur einigen
Anspruch auf Beachtung hätte. Vielleicht kann
man, ohne alle guten Geister der deutschen Oper
zu verscheuchen, das Frauenduett und das kano-
nische Ensemble im zweiten Bilde, den Gesang
Hunolds an Regina und seinen Abzug mit den
Kindern am Schlüsse der Oper als einigermassen
über das Allergewöhnlichste hinausgehend be-
zeichnen. — Ein besonderes Wort verdient die
Instrumentation der Oper. Sie ist so ziemlich das
geistloseste, was je auf diesem Gebiete geleistet
wurde. Meist gerade nicht hässlich, aber unsäg-
lich hausbacken und ordinär.
Woher nun aber der Erfolg des Werkes?
Wohl vor allem durch die gute Rolle des Hunold,
die stimmkräftige Baritonisten immer wieder ein-
lädt, sich damit zu produzieren, ausserdem der,
allen Gesangpartien nachzurühmende g^te Vokal-
satz und — die in Norddeutschland mehr als
bei uns schier unbesiegliche Vorliebe für falsche
Sentimentalität, für Konditor-Lyrik, die im „Rat-
tenfänger" wahre Orgien feiert.
... Ob dem „Rattenfänger" die Wiener Kin-
der so gerne nachfolgen werden, wie die Hame-
1er Kinder dem Rattenfänger von Anno dazumal ?
Es ist doch einige Zeit seither vergangen.
^
15*
Die Boheme.
(Scenen aus H. Murgers „Vie de Boheme" in vier Bildern von
G. Giacosa und L. Uli ca. — Musik von Giacomo Puccini. —
Erste Aufführung im Theater an der Wien, 5. Oktober 1897.)
H. Murgers „Vie de Boheme" ist eines der
ersten Bücher der Grisettenlitteratur. Es hatte
nur an Mussetschen Schriften Vorgänger ; hinter-
drein kam zwar manches Bedeutende, aber auch,
an Gefolgschaft immer anwachsend, jene litter a-
rische Burgmusikgesellschaft, die allgemach von
Bücherschränken, Leihbibliotheken und Theatern
Besitz nahm und jetztgewissermassen einen „vier-
ten" oder „fünften Stand" bedeutet, mit dem man
zu rechnen hat. — Alle die Grossen, Kleinen tmd
Kleinsten sangen und singen das hohe Lied vom
niederen Weibe in einer eigentümlichen Tonart
mit übermässigen und verminderten Intervallen,
wunderlichen Harmonien und unmöglichen Ka-
denzen. Für das Publikum besteht der Reiz der
neuen Richtung wohl hauptsächlich darin, dass
es ungeniert einen Blick in das „Nur für Erwach-
sene" zugängliche Extrakabinett des grossen Pa-
noptikums „Welt" machen kann, nebenher in dem
Prickel, den das Moral-Protzentum dem Wohl-
situierten gewährt. . .
Die Musiker erkannten bald den Wert, den
die neuen, unverbrauchten Stoffe für ihre Opern-
texte gewinnen konnten; lebten in ihnen doch
wenigstens Menschen unserer Zeit, nicht die ver-
staubten, abgewirtschafteten Marquis und Prin-
zessinnen mit ihren Puderzöpfen, Reifröcken und
Koloraturen. Namentlich die Ron^anen hatten
rechtzeitig den Mut, kräftig anzupacken, und so
bekamen wir Verdis „Traviata", eine „Manon"
von Massenet und eine von Puccini, „Mala vita'*'
von Giordano u. a. Stets bildet ein ziemlich
lockeres Frauenzimmer den Mittelpunkt der
Handlung. Fast könnte man glauben, die „Tu-
gend" sei uninteressant geworden. Oder hat man
ein leises Gefühl dafür, dass sie nicht immer ein
seidenes Kleid anhaben muss . . . oder anderer
Art sein kann, als die vorschriftsmässige, bürger-
liche Tugend, unter deren Legalisierungszwang
gerade nicht immer die eigentliche Sittlichkeit
gedeiht. ...
In seiner „Boheme" langte Puccini nach Mur-
gers originellem Buche; wie von selbst drängte
sich ihm Mimi als Hauptperson auf. Sie — eine
arme Arbeiterin — ist der einzige mögliche Mit-
telpunkt, der sich für ein aus dem Pariser Sitten -
romane zu formendes Stück auffinden lässt. Die
Autoren — Giacosa, der Dichter der poetischen
„Schachpartie", und Illica, der mehrfach be-
währte Librettist — nennen ihr Theaterwerk
weder Drama noch Oper, sondern begnügen sich
mit dem Titel „Scenen". Vielleicht spricht da
der Geist unserer Zeit mit, der sich an Titel nicht
viel kehrt, vielleicht die litterarische Mode,
welche auch in den Aufschriften mit dem Alten
230 t^t^ts^t^^t^t^'t^t^t^'^t^t^t^tJ'^t^
aufräumen will. Haben wir ja doch ein Schau-
spiel von E. Rosmer, das sich nu ; als „Fünf Akte"
deklariert, und eine Oper von R. Strauss, die
sich mit der Anrede „Drei Aufzüge" zufrieden
giebt. Wahrscheinlicher als alles dies scheint
uns, dass die geschickten Textdichter Puccinis
von dem richtigen Gefühle geleitet wurden, ihr
Stoflf eigne sich nicht für die dramatische Form.
Der Vorwurf für einen Fries lässt sich in einem
einzigen Gemälde nicht behandeln, ein so viel-
seitiges Zeitbild wie „Boheme" nicht in den un-
verrückbaren dramatischen Model zwängen, der
seine Forderungen geltend macht, ob man dann
eingesteht, ein Theaterstück gemacht haben zu
wollen, oder nicht. Ist nun ein Autor an einen
dem Theater eigentlich widerstrebenden Stoff
geraten, .so entscheidet ausschliesslich seine Fin-
digkeit und Erfahrenheit in der Benützung des
scenischen Apparats. Besitzt er diese nicht, so
wird gar nichts draus, als ein verwirrendes
Durcheinander, besitzt er sie, so kann er ein
Scheindrama zimmern, das durch klug vorberei-
tete Kontraste, vielleicht auch nur durch gefäl-
lige Abwechslung über den Mangel eigentlicher
dramatischer Organisation hinwegzutäuschen ver-
mag. In diesem Sinne ist das Textbuch der
Herren Giacosa und lUica eine gelungene Arbeit
zu nennen. Es sieht fast wie ein Drama aus, ohne
eines zu sein. Es erzählt nur die Geschichte
zweier teils paralleler, teils divergierender Le-
bensläufe ; wie sich Mimi und Rudolf, ihr Stuben-
nachbar, ein hungernder Dichter, finden, wie. sie
sich unterhalten und wieder verlieren, da das
Mädchen an Leib und Seele siech wird. Die Li-
brettisten haben nun — so ausführlich sie uns
schliesslich das leibliche Ende vorführen — über
den seelischen Konkurs ein, die Thatsachen to-
tal verschleierndes Mäntelchen gehäng^. Nach
einer gründlichen Auseinandersetzung trennen
sich die Liebenden im dritten Akte. Mimi geht
einer ungewissen — oder sagen wir etwas deut-
licher : einer „gewissen" — Zukunft entgegen und
wirft sich einem reichen Manne an den Hals. Das
Bühnenbild sagt das Gegenteil vom Sinne die-
ser Scene. Die beiden jungen Leute gehen Hand
in Hand, Haupt an Haupt gelehnt ab, tmd Puccini
macht, obwohl da wahrhaftig kein Anlass zu be-
sonderer Rührung vorliegt, dazu seine weichste,
süsseste Musik. Ein schlechter Theatercoup, eine
bedenkliche Konzession an die Sentimentalität
eines Bourgeois- Publikums, ein moralisches
Riechfläschchen . . . Für jeden, der bisher Mimi
Interesse entgegengebracht, ist diese Scene die
eigentliche Sterbescene des Stückes; die ziemlich
unappetitliche Spitalgeschichte des letzten Bildes
betrifft lediglich die Lunge der für uns bereits
moralisch Toten.
Diese, in eine Rührgeschichte umgekrempelte
Liebesangelegenheit Mimis und Rudolfs ist also
— von einigem wenigen Beiwerk abgesehen —
der einzige dramatische Niederschlag aus Mur-
gers Roman. Der eigentliche Hauptstoff dessel-
ben, die Schilderung des zwischen grossem Elend
und ebenso grossen Hoffnungen in beispielloser
Sorglosigkeit sich abspielenden Lebens etlicher
Künstler und Litteraten, die dem Wirtshaus, der
Welt und sich selber so viel als möglich schuldig
bleiben, dieser bleibt fast unberührt und musste
es bleiben. Wer das köstliche französische Buch
kennt, wird sich unter den paar schäbig geklei-
deten, hungerigen jungen Leuten, die sonst noch
auf der Bühne herumspringen, die schnurrigen
Freimde Rudolfs, Schaunard, Marcel, Collin,
denken können. Für alle anderen werden es eben
schäbig angezogene junge Leute sein.
P u c c i n i , seit ein paar Jahren einer der auf-
steigenden Sterne Italiens, liat nun zu diesem, der
musikalischen Behandlung nicht zu sehr ent-
gegenkommenden Stoffe die Musik geschrieben.
Für mich zerfällt diese in zwei scharf geschiedene
Arten. Die entweder fein graziösen, lustigen,
oder derb volkstümlichen Scenen behandelt der
Maestro mit Geist und Anmut, mit einer vor-
nehmen Beweglichkeit, um die jeder Deutsche
den Italiener billig beneiden darf. Auch die zärt-
lichen, still vertraulichen Töne stehen ihm g^t
zu Gesicht. Er besitzt Innigkeit, liebe, warme,
halblaute Herzenstöne. — Wo das Pathos, wo die
grosse Leidenschaft einsetzt, da versagt Puccinis
Besaitung. Er überschreit sich, seine Sprache
wird übertrieben, unglaubwürdig, manieriert.
Eine in neuitalienischen Redensarten unter-
gehende Modemelodik wird durch eine ränke-
reiche, unnatürliche, für die Länge peinigende
Harmonik geradezu unausstehlich gemacht, ein
immerwährendes Abreissen und Wiederansetzen
— von dem auch die besten Partien der Oper
nicht frei sind — vernichtet den letzten Rest von
Freude, den man an der Sache haben könnte. Ich
gestehe, nicht bald etwas mir Unsympathischeres
zu kennen, als die seriösen Scenen von Puccinis
„Boheme". Sie sind mir so fatal, wie ähnliche
Sachen von Massenet, dem der Italiener offenbar
nachstrebt, so unangenehm, wie manche der ern-
steren Stücke von „Freund Fritz", mit denen
einiges in „Boheme" eine gewisse Verwandtschaft
zeigt. Darum halte ich gerade den dritten und
vierten Akt, in dem ernstes überwiegt, weit min-
derwertig, wie den keck gemachten zweiten oder
gar den teils geistvollen, teils überaus liebens-
würdigen ersten Akt. Am gerundetsten erscheint
mir die allererste Scene der Oper, in der eine wei-
ter ausschauende Disposition zu erkennen ist und
eine bedeutende musikalische Feinkunst den klein-
sten Schwenkungen des Textes in reizender
Weise nachgeht. Auch das Orchester weiss, wie
der alte, treue Diener eines Hauses, gar viel In-
times von seinem Herrn und Meister Puccini. Es
sieht ihm gleichsam in die Seele. Wo er mit vol-
ler Hand giebt, da leiht es ihm seine feinsten Far-
ben, da spricht es mit seinen Flöten und Geigen
eine reizvolle, poetische Sprache; wo er den mo-
dernen italienischen Strassen] argon spricht, da
stellt sich auch von unten her trivialer Klang ein,
da gehen die Violinen in ihren gefürchteten,
leiernden Oktaven Arm in Arm einher. Die
billigen Rührmittel des Orchesters schieben sich
wie von selbst vor, das Handwerk ist stärker als
die Kunst.
Ueberblicken wir. alles, so zeigt sich uns Puc-
cini als Erfinder von massigem Reichtum, aber
als einer, der eine feine Hand, Verstand und Geist
234 't^^5^'t5?^'t?^"t:^'b^T:5^'t:?^"b^t5^'t5^Ti:^Ti?^"b5^
besitzt und namentlich im Fache der komischen
oder humoristischen Oper hervorragendes zu
leisten vermöchte. Ein weniger vollblütiger Mu-
siker als Mascagni — wir denken natürlich immer
nur an die „Cavalleria" — aber ein distinguierte-
rer Kopf, ein Mann von geläuterterem Ge-
schmack, von feineren gesellschaftlichen Formen.
Königskinder.
(Ein deutsches Härchen von Ernst Rosmer. Musik von E.
Humperdinck. Erste Auffuhrung im Theater an der Wien
am 10. Mai 1897.)
Betty (alte Haushälterin zu Agnes, ihrem
Pflegekinde und dermaligen Herrin) : Das sag'
ich dir, wenn meine Tochter das geschrieben hätt'.
Schlag' bekam' sie ... . Ja ! Was da drin g'stan-
den hat — von liederlichen Weibsbildern — und
so gewöhnliche Wörter, wie man's alle Tag' da-
herredet. — Agnes : Das ist eben die Kunst.
— Betty : Das ist gar keine Kunst ! Gut'n Tag
und gut'n Abend und wie geht's Ihnen, das kann
ich auch schreiben.
Man merkt, die Damen sprechen über neueste
Litteratur, über die „Jugend"-Schriftsteller un-
serer Tage. Wir gehören nicht zu denjenigen,
die den gesproclienen Koloratur- Arien halbver-
gangener Zeiten nachweinen. Dennoch aber glau-
ben wir, dass die alte Haushälterin — die aller-
dings nur schöne Tiraden für Poesie hält — ein
Körnchen Zukunftsweisheit ausgesprochen hat
und gar vieles von dem, was man heutzutage als
rötestes Neuestes preist, vom nächsten Jahrhun-
dert, vielleicht vom nächsten Jahrzehnt, „in den
grossen Papierkorb" geworfen wird .... Kunst-
dunger ! . . . .
Zu denen, die sich gar „so gewöhnlicher Wör-
ter" bedienen, ja, die eine Art Freude daran zu
haben scheinen, den Leser oder — man denkt's
nicht gerne aus — den Hörer durch äusserste
Unerschrockenheit im Ausdrucke zu verblüffen,
zu- überrumpeln, gehört Ernst Rosmer, dessen
Drama „Wir Drei" der obige Dialog entnommen
ist. Der Sprachschatz dieses Dichters umfasst
die intimsten Einrichtungsstücke eines Haushalts,
seine Männer und auch seine Frauen würden zu-
weilen mit ihrer Drastik Shakespeare, Dr. Luther
und den seligen Grimmeishausen gewaltig stau-
nen machen. . . . Zum Glücke ist diese burschi-
kose Redeweise nicht das wesentliche an Rosmer.
Er besitzt starkes Inhalts- und Formtalent und
ist einer jener Ausnahmsmenschen, die sich nicht
nur ihrerseits mit der Poesie „beschäftigen", son-
dern mit denen sich auch — nach Rosmers Wort
— die Poesie beschäftigt. Er ist vor allem mit
einem offenen Auge für Welt und Dinge begabt.
„Mit den Dingen hab' ich's zu thun" — sag^ er
irgendwo — „mit den Menschen. Was für Ohr-
läppchen einer hat und wie er Au ! schreit, wenn
er sich in den Finger schneidet — oder ins Herz".
Er sieht seine Leute nicht nur in „grande toi-
lette", sondern nackt, und weiss viel mehr von
ihnen, als er ausspricht. Bei manchen derselben
ist das allerdings nicht merkwürdig. Porträtiert
er doch seine nächste persönliche Umgebung . . .
seinen Vater, sich selbst. . . . Mit Vorliebe holt
er seine Modelle aus der Kunst- und Theaterwelt,
die er genau kennt, mit der er von Jugend auf
verwachsen ist, deren Jargon er mit Virtuosität
Spricht. Kein Wunder! Der Dichter Rosmer
heisst eigentlich — Elsa Bernstein. Als Tochter
des bekannten Wagnerianers Heinrich Porges
hat Frau Bernstein den Umgang Richard Wag-
ners genossen, gar viel von der Bayreuther Luft
in ihrem Blute verarbeitet, das innere Getriebe
des Theaters auf dem Festspielhügel kennen ge-
lernt, den Bühnenweihstaub an der Bürgerreuth
geschluckt.
Die „Königskinder", die im Januar dieses
Jahres in München ihre erste Aufführung erleb-
ten, und die wir vor ein paar Tagen hier im Thea-
ter an der Wien zu sehen bekamen, sind in der
Atmosphäre Wagners aufgewachsen. Stofflicher
Inhalt, Einzelheiten und zahlreiche Beziehungen
sprechen für diese Annahme. Am lautesten aber
etliche Schrullen. „Wie er sich räuspert ....
u. s. w." Rosmer — den Namen legte sich die
Dichterin wohl aus Verehrung für Ibsen bei, so
wie ihr Vater sie einst aus Verehrung für Wag-
ner Elsa nannte — hat in den „Königskindern"
die Vorliebe für überdeutliche Ausdrucksweise
so ziemlich zurückgedrängt, dafür aber den
Schwulst, der zuweilen in Wagners Dichtungen
so üppig blüht, mit grösster Zärtlichkeit adoptiert.
Versfüsse auf Stelzen. . . . „Wärst du doch sinne-
gescheiter und merktest dir ein", „Was schämst
du die Hand über die Stirne?" ist vielleicht ganz
korrektes Hexendeutsch; Königstöchter vermei-
den aber gewiss Wendungen wie: „Wer davon
isst, mag das schönste seh*n, so er wünscht, sich
zu geschehen", oder: „Nun kenn* ich ihn wohl
und bin ihm kühn"; Königssöhne, wenigstens
832 Ti:?^'t5^"t5^"t;^'t?^'fc^'t^'t5^Xi?^'b^"t:?^"t5^Ti3^'b?^
deutsche, werden kaum zu einem geliebten Mäd-
chen sagen : „Fremdest mich mit den Augen an".
Falls man von einem Fahrenden den Satz hört:
„In den Schädel baucht euch der Magen schier",
von einem Holzhacker den plastischen Aus-
spruch : „Erst will ich . . . mir den Schweiss von
den Lenden ruh'n", oder aus dem Munde eines
Wirtstöchterleins die gastronomische Sentenz:
„Wenn die Magenträume uns Schabernack spin-
nen, muss sie das Morgenmal vergessen" ....
dann ist man „sinnegescheiter", merkt sich die-
selben nicht „ein" und lässt sie schon gar nicht
drucken.
Die Handlung des — abgesehen von derar-
tigen gekünstelten Sprachnaivetäten — teils hoch-
poetischen, teils keck realistischen, jedenfalls aber
durchaus theaterwirksamen Buches ist wohl von
Rosmer frei erfunden. Eine Hexe hält ein
Königskind als Gänsemagd in ihrem Banne ge-
fangen. Ein Königssohn bahnt sich den Weg In
die weltferne Einsamkeit des Hellawaldes, fin-
det das Mägdlein und will mit ihm fliehen. Als
das liebliche Kind zögert, wirft er ihm seine
Krone zu Füssen und eilt davon, in die Welt
hinein. Die Hexe aber sperrt ihr verwirrtes
Kind ins Haus. Da erscheinen ein paar Abge-
sandte der esstüchtigen, seit Jahren herrscher-
losen Stadt Hellabrunn, um mit der Waldfrau
über die Wiederanschaffung eines Königs zu be-
raten. Die Alte — wie es scheint, keine An-
hängerin des monarchischen Princips — sieht den
Zweck des Unternehmens nicht recht ein und
meint, es thäte ja nicht not, sich einen Herrn
vorzusetzen, von dem man erbitten müsse, „was
ohne ihn und seine Sklavenkette das dumme Volk
von selber hätte". Endlich wahrsagt sie den
wortreichen Spiessern, dass der erste, der am
Mittag des Hella-Festtages zum Stadtthore ein-
ziehen werde, der von der Vorsehung bestimmte
König sei. Während dieser etwas langwierigen
Verhandlung ersieht der Spielmann, einer der
Gesandten, die Königsmaid, und ihm geling^ es
schliesslich, diese der Macht der Hexe zu ent-
reissen. Der Himmel sagt durch das Wunder-
zeichen eines fallenden Sterns sein Amen dazu.
Die Befreite setzt sich das Krönlein auf und eilt
dem Geliebten nach. Dem ist inzwischen von den
Pfahlbürgern von Hellabrunn gar Uebles wider-
fahren. Schweinehirt musste er werden, weil er.
keinen Heller besass . . . des Diebstahls sogar
wurde er bezichtigt ... da ... in höchster Not,
thut sich das Stadtthor auf und, umstrahlt vom
hellen Sonnenlichte, erscheint, die Krone auf
dem Haupte, die königliche Gänsemagd, gefolgt
von ihren Gänsen. Ein rührendes herrliches Bild.
Die Liebenden fallen sich in die Arme. Für die
nüchternen Hellabrunner ist das Ganae aber nur
eine königliche Unterhaltung. Sie lachen die
über seligen Königskinder aus und jagen sie ins
Weite. Im wilden Walde, vor der verfallenen
Hütte der inzwischen verbrannten Hexe finden
wir sie wieder. Hunger und Wintersschnee
machen ihrem Erdenwallen ein Ende. Die zu
spät herzukommenden Hellabrunner, die jetzt an
die königliche Sendung der beiden glauben, kön-
nen ihnen nur mehr „ein Königsgrab" bereiten.
Der Spielmann hält ihnen eine ergreifende
Leichenrede.
Das neue Märchen schliesst also nicht mit dem
üblichen: „und wenn sie nicht gestorben sind, 30
leben sie heute noch", sondern geht tragisch aus
mit Hunger, Not und Tod. Die Königskinder
enden als Pechvögel. Das wäre nun bei der
offenkundigen Schuldlosigkeit der beiden eine ent-
schiedene dramatische Grausamkeit, eine künst-
lerische Gewaltthat, wird aber sofort begreif-
licher, wenn man das ganze Stück — wie es wohl
gemeint ist — symbolisch auffasst. Wagners
Ringen dürfte den ersten Anstoss gegeben haben.
Könnte man doch zu manchem Detail des Mär-
chens das Gegenstück im Leben des Meisters fin-
.den, wäre es doch ein leichtes, für das aller
Opfer fähige Weib, ja sogar für die kompromit-
tierenden Gefolgsgänslein die Vorbilder aufzu-
treiben. . . . Verallgemeint passt die Geschichte
endlich auf jedes Genie. Das Trägheitsmoment
der Welt ist unsterblicher als alle Unsterblichen !
Die „Königskinder" wurden, wie es scheint,
ursprünglich ohne Rücksicht auf Musik ent-
worfen. Dennoch verlangen sie, um bei sceni-
scher Aufführung volle Wirkung zu thun, nach
dem verklärenden Goldgrund der Töne. Humper-
dinck that wohl das richtigste, indem er zu dem
zwischen Wirklichem und Unwirklichem schwe-
benden Stoffe die zwischen Sprache und Musik
schwankende Form des Melodrams wählte. Sie
ist so recht das Gehäuse für Unf assbares. Schon
Goethe empfand das, als er für die phantastisch-
poetischen Momente des Euphorion im „Faust"
melodramatische Musik verlangte, „um jenem
Flügelflammenleben die einzig eig'ne Atmosphäre
zu bilden". In ähnlichem Sinne haben Rousseau
-r— der Erfinder des Melodrams — und Benda,
der durch seine Schöpfungen sogar noch auf Mo-
zart, ja auf Beethoven nachwirkende erfolg-
reichste Meister dieser Gattung, den Eindruck
des Ungewöhnlichen, Märchenhaften am sicher-
sten durch das Melodram zu erreichen geglaubt.
Bei diesen älteren Komponisten, denen sich Mo-
zart in seiner Operette „Zaide" auf das engste
anschloss, unterbricht die Musik die Rede und be-
zeichnet, was nach Wagners Wort „das Orchester
zunächst nach seinem besonderen Vermögen aus-
zudrücken hat . . .: die dramatische Gebärde".
Weber in seiner „Preciosa" und R. Schumann an
einigen Stellen seines „Manfred" Hessen zur fort-
laufenden Musik deklamieren, manchmal ohne^
manchmal mit genauer Fixierung des Rhythmus.
„Ich habe hier der „Preciosa" auch eine Noten-
zeile gegeben und hin und wieder mit kleinen
.Noten den Rhythmus bezeichnet. . .", schreibt
Weber. Hümperdinck geht noch einen Schritt
weiter und bringet ausser dem Rhythmus noch den
Sprechton in Noten. Er setzt das Wort in Musik
wie die Alten die Geste. Was er vom Schau-
spieler verlangt, soll „gesteigerte Rede" sein, ein
Mittelding zwischen Sprechen und Gesang, etws
wie wir's von Ammergau aus kennen und wie es
der aus lauter Mitteldingen entsprungenen Gat-
tung vielleicht am besten entspricht. Indem nun
aie Schauspieler bei Rosmer - Hümperdinck
manchmal sprechen, manchmal singen, manchmal
Im Foyer. 16
242 t:?^"t:^t^t^t3^"^5^"t^'b?^"t?^Ti5^t:^t5^t^t;'^
mit diesem neuen Humperdinck-Stil hantieren sol-
len, erwachsen der praktischen Ausführung un-
gewöhnliche Schwierigkeiten. Da man doch nicht
gleich so weit gehen kann wie Groethe, der die
Rolle der Helena in „Faust" zwischen einer Tra-
gödin und einer ersten Sängerin verteilt wissen
wollte, bleibt nur übrig, je nach den „vorhande-
nen Kräften" entweder der Musik oder der Dich-
tung etwas abzuzwacken. Kann sich freilich tref-
fen, dass das gerade der Kopf ist I . . .
Humperdinck hat sich in „Königskinder" mehr
auf den Standpunkt des Illustrators, als den det
Malers gestellt. Er folgt mit seiner motiv-ge-
webten Musik genau jeder Wendung der Redtv
vertieft da das Dunkel, wirft dort noch freudige
res Licht hinein, verrät unausgesprochene Ge-
danken des Dichters, macht vor allem Stimmung.
Was nun in diesem immerhin etwas engen Rah-
men zu leisten war, hat Humperdinck geleistet
Seine Musik ist charakteristisch, fem geformt
und von zauberhaftem Klange. Originell ist sie;
wenigstens in den meisten Melodramen und dea
grösseren Orchestersätzen, den Einleitungen zum
zweiten und dritten Akte, leider nur in sehr be-
scheidenem Masse. Man hört Schumann, Wag-
ner, Goldmark, hie und da eine liebvertraute Wen-
dung aus „Hansel und Gretel", aber wenig, blut-
wenig Neues. Am reichsten entwickelt sich
Humperdinck noch in der letzten Scene des
Stückes. Da redet seine Musik vernehmlicher,
eindringlicher, als die schmerzerstickten Worte
des Dichters. Die besten Teile der Partitur sind
aber der reizende „Rosenringcl" im zweiten, das
Spielmannslied vom „Hahnenei", die düstere Er-
zählung der Hexe im ersten Akte, Stücke, die sich
durch höchst charakteristische Einfälle wie durch
meisterhaftes Erfassen der Stimmung aus-
zeichnen.
Der Aufführung im Theater an der Wien, dex*
Verdienste der Direktorin Fräulein v. Schöne-
rer und der Mitwirkenden, allen voran Frau
Stella H o h e n f e 1 s, sei aufs rühmendste gedacht,
ebenso die erfreuliche Thatsache eines vollen Er-
folges konstatiert. Bei öfterer Wiederholung des
Märchenspiels werden sich die Mitwirkenden
noch weiter in den neuen Stil desselben finden
und wohl auch ihren Stimmorganen weniger zu-'
muten, als am ersten Abend. Die meisten Dar-
steller waren überlaut. Nichts aber macht das
Publikum lässiger im Zuhören, als das Schreien
auf der Bühne, sei es im Schauspiel, sei es in der
Oper. Der Hörer wirkt nur dann gleichsam mit,
wenn er auch eine Arbeit zu leisten hat. Sie
heisst : Aufmerken ! — Ein von R. Baumbach auf
den schwer leidenden Kaiser Friedrich geschrie-
benes Gedicht schloss mit den Worten: „Man
hört den deutschen Kaiser, auch wenn er leise
spricht !" Das gilt nicht nur für deutsche Kaiser,
sondern für jeden, der herrschen oder beherr-
schen muss.
^
16*
Daiibor.
(Oper in drei Akten. Text von Josef Wen 2 ig, für die deutsche
Bünne eingerichtet von Max Kalb eck. Nusik von Friedrich
Smetana. — Erste Aufführung auf dem Hofoperntheater am
4. Oktober 1897.)
„Dalibor" ist das zweite Smetanasche Werk,
das an der Hofoper eigentlich nur eine Pseudo-
Premiere erlebt. „Die verkaufte Braut" zog zu-
erst im Theater der Musikausstellung, bald darauf
„an der Wien" ein und wurde erst nach ihren
dort erlebten Applaus-Polterabenden in das prun-
kende Haus am Opernring geführt. „Dalibor",
böhmischer Ritter und daher Standesperson,
konnte den Umweg über die Vorstadt vermeiden
und fand an dem kaiserlichen Institute direkt,
wenn auch erst nach fünf Jahren, die ihm ge-
bührende Aufnahme.
Die Handlung der Oper spielt zu Ende des
15. Jahrhunderts, in der Zeit, da der polnische
König Wladislaw über die Czechen herrschte.
Ritter Dalibor wurde wegen Teilnahme an einer
Rebellion im Jahre 1498 gefangengesetzt; im
Kerker lernte er, ohne Anleitung, die Geige spie-
len. Das auf ihn gemünzte Sprüchlein: „Etiam
Daliborem fames musicam docet", eine Personal-
variation des Wortes „Not lehrt beten", hat sich
in ähnlichen Formen bis heute erhalten. Der
Turm, in welchem der quieszierte Dalibor seine
Haft verbüsste, ist der unter dem Namen Dali-
borka noch zur Zeit in Prag auf der Höhe des
Hradschin in leidlich erhaltenem Zustande be-
stehende Hungerturm. Eigentlich — wenn man
von dem ungemütlichen Interieur mit seinem Ab-
sturzloche für die Leichen der Verhungerten
u. dergleichen absieht — ein wundervolles Plätz-
chen. Wie ein ungeheures Epheublatt dehnt sich
auf einer Seite zu Füssen der herrliche Hirsch-
graben aus, auf der anderen das hunderttürmige
Prag. Das Auge des Gefangenen konnte satt, ja
trunken werden ... Es war damals, trotz seiner
barbarischen Sitten, eine glückliche Zeit. Sollte
einer verhungern, so musste man ihn in einem
festen Turm von der reichen Erde absperren. . . .
jetzt lassen sich manche einsperren, damit sie
nicht Hunger leiden ....
Ob Dalibor angesichts einer der schönsten
Aussichten von Europa wirklich verhungert ist
oder nicht, weiss ich nicht. Die gutmütige Frau,
die mich in dem alten Gemäuer herumführte, be-
hauptete es, und sie musste es wissen. Wenzig,
der treffliche böhmische Dichter, der sich vor
allem durch Sammlung und Uebersetzung slavi-
scher Volkslieder, Märchen und Sprichwörter,
durch Herausgabe einzelner Werke Comenius*,
Flaschkas von Pardubitz, Celakowskys u. a.
grosse Verdienste um die weitere Verbreitung
slavischer Poesien erworben, bereitet in seinem
Textbuche zur Smetanaschen Oper dem Helden
ein effektvolleres Ende. Ein durch ein liebendes
246 ■t:«'b^'b?^Ti::^^^'t;^t:>^ti:^"t:^'t3ä^'b?^'fc?^t5^ti:^
Weib zu seinen Gunsten unternommener Befrei-
ungsversuch schlägt fehl; König Wladislaw ver-
urteilt den Ritter zum Tode durch das Schwert.
— In der Motivierung und Ausgestaltung des
Stoffes hat Wenzig, der Smetana später auch den
Text zu seiner Festoper „Libussa" lieferte, nur
insoweit eine glückliche Hand bewiesen, als er
sich an „berühmte Muster" halten konnte. Als
solche zeigen sich vor allem der „Cid"; Milada,
die Schwester eines von Dalibor erschlagenen
Burggrafen, verliebt sich in den Mörder des Bru-
ders und versucht seine Errettung aus dem Ge-
fängnisse, in welches sie sich Zutritt verschafft,
indem sie — hier setzt „Fidelio" ein — Männer-
kleidung anlegt und sich in dieser Vermummung
das Vertrauen des alten Kerkermeisters Beines
erwirbt. Zur Gerichtsscene des ersten Aktes, in
welcher Dalibor zum erstenmal vor dem Könige
erscheint, Milada mit ihren Frauen auftritt und
den später so Heissgeliebten mit flammenden
Worten anklagt, hat der erste Akt von „Lohen -
grin" als Modell gedient. Wie immer, wenn man
das auf dem Baume eines Dramas gewachsene
Reis abschneidet und an einem anderen Orte in
ähnlichem Sinne verwenden will, so ist auch hier
das Uebernommene inzwischen welk und matt
geworden. Was geblieben ist, sind praktische
Situationen, gute Gelegenheiten, Musik zu
machen. Das eigentliche Leben, das Organische
fehlt dem in mancher Hinsicht verdienstlichen
Buche. Auch etliche romantische Zuthaten, so
der Violinspielende Geist des verstorbenen Zdenko,
eines Freundes Dalibors, das dem Zuhörer unver-
ständlich bleibende Motiv, dass Dalibor diesem
Zdenko zu Liebe Rache an Miladas Bruder nahm,
konnten höchstens der Einheitlichkeit des Vor-
wurfes schaden, statt sie befestigen. Es ragen
vom Rahmen her in das Gemälde allerlei Hände
und Füsse, deren Zusammenhang mit dem Haupt-
vorgange unklar bleibt. — Einige grobe Unge-
schicklichkeiten hat Herr M a h 1 e r ausgemerzt.
So verlegte er, sehr zum Vorteil der Wirkung,
eine Scene im zweiten Akte, und änderte den
Schluss des Stückes, der in früheren Fassungen
gänzlich verpuffte, so weit ab, dass nur wenig-
stens der musikalischen Gerechtigkeit Genüge ge-
schieht. Herr Max K a 1 b e c k hat das Buch,
das Wenzig seinerzeit deutsch schrieb und Erwin
Spindler für Smetana ins Czechische übertrug,
wieder ins Deutsche rückübersetzt; eine in An-
betracht der grossen Schwierigkeit überaus ge-
lungene Arbeit, die sich hie und da, zum Beispiel
in der Soloscene des Kerkermeisters, wo Kalbeck
eigenes lyrisches giebt, zu wahrer dichterischer
Schönheit erhebt.
Die Musik zu „Dalibor" ist zwischen 1866 und
1868 geschrieben, in der Zeit, da die Wagner-Be-
v/egtmg immer mehr an Umfang gewann. Auch
der hochbegabte böhmische Meister, der doch
lange vorher an Liszt einen edlen, hilfreichen
Freund gewonnen hatte, folgte mit Begeisterung,
aber doch in angemessener Entfernung dem neuen
Sterne. Seine Landsleute, damals noch zum gröss-
ten Teile dem Streben des Bayreuthers abge-
wandt, Hessen ihm das unliebsam entgelten. Als
„Dalibor" am 16. Mai 1868 zum ersten Male unter
248 t^t^'fc^'b^'b^'fc^'bs^t^'bs^^j^t^'b^'b^'b^
Smetanas Leitung zur Aufführung kam, Hess er
das Publikum kalt; nach fünf Aufführungen wan-
derte er ins Archiv; auch ein 1870 unternomme-
ner Wiederholungsversuch fiel schlecht aus. Wie-
der ein paar Reprisen und wieder der Bibliotheks-
staub.
Aus diesem Hungerturme des Ruhmes wurde
„Dalibor" erst vor einigen Jahren befreit, da das
neue czechische Theater sein Repertoire natur-
gemäss auf Smetanas Schöpfungen fundieren
musste; für die ausserböhmische Welt wurde das
Werk am 5. Juni 1892, bei einer glänzenden Vor-
stellung im Ausstellungstheater, gewonnen. Das
Unrecht, das die Heimat dem Meister zugefügt,
hat die Fremde gutgemacht. Und das Unrecht
war ein doppeltes. Vor allem deshalb, weil ja
Smetana weit weniger, als es nach oberflächlicher
Betrachtung den Anschein hat, in Wagners Bah-
nen wandelt. Er ist lediglich, von denselben mu-
sikalischen Prämissen ausgehend, zu denselben
Konsequenzen gelangt, und hat daher gleichzeitig
mit Wagner, jedoch unabhängig von ihm, ähn-
liches wie er erfunden. Dabei bleibt er aber doch
vorwiegend in seinen eigenen Geleisen, hat seine
eigene Harmonik und Rhythmik, ja seinen eige-
nen wundervollen Orchesterklang. In dramati-
scher Richtung geht er lange nicht so weit wie
Alozart oder Wagner, und namentlich die von
einer zur anderen musikalischen Gruppe überlei-
tenden Zwischenspiele, welche bei Mozart schon
oft so tief bedeutsam, bei Wagner entweder den
dramatischen Blutlauf wie durch feine Aederchen
durchsehen lassen, oder äusserliches der Hand-
lung mit schärfster Charakteristik nachmalen,
sind bei Smetana oftmals nur zu musikalischen
Zwecken vorhanden. Zwischenspielmusik statt
Spiel-Z'wischenmusik. Dies unterscheidet Sme-
tana nicht unwesentlich von den moderneren,
namentlich Nach-Wagnerschen Meistern, die ge-
rade in diesen charakterisierenden Instrumental-
sätzen gar eigentümliches geleistes haben; viel-
leicht ihr vollendetstes ! Die heutige Kunst giebt
ihr bestes in Nebensachen.
Zu seiner ganzen Grösse reckt sich Smetana
dort auf, wo er Platz zur Entwicklung seiner mu-
sikalischen Kunst hat und der dramatische Unter-
grund ihn anregt und hebt So sind das grosse
Liebesduett zwischen Milada und Dalibor, der
Gesang des Kerkermeisters und manches andere
Stück aus dieser Oper wahre Perlen musikdrama-
tischer Kunst; vortreffliche, oft hinreissend
schöne Musik und gesättigt mit der Stimmung
der Scene. Viele andere Partien der Oper kann
man leider nur im erster en Sinne vollendet nen-
nen. Zu oft steht das dramatische, ja sogar das
handwerksmässig theatralische weit hinter dem
musikalischen zurück. Stockend, eigentlich wie
ein Chorkonzert, beginnt gleich die allererste
Scene. Darauf tritt — nicht handelnd, sondern
erzählend — Jutta, ein liebliches junges Mädchen,
der freundliche spiritus rector des Stückes, in das
Ensemble — man darf noch immer nicht sagen:
in die Handlung — ein. Ihr jubelnder Gesang
„durch des Kerkers Riegel und Wände . . ." bildet
eine prächtige musikalische Steigerung; fast
könnte man sie für dramatisch halten. Endlich
250 'b^b?^tb^ti5i^t:5^b^'fc5^t!5^"b^tb?^lb^'b^'t?^'fc:^
erscheint zu den Klangen eines prunkenden Mar-
sches (im D r e i viertel-Takt) der König. Merk-
würdigerweise schliesst das überaus schöne Stück
im Pinanissimo. Die Erscheinung des Herrschers
verliert dadurch völlig den Eindruck des Mäch-
tigen, Gewaltigen ; es ist, als wäre der König von
dem bisschen Aufmarsch erschöpft. Eine Anrede
Wladislaws — ähnlich derjenigen König Hein-
richs im „Lohengrin" — führt zum Auftritt Mi-
ladas, der Anklägerin Dalibors. Ein langes, wenig
charakteristisches Zwischenspiel, welches eigent-
lich nur nach C-dur überleitet, bliebe besser weg.
Nun folgt, zu Harfenklängen, eine rührende Kla-
rinett-Melodie, die die Stimmung der um ihren
Bruder Trauernden aufs glücklichste wieder-
giebt. Von da an kommt mehr Leben und Fluss
in die Sache. Eine, an die Richter adressierte,
Apostrophe Dalibors verschafft dem Helden einen
praktischen, effektvollen Abgang. Mit einer Wie-
derholung und Steigerung von Juttas erstem
Jubelgesange schliesst der Akt äusserlich wirksam
ab. — Herrlichkeiten und Schwächen dicht
nebeneinander.
Manches wäre durch eine geschickte und nicht
zu ängstliche Hand leicht zu Gunsten der Wir-
Icung zu ändern. Vielleicht lieg^ in diesem Falle
sogar die Pflicht vor, das Werk eines bedeu-
tenden Meisters von schädlichem Beiwerk zu
befreien. Schon der Wegfall einer Reihe ver-
zögernder Zwischenspiele würde an manchem Orte
helfen. Es käme auf eine Probe an. Wir wissen^
Herr M a h 1 e r ist kein Freund von „Strichen",
und wir selbst bedauern nichts mehr, als das oft
SO sinnlose Walten des Rotstiftes; es giebt aber
da auch eine feinere Praxis, die nur dem Unkraut
schädlich wird und diese sollte gerade bei „Da-
libor" am Werke sein.
Jedenfalls hat Herr M a h 1 e r , als er sich für
die Aufführung von „Dalibor" entschied, etwas
unternommen, was längst hätte geschehen sollen.
Smetana ist einer der ersten österreichischen
Musiker und die ^besten seiner Werke gehören
auf die erste Bühne des Kaiserstaates.
^
Eugen Onegin.
(Lyrische Scenen in drei Aufzügen. Text nach Puschkin ; deutsch
von A. Bernhard. — Musik von Peter T^chaikowsky. — Erste
Auffuhrung an der Wiener Hofoper am 19. November 1897.)
Die Musik lebt auf der Bühne immer aus zwei-
ter Hand. Die besten Opernbücher sind nach
Meisterwerken der Dichtung geformt. Am aller-
wenigsten haben zu allen Zeiten die frei und be-
sonders für die Oper frei erfundenen Stoffe ge-
fruchtet. Vielleicht deshalb, weil die Dichter
von den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Musik,
also von dem, was sie dem Musiker zu liefern
hätten, im besten Falle dunkle, in anderem total
irrige Vorstellungen haben. Fernes Glocken -
läuten, Chöre von Mönchen, Schnittern und Rit-
tern, irgendwelche alte Lieder sind meist die
festen Punkte, an die sich die Librettisten klam-
mern und damit von Haus aus auf falsche Fährte
geraten. Menschen braucht der Musiker,
keine alten Lieder und fernen Glocken. Das ver-
steht der Komponist besser, als jeder andere
und daher ist dieser in der Wahl der Stoffe für
seinen Zweck meist glücklicher als die von aller-
lei Nebengedanken geplagten Operndichter. Am
sichersten natürlich dann, wenn er gute Dramen
oder dramatische Behandlung ermöglichende Er-
Zählungen oder Romane zum Vorwurfe wählt. —
Freilich müssen diese vorhanden sein !
In Russland hat die erst zu Anfang unseres
Jahrhunderts geborene nationale Dichtkunst eine
nationale Oper im Gefolge gehabt. Lermontows
„Dämon" und „Kalaschnikow" (beide von Anton
Rubinstein), Puschkins „Russlan und Ljudmilla",
„Boris Godunow", „Russalka", „Der steinerne
Gast", „Pique-Dame" und „Eugen Onegin" sind
als Opernstoffe benutzt worden. Der Autor der
beiden letzteren ist Peter Tschaikowsky»
der gefeierte Komponist wertvoller Symphonien
und Kammermusikwerke, nebstbei bemerkt einer
der fruchtbarsten Opernkomponisten unserer Zeit.
Nicht weniger als elf Opern hat er seinem Vater-
lande gegeben. Einige davon, der in St. Peters-
burg 1879 2;um ersten Male gegebene „Eugen
O n e g i n", ist auch über die Grenzen Russlands
und anderer slavischer Länder hinausgedrungen.
Wir in Oesterreich haben im Prager tschechi-
schen Theater eine vorwiegend slavische Musik
pflegende Bühne, die schon seit Jahren Tschai -
kowskysche Opern giebt. An dieser hat Herr
Direktor M a h 1 e r wohl den „Onegin" gesehen
und sofort für Wien acceptiert. Es war kein
Missgriff. Der grosse Erfolg, den das Werk am
19. November an der Hofoper hatte, zeigte, dass,
trotzdem der Komponist, so wie der Librettist —
Tschaikowskys Bruder Modest — in demselben
eigene Wege gehen und dem groben Effekt grund-
sätzlich ausweichen, die tiefste Wirkung auf mit-
fühlende, verständnisvolle Hörer nicht ausbleiben
kann.
254 't;^'t;'^T;?^'t:^'t^"t^'fc?^"t5^'b:^'b:^"t5^"t^^'b:'^'t^9
Nur echtes, empfundenes kann auf andere so
mächtigen Eindruck ausüben. — „Die Macht der
Wahrheit ist gross", sagte Goethe wiederholt zu
Eckermann. „Eugen Onegin" ist ein Beweis für
diese Sentenz.
Schon der Vorwurf des Dramas ist Wahrheit,
grausige Wahrheit. Hat doch Puschkin in sei-
nem — dem Opernbuche zu Grunde liegenden —
Roman „Eugen Onegin" sein eigenes Leben
und — vorahnend — sogar sein tragisches Ende
geschildert. Eugen Onegin ist Puschkin selbst.
„In seiner Jugend war auch er ein Opfer wüster
Leidenschaften", sein einziges, sein Lieblingsstu-
dium: das Weib; in diesem ewig nicht zu Ende
geschriebenen Meisterwerke der Natur zu blät-
tern, auf seinen saul^eren und unsauberen Seiten
mit Behagen, mit Gier, vielleicht manchmal mit
sanfter Rührung zu verweilen, war seiner jungen
Tage Hauptbeschäftigung. Es kamen auch ern-
stere Zeiten. Wie sein Held Onegin lebt Pusch-
kin eine Zeitlang auf dem Lande, wo ihm Bauern,
Ackergerät, Feld und Wald zu denken und zu
thun gaben. Die Abwechslung schien ihm nicht
unwillkommen. Waren ihm doch „Ohnmächten,
Nervenkrämpfe, Thränen, des Weibes ganzer
Apparat längst zuwider" geworden. Nach einiger
Zeit der unvermeidlichen Eintönigkeit des Land-
lebens überdrüssig, zieht der Dichter nach Peters-
burg; sein Verwandter Charles Dantes-Heecke-
ren machte seiner Frau auf den Hofbällen unver-
schämt den Hof. Puschkin forderte den Aben-
teurer und fällt von dessen Kugel zu Tode ge-
troffen. — In „Onegin" stirbt, und das ist eine
jener unwesentlichen Abweichungen von der
Wirklichkeit, nicht der Held des Romans, sondern
dessen Freund, der Dichter Lenski. Onegin ist
der Mörder, wenn dieser Ausdruck bei einem
„Ehrenhandel" erlaubt sein sollte. Lenski ist das
geistige Widerspiel Onegins. „Nicht Eis und
Flamme, nicht Gedicht und Prosa sind so ganz
verschieden," sag^ der Dichter. Eine reine, poe-
tisch angehauchte, etwas weltscheue Natur, steht
Lenski im Liebesbanne eines übermütigen Back-
fisches, der hübschen Olga Larina; die schwer-
blütige Schwester Olgas, Tatjana, liebt den
weibersatten Onegin und verrät ihm ihre Neigung
in einem direkt an ihn gerichteten Briefe. Kalt
und ziemlich geschäftsmässig erklärt ihr der bla-
sierte Mann, dass er von dem, in heisser überwal-
lender Leidenschaft gemachten „Anbote" keinen
Gebrauch machen könne und fügt zu dieser De-
mütigung noch eine zweite, indem er auf einem
Balle im Hause Larina seine Aufmerksamkeit
ausschliesslich auf Olga, Lenskis Verlobte, kon-
zentriert, dadurch zugleich zwei liebende Herzen
aufs tiefste verletzend. Lenski fordert Onegin,
das Schicksal entscheidet zu Ungunsten des Ge-
kränkten. Onegin flieht die Heimat. Nach Jahren
findet er auf einem glänzenden Feste in Peters-
burg die inzwischen an einen General verheira-
tete Tatjana wieder. Er entbrennt in heftiger
Liebe zu ihr, sie aber weist ihn, nachdem sie ihm
nochmal ihre unverminderte Neigung gestanden,
für immer von sich. — So endet diese Tragödie
der Blasiertheit. Der Mann, der mit dem Leben,
mit dem Tode getändelt, dieser Untermensch, der
256 t^t^t^t^t^t^t^t^t^t^'b^'fc^t^t^
anfang^s wie das alles verweigernde Gegenstück
zum alles verlangenden Uebermenschen Don Juan
aussieht, er endet mit einer versengenden, unge-
stillten Glut im Herzen, einsam, wie im Walde
ein zu Tode getroffenes Tier. Er mag sich da
sein russisches Trost- Sprüchlein vorsagen: „Es
ist alles dummes Zeug in dieser Welt . . . die Na-
tur ist eine Närrin, das Schicksal eine Truthenne
und das Leben eine Kopeke" — auch eine von den
Wort-Spielmarken, die so lange gelten, als man
guter Dinge ist und keines wahren Trostes bedarf
seelisch verenden heisst der Schluss.
Das Tschaikowskysche Musikdrama „Onegin"
ist vom Komponisten „Lyrische Scenen" benannt ;
genauer konnte die hier vorliegende Kunstform
nicht bezeichnet werden. Der Librettist g^ff
aus dem Puschkinschen Roman die für die musi-
kalische Behandlung tauglichsten Scenen heraus
und hüllte sie in ein halbwegs dramatisches Haus-
kleid. Jede derselben ist für sich, textlich und
musikalisch, abgerundet, jede ein Bild für sich,
das Ganze aber strenge der Anlage, oft auch den
lyrischen Details des Originals folgend. Nur an
einer einzigen Stelle wurde — im Interesse der
dramatischen Steigerung — eine Abweichung
nötig. Der Konflikt zwischen Onegin und Lenski
tritt in der Oper während des Tanzes ein —
nicht wie im Buche danach — die Stimmung
schlägt jäh um, die dramatisierte Erzählung er-
hebt sich zum Drama.
Die Form der „lyrischen Scene" ist wohl nur
dem Namen nach neu. In zahllosen älteren und
neuesten Opernwerken sind die vom Dichter und
Komponisten in kleinere Untereinheiten abgerun-
deten Scenen das eigentliche Baumaterial der
ganzen Konstruktion. „Büder" nennen es einige,
Tschaikowsky nannte es „Lyrische Scenen", In
der Ausführung hat nun Tschaikowsky — was
anderen, minderen Musikern nicht gelang — that-
sächlich gehalten, was sein neuer Titel verhiess.
Er besass Formgefühl und Formkunst genug,
um eine Scene künstlerisch in einheitlichem
Geiste auszugestalten, ihren musikalischen Ge-
halt im Räume der lyrischen Unterlage zu er-
schöpfen. Bei ihm ist die Scene nicht aus, wenn
der Vorhang fällt, sondern der Vorhang fällt,
wenn die Scene zu Ende ist. So steht Tschai-
kowsky Richard Wagner, der auf die künstle-
rische Abrundung jeder Scene grossen Wert
legte, näher, als es bei oberflächlichem Hören den
Anschein hat. Für gewöhnlich gelten diejenigen
als die eigentlichsten Nacheiferer des grossen
Bayreuthers, die ihn am unverfrorensten ab-
schreiben. Bei Tschaikowsky ist fast keine Wen-
dung, die an Wagnersche Musik erinnert, die
Richtung und Gesinnung im ganzen ist aber die
nämliche. — Der russische Meister ist ein ebenso
seltenes wie rühmenswertes Muster persönlicher
Selbständigkeit. Seine Musik träg^ ein ganz be-
stimmtes Gepräge; seine Melodik, Harmonik und
Rhythmik, wie seine entzückende Instrumentation
sind etwas ihm allein eigenes. Das stellt ihn über
viele andere. Manche werden seine ganze, in
einem feinen, liebenswürdigen Naturell wurzelnde
Weise etwas still, etwas sinnend, für den Bedarf
der Bühne zu zart finden. Wir sollten uns bei
Im Foyer, 17
258 t^t^t^t^'C::«"t:«t^t^t^"t:^t^t:^t5^"t^>
solchen etwa auftauchenden Bedenken vor Augen
halten, dass die letzten Jahre mit ihren Massenets,
Mascagnis, Leoncavallos e tutti quanti eine
ausserordentliche Verrohung der Opernkunst und
infolgedessen des Geschmackes hervorbrachten,
welcher nichts gründlicher entgegenwirken
könnte, als echte, vornehme Kunst, wie sie eben
gerade Tschaikowsky darbietet. —
Hat Tschaikowsky seinen „Onegin" auch mit
Vermeidung jedes derben Effektes, mehr im Stile
eines riesigen Staffeleibildes behandelt, das nur
hie und da die realistische Anschaulichkeit der
Theaterdekoration erreicht, so fand er doch in
der, auf das Seelenleben der handelnden Perso-
nen liebevoll eingehenden Studie um so reich-
lichere Gelegenheit, die ganze Innigkeit seines
grossen Talentes zu entfalten. Als Musiker, wie
als Dramatiker ! Der ganze Ballakt, die rührende
Scene, in welcher Tatjana an Onegin schreibt, die
schwüle, peinliche Duellscene — in derselben fällt
ein eigentümlicher kanonischer Satz . besonders
auf; dann das letzte Duett zwischen Onegin und
Tatjana sind Meisterstücke dramatischer Musik.
Die Aufnahme der Novität war eine glän-
zende. Die ersten, etwas gedehnten Scenen woll-
ten keine rechte Wärme aufkommen lassen. Von
der Ballscene an schlug aber Stück für Stück
ein, und aus dem gemachten Erfolge wurde ein
echter. Wir hegen die Zuversicht, dass sich der
Eindruck des hochpoetischen Werkes bei den wei-
teren Aufführungen noch vertiefen, „Eueen One-
gin" eine Repertoireoper werden wird. Wir könn-
ten mehrere brutale Mödeopern dafür hergeben.
Die Boheme.
(Lyrische Oper in vier Akten. Dichtung und Musik von R.
Leoncavallo. Deutsch von L. Hartmann. — Erste Auf-
fuhrung an der Wiener Hof Oper am 23» Februar 1898.)
Die beiden grossen Mailänder Verleger, Ri-
cordi und Sonzogno, sind bisher nicht bloss ge-
schäftlich, sondern man kann auch sagen, stilis-
tisch Gegenfüssler gewesen. Der erstere, der die
berühmtesten Meister einer vergangenen, glor-
reichen Zeit, Rossini, Bellini, Donizetti, Merca-
dante, herab bis zu Bazzini und Verdi zu den
Freunden seines Hauses zählen konnte, reprä-
sentiert das, was wir heutzutage Alt-Italien nen-
nen können. Sonzogno hält weniger auf gut ab-
gelagertes. Er etablierte eine „Heurigen'-
Schenke, paktierte mit den neuesten, „machte**
sie fast. Allen voran den — vielleicht schon ab-
gethanen — Mascagni, dann Leoncavallo, Gior-
dano und die paar kleinen Leute, die für den
Modebedarf ihre musikalischen Schauerdramen
liefern, bei denen das Blut so massenhaft auf der
Bühne, so spärlich in der Musik zu finden ist. In
letzter Zeit hat sich Ricordi auch einen jüngeren
Komponisten zugelegt: G. Puccini, den in den
letzten Jahren vielgenannten Autor von „Manon
17*
26o l^^l::^!::?^!:::^!:^^'^^^^^^:^'^^:^
Lescaut" und „Boheme". Beide Opern sind Kon-
kurrenzwerke, gewiss ohne dass von Hause aus
die Absicht bestand, sie als solche in die Welt zu
schicken. Die eine kollidiert mit Massenet, die
andere mit Leoncavallo. In Wien kam, da an
einen ernstlichen Erfolg neben der durch die Re-
nard und van Dyck gehaltenen „Manon" nicht
zu denken ist, nur die „Boheme" im Theater an
der Wien zur Aufführung und machte eine Zeit-
lang volle Häuser. Man lobte an dem Stücke
das praktisch gemachte Textbuch und die zu-
weilen anmutig warme, zuweilen geistreiche
prickelnde Musik. — Dieser Tage nun haben wir
an der Hofoper Leoncavallos „Bo-
heme" zu hören bekommen". Sie behandelt
denselben zerrissenen Stoff wie die Oper Puccinis.
Die Drapierung ist aber weit weniger glücklich.
Während wir bei Puccini gleich im ersten Akte
in die Handlung eingeführt werden und Anteil
an den Personen des Stückes nehmen können,
die Boheme- Wirtschaft aber sich nebenher, als
interessante Hintergrundsstaffage geltend macht,
opfert Leoncavallo volle zwei Akte der möglich-
sten Veranschaulichung des Milieus. Durch diese
zwei Akte sind die Leute auf der Bühne immer
liederlich und lustig. Sie freuen sich ihrer Not,
vielleicht weil man an dem unbezwinglichen
Hungergefühl doch den besten Maassstab für
einen gesunden Magen, für eine feste Gesundheit
besitzt, sie lachen über die Satten und freuen sich
kindisch, wenn sie sich — womöglich auf Kosten
eines anderen — auch einmal in diesen Aus-
nahmezustand versetzen können. Das wäre nun
alles sehr gut, wenn es mit der Handlung im
Zusamenhang stünde und wenn nicht bald etwas
so undramatisch wäre, wie Scenen, in welchen
sich die Leute auf der Bühne unterhalten, in
denen sie pokulicren, lachen, ulken. So kommt
es, dass man in den ersten zwei Akten immer
nur das bummelige Leben und Treiben des locke-
ren Völkchens beobachten muss, ausserdem aber
nur zwei kleine, zur Handlung gehörige Dinge
miterlebt. Im ersten Aufzuge findet Marceil, der
Maler, seine Musette, im zweiten verliert Ru-
dolf, der Dichter, seine Mimi. Fast könnte man sa-
gen, Marcell hat das Malheur, Musette zu erobern,
Rudolf das Glück, Mimi los zu werden. — Erst im
dritten Akte endlich kommt etwas Fluss in die
Sache. Musette ist das Armsein satt und will
eben ihrem angeblich noch immer geliebten Mar-
cell entfliehen, wird aber von Mimi aufgehalten,
die, eben des Leichtsinns überdrüssig, sich nach
ein bisschen Elend und Liebe sehnt. Da Musette
sich nicht mehr von ihrem Vorhaben abbringen
lässt, Rudolf auch nichts mehr von Mimi wissen
will, endet der Akt damit, dass beide Dämchen
gerührt abgehen . . . Käme nicht ein recht un-
passender posthumer Wutausbruch Marcells hin-
terdrein, so wäre der Abschluss sogar rührend.
Im vierten Akte erscheint Mimi in zerlumpter
Gewandung in der Mansardstube Rudolfs und
stirbt da den Tod der schönen Sünderin. Musette,
die im elegantesten Staate dazukommt, ist Zeugin
der mehr peinlichen, als ergreifenden Scene.
Wäre Mimi während des Stückes bedeutsamer in
den Vordergrund getreten, so würde ihr Schick-
sal auf Teilnahme rechnen können. So aber ist
Musette die Hauptfigur gewesen, Mimi nur ein
Satellit. Man kann sein Interesse nicht. von Akt
zu Akt umkrempeln lassen. Das Publikum ist
keine Maitresse, die heute dem, morgen dem ihre
Neigung zu teil werden lässt. Durch die ver-
kehrte, innerlich ungesunde Konstruktion sind
nun auch der dritte und vierte Akt, also gerade
diejenigen, welche die eigentliche Handlung ent-
halten, ziemlich uninteressant geworden, wäh-
rend die beiden ersten, wesentlich nur schildern-
den Aufzüge durch allerlei geschickt angebrach-
tes Beiwerk über ihren Mangel an innerer Not-
wendigkeit hinwegtäuschen.
Vielleicht hat sich auch Leoncavallo, der Mu-
siker — diesmal wieder sein eigener Librettist —
bei der Behandlung der lustigen Boheme-Scenen
wohler befunden, als bei den sentimentalen, im
Grunde ja doch nicht ernst zu nehmenden „Lie-
bes"- Angelegenheiten seiner Personen. Schon im
„Bajazzo" war das Vorwiegen eines graziösen
Talentes zu bemerken. Die Commedia deir arte
im zweiten Akte ist voll Reiz und anmutiger Be-
wegung, solange die Sache nicht tragisch wird.
Die schlangenglatten Reden der Nedda sind ganz
meisterhaft musikalisch illustriert. Der düstere
Schluss ist wirksam durch die Handlung, durch
die Scene; die Musik erhöht höchstens die
Sprachaccente. Als Italiener findet Leoncavallo
wohl auch allerhand Möglichkeiten, durch leb-
haftes Agieren mit Armen und Beinen, dem Zu-
schauer eine gewisse heftige Gemütsbewegung zu
suggerieren; der genauere Zuhörcfr wird es aber
bald weg haben, dass die Seele von all dem
Herumfahren nicht berührt wird, dass die Musik
weder innig, noch leidenschaftlich ist und das
Tragisclie, so gut es eben gehen will, durch Lärm
und andere grobe Theatermittel bezeichnet ist. —
In der „Boheme" hatte Leoncavallo zwei ganze
Akte vor sich, die er mit allerlei graziösen Einfäl-
len bedenken konnte. Hat er darum auch nicht
überall die Leichtigkeit des Theaterspiels im „Ba-
jazzo" erreicht, so ist das wohl auf den Umstand
zurückzuführen, dass er die Singstimme schwer-
fällig behandelte und das beste, das graziöseste
von Geigen, Hoboen und — etwas gar redselig
— von der Harfe erzählen lässt. Ist das Publi-
kum heutzutage auch gewöhnt, ins Orchester zu
horchen, so hat es doch noch nicht ganz aufge-
hört, die Bühne und alles, was von ihr herkommt,
als das wichtigste, wesentlichste zu empfinden.
Um so enttäuschter ist es dann, wenn gerade die
Sänger nur mit sichtlicher Mühe ungeschickte
Intervalle, mutwillig verzogene rhythmische
Gruppen vortragen müssen, wie sie in der „Bo-
heme" gar oft anzutreffen sind. Nicht immer!
Manches, ja vieles ist gut sangbar und wirkungs-
voll für die Stimme geschrieben.' Das sind aber
gerade die weniger wertvollen Teile der Partitur,
die mehr empfindsamen, als empfindungsvollen
Liebeshändelscenen der beiden letzten Akte. In
diesen wird viel abgegriffenes Melodien-Klein-
geld verausgabt, Leoncavallo redet da so, wie
viele andere. J*ür uns liegt der Wert der Oper
in den ersten zwei Akten, wo viel Geist, Anmut
und ein bedeutendes Theatergeschick den Hörer
^64 't^tr:^t;?^ti::^l^:«ti::^'b^ti5^'b«t:^'b^'b^'b5^t3«
immer in Spannung zu halten, zu fesseln wissen.
Für den Kenner ist die Orchestration der „Bo-
heme" überaus interessant. Leoncavallo ist un-
erschöpflich in feinen, originellen Kombinatio-
nen. Schade, dass sich diese oftmals zum Scha-
den der Sänger geltend machen. Die Stimmen
sind manchmal kaum mehr imstande, sich ver-
nehmlich zu machen. Aus dem beabsichtigten
Sprechgesang muss dann naturgemäss ein Sprech-
geschrei werden. Statt leicht dahin zu plaudern,
muss der Sänger den Mund voll nehmen, als hielte
er eine Bergpredigt. — Die Aufnahme der „Bo-
heme" konnte man in den ersten beiden Akten
eine glänzende nennen; von da ab fiel die Teil-
nahme des Publikums sichtlich. Uebrigens war
die ganze „Boheme"-Angelegenheit durch allerlei
— zum Teil öffentliche — Kontroversen zu einer
Sensationssache gemacht worden. Ganz Wien
schien darauf gespannt, wer zum Schlüsse recht
behalten werde: Leoncavallo und die mit ihm
verbündeten Sänger Herr S a v i 1 1 e und Herr
van D y c k oder Direktor Manier, der
darauf bestand, die Oper an einem bestimmten
Tage, gegebenenfalls auch ohne Herrn van Dyck
zu geben. Der Direktor siegte und als Leon-
cavallo sah, „dass es gut war", zog er auch
freundlichere Saiten auf und schied, einen erheb-
lichen Erfolg in der Tasche, von Wien. —
*
Der Bärenhäuter.
(In drei Akten von Siegfried Wagner. — Erste Aufführung an
der k. k. Hofoper am 27. März 1899.)
Bei dem germanischen Stamme der Chatten
bestand, wie Tacitus meldet, die Sitte, dass sich
mannbar Gewordene so lange Bart- und Haupt-
haar wachsen Hessen, bis sie einen Feind erschla-
gen und durch Blut die Schuld des Daseins abge-
tragen hatten. Die Nachricht von dieser ganz
eigentümlichen Fonp der Taufe weist, abgesehen
von etlichen Spuren in der Edda, auf den histori-
schen Kern einer später oftmals und in verschie-
densten Formen auftretenden Sage hin, die im
„Simplicissimus" wieder auftaucht und die wir
— mit allerlei Teufelsspuk verbrämt — in den
beiden bei Grimm erzählten Märchen von „Des
Teufels russigem Bruder" und dem „Bärenhäu-
ter" wiederfinden. Der eigentliche Sinn war all-
mählich verloren gegangen oder missverstanden
worden. Hatte sich der alte Germane freiwillig
so lange verunziert und war mit seiner Bären-
haut, umhüllt von zottigem, ungepflegtem Haar
herumgelaufen, bis er durch eine That sich als
des Vaterlandes und der Eltern würdig erwiesen,
SO wurde aus der selbstgewählten Enthaltung in
echt mittelalterlichem Sinne eine Busse, eine
Strafe, die — auch darin zeigt sich der mittel-
alterlich-christliche Einschlag — mit der Erlö-
sungsthat einer dritten Person ihr versöhnendes
Ende fand.
Siegfried Wagner, der Autor der neuen Oper
„Der Bärenhäuter", hat den Rat seines grossen
Vaters, in der deutschen Sagen- und Märchenwelt
nach Stoffen zu suchen, befolgt, mit sicherer
Hand nach tauglichem gelang^ und es mit poeti-
schem Sinne und einem Zusätze jener feinen
Ironie ausgestattet, die so spitzbübisch hinter gar
manchem Gruselmännchen und Hexlein hervor-
äugelt. Er nahm zunächst den Grimmschen
„Bärenhäuter" her. Ein Landsknecht weiss, nach-
dem der Friede geschlossen ist, mit seiner ganzen
Weisheit, dem Schiessen, Stechen und Drein-
schlagen, nichts rechtes anzufangen. Da tritt
dem Verzagenden der Teufel — wie oftmals im
Märchen — als Grünrock entgegen und verspottet
ihn seines Kleinmutes wegen. Da der Knecht
aber einem plötzlich daherkommenden Bären mit
einem sicheren Schusse das Lebenslicht ausbläst,
hält der Teufel ihn seiner weiteren Protektion
wert, giebt ihm seinen grünen Rock, in dessen
Taschen er Geld findet, so oft er auch hinein-
greift, und verlangt dafür nur, dass er sich durch
sieben Jahre nicht wasche, kämme, die Nägel
schneide und — kein Vaterunser bete. Dann zieht
er dem Bären die Haut ab und sagt: „Das soll
dein Mantel sein und auch dein Bett . . . und die-
ser Tracht wegen sollst du Bärenhäuter heissen.**
So ging der Bursche in die Welt, konnte es aber
trotz seines Reichtums und seiner den Armen und
Bresthaften erwiesenen Wohlthaten zu keinem
rechten Geniessen bringen. Sein Aeusseres
schreckte die Leute, an sein gutes Inneres mochte
niemand glauben — bis auf eine, die jüngste
Tochter eines in Schulden geratenen alten Man-
nes, dem der Bärenhäuter aus der Klemme ge-
holfen. Das geschah offenbar vier Jahre nach
dem mit dem Teufel eingegangenen Pakt, denn
der russige Bräutigam nahm die Liebliche nicht
gleich in seine Arme, sondern wanderte noch drei
Jahre umher, die Treue seiner Erlöserin prüfend,
der er als Zeichen des Verlöbnisses einen halben
Ring zurücklässt, dessen andere Hälfte er selbst
bewahrt. Nachdem die drei Jahre um sind, giebt
er dem Teufel das goldspendende Gewand zurück,
der Gottseibeiuns hat also keine Macht über ihn
gewonnen und muss den Bärenhäuter höchst
eigenhändig waschen, kämmen und ihm die Nägel
schneiden. Wie ein „vornehmer Feldobrist" aus-
staffiert, erscheint derselbe nun vor seiner Braut,
die ihn an dem halben Ringlein erkennt und die
Seine wird. Ihre hoffärtigen Schwestern laufen
geradewegs in die Hölle, und so kommt auch der
Teufel auf seine Kosten, indem er zwei Seelen
für eine gewinnt.
In diesem Märchen ist kein rechtes Schuld-
motiv aufzufinden, welches den teils bedauer-
lichen, teils lächerlichen Zustand des Bärenhäu-
ters begründen könnte. Wie so oft hat sich auch
da der Teufel eben aufgedrängt wie ein Versiche-
rungs-Agent. Herr Wagner fand in dem Mär-
208 X5«t^'b^X5«"t5^t?^"fc^^^'t«'t^'fc5^^::?^'t:^^3^
chen „Des Teufels russiger Bruder" eine er-
wünschte Ergänzung. Da fährt der tapfere Sol-
dat mit dem Teufel sogleich in die Hölle, wo er
auf eine Zeitlang gegen die einzige Verpflichtung,
das Feuer unter dem Kessel zu schüren, in wel-
chem die Verdammten braten, ganz gut aufge-
hoben ist Er besorgt dieses Geschäft zur Zu-
friedenheit des Satans, lässt sich aber etwas gegen
die höllische Haus- und Heizordnung zu schulden
kommen, indem er in die Kessel guckt und darin
— dieser echt militärische Zug stammt wohl aus
dem drcissigjährigen Kriege — zu seiner Freude
seinen Unteroffizier, seinen Fähnrich und sogar
seinen General entdeckt. Dafür wird er zu sieben
Jahren „Bärenhäuter" verurteilt, worauf dann
auch hier alles einem freundlichen Ende ent-
gegengeht
Um den Bärenhäuter noch etwas tiefer in die
Schuld des Höllenfürsten zu bringen, webte Herr
Wagner den aus Wilhelm Hertz' prächtiger
Uebersetzung bekannt gewordenen Schwank „St
Peter und der Spielmann" in die Handlung ein.
St. Peter erscheint vor dem die höllischen Kessel
Heizenden, der diesmal kein Landsknecht, son-
dern ein Spielmann, und würfelt mit ihm um die
Seelen der Verdammten, von denen er auch eine
schöne Anzahl gewinnt. Der Teufel, darüber
sehr erbost, jagt den „faulen Knecht" davon.
„Kein Spielmann kommt mir mehr ins Haus, kein
Schalksnarr, kein Phantast von Sänger !" — Die-
ser Ausgang erinnert deutlich an den Hans Sachs-
schen Schwank von dem Teufel, der „keinen
Landsknecht in die Hölle fahren" lässt Die
Kerle seien „zu mutwillig, ungerüg, frech, unge-
stüm und ungefüg ... es ist kein' War in unsern
Kram . . . wir wölFn forthin fürwahr nach kei'ni
Landsknecht fragen". Die Landsknechte und
Spielleute waren also — damals — nach dem
Sprichworte „dem Teufel zu schlecht" !
Siegfried Wagner hat den aus den Märchen
kombinierten Stoff überaus praktisch in drei
Akten disponiert und seinerseits an einer Stelle
noch eine Vertiefung hinzuzufügen versucht, in-
dem er seinen Bärenhäuter — er nennt ihn Hans
Kraft — noch einmal mit St. Peter zusammen-
treffen und sich von ihm den Auftrag zu einer
zu vollführenden Waffenthat erteilen lässt. So
zweckmässig — namentlich im altgermanischen
Ursinne der Sage — diese Einfügung einer That
ist, so leicht entbehrlich wäre die etwas bombasti-
sche Form einer „Sendung". Es ist ja ohne be-
sondere Begründung sofort begreiflich, dass ein
Landsknecht sein Handwerk ausübt. Andererseits
wird man aber gerade durch das unvermittelte
Wieder-Ersch einen St. Peters — er heisst hier:
der Fremde — daran erinnert, dass der heilige
Mann mit dem Fadenschlag des Stückes wenig
zu thun hat oder doch in der grossen Würfelscene
des ersten Aktes seine Aufgabe im Drama völlig
erfüllte. Er hat mit seinem Vorbilde, dem „Wan-
derer", die Eigenschaft gemein, öfter zu kommen,
als gut ist, unterscheidet sich von ihm aber vor-
teilhaft durch geringere Redseligkeit. Die An-
klänge an Richard Wagner seh es sind mit dem
„Fremden" keineswegs erschöpft. Wiederholt
taucht neben einem gut gesehenen Zuge in der
270 '^5^"^5^'b^t^t:^t:^t5^t5^"tj^t;^"t;^"li^>"t5^t^
Oper Wagners, des Sohnes, das Urbild desselben
aus dem Schatze väterlichen Schaffens auf. Un-
willkürlich erinnert Hans Kraft an Siegfried,
der Bürgermeister, als er seine Tochter preist, an
Daland, diese selbst, die den Bärenhäuter durch
ihre treue Liebe erlösende Luisel, an Senta, die
Scene mit den Wassernixen, welche Hans noch
knapp vor seiner Vereinigung mit der Geliebten
in Versuchung führen, an jene mit den Blumen-
mädchen im „Parsifal", der Moment, da Kraft,
von den Huldinnen bedrängt, sich seines Treue-
Ringes entsinnt, an den Augenblick, da mit Tann-
häusers Wort: „Mein Heil ruht in Maria", der
Spuk des Venusberges versinkt.
^Diese Anklänge stempeln Siegfried Wagner
aber beileibe nicht etwa zum Kopisten oder, wie
man rücksichtsvoller sagt, zum Nachempfinder.
Er besitzt gerade im Gegensatze zu allen, die sei-
nen Vater stets ohne Glück nachahmen, gar viel
eigenes, selbstständiges. In ihm ist eine echte,
naive Siegfrieds-Natur lebendig. Er kennt das
Fürchten nicht und tritt gleich mit seinem Erst-
lingswerke mit der beneidenswerten Sicherheit
des Mannes auf, der nicht etwas schaffen will,
sondern schaffen m u s s.
Herr Wagner entnahm seinen Stoff der Volks-
sage, und in dieser ist allerdings eine Ueberfülle
echter Poesie enthalten. Es geht aber damit leicht
wie mit dem Zaubersacke des Bärenhäuters.
Wenn der Richtige hineingreift, ist allerdings
Gold drinnen . . . ein anderer findet alier „Kehr-
dreck" — wie es im Märchen heisst — oder ver-
brennt s*ch die Finger, wie der diebische Wirt in
der Oper. Auf dem Wege zur Bühne, deren Rea-
lität der ärgste Feind des phantastischen, traum-
haften Märchen treibens ist, geht von jener lusti-
gen, duftigen Poesie gar leicht das beste davon,
man könnte sagen, die Unschuld verloren. Thea-
terleute glauben hie und da, dass Kostümschnei-
der, Dekorationsmaler und Beleuchter für den
Entgang aufzukommen vermögen Das
ist irrig! Die ungeheure Schwierigkeit liegt
darin, die Gestalten des Märchens auf der Bühne
so erscheinen zu lassen, wie sie im Märchen
sind, die verschwimmenden Umrisse derselben
ohne Schaden in typischen Linien einzufangen.
Das kann nur ein wirklicher Dichter, der seinen
Gebilden nicht nur einen Leib, sondern eine
menschliche Seele, einen uns vertrauten warmen
Atem einzuhauchen vermag. Ein solcher ist
Siegfried Wagner. Bei ihm steckt das Volks-
tümliche tief in der Handlung, in jeder Figur, in
jedem Wort, und die mit verblüffender Virtuosi-
tät zur Hebung der Wirkung herangezogenen
Mittel des Theaters liefern nur das Aeusserliche,
die sinnfällige Form, sie treten mit der künst-
lichen Illusion der Bühne für die verloren ge-
gangene natürliche Illusion des Märchens ein.
Als Musiker erscheint uns Herr Wagner noch
nicht so fertig, wie als Theaterdichter. Seine
Musik ist überall praktisch, von unfehlbarer dra-
matischer Ausdrucksfähigkeit, voll Geist und
Witz, oft warm und herzlich, im melodischen
aber so sehr in Vorbildern, Weber, Lortzing, Ni-
colai, Humperdinck und anderen, befangen, dass
man eine ausgesprochen Siegfried Wagnersche
272 T^:^Ti?^T;5^Ti:^Ti:^Tb^Ti3^"b?^"b^"t5^t::^Tb^Ti5^X:5^
Physiognomie darin ziemlich vergebens sucht. In
diesem Punkte ist der „Bärenhäuter" ein merk-
würdiges Seitenstück zu Richard Wagners
„Feen", in denen kaum dort oder da etwas von
dem zu entdecken ist, was wir Wagnerisch nen-
nen. Was später einmal möglicherweise als Sieg-
fried Wagnerisch gelten wird, können wir jetzt
nicht wissen und darum auch die Ansätze dazu
nicht auffinden. Herr Wagner hat sich verhält-
nismässig spät der Musik zugewendet, durch die
ganz ungewöhnliche Schnelligkeit jedoch, mit
der er sich das technische dieser Kunst zu eigen
machte, den Beweis einer ausnahmsweisen' Be-
gabung erbracht. Beides, Talent und etwas hasti-
ges Studium, erkennt man an der Partitur des
„Bärenhäuter". Vielleicht ist ein g^t Teil der
herben Frische derselben eine Folge der Skrupel-
losigkeit , die der halb ahnungslos Schaffende
vor dem Ausgereiften oder gar Ueberstudierten
voraus hat. Ich möchte Siegfried Wagner, wie
er uns in seiner ersten Oper entgegentritt, einen
Prima-vista-Komponisten heissen, so sehr macht
alles den Eindruck des flott in einem Zuge Hin-
geschriebenen.
In der musikdramatischen Technik geht Sieg-
fried Wagner etwa die Wege Humperdincks, sei-
nes Lehrers. Er benützt Leitmotive und spinnt
daraus — ähnlich seinem Vater — ein sympho-
nisches Gewebe, verschmäht daneben aber keines-
wegs die feste Form, das Lied, das Duett, den
Chor. Manchmal wird die Freude am Musicie-
ren so stark, dass sie dem Drama Schaden zufügt,
so namentlich im dritten Akte, dessen Eindruck
nur durch starke Kürzungen auf das Niveau des
vorhergegangenen gebracht werden könnte. *
Als Höhepunkt der Oper wurde allgemein der
Schluss des zweiten Aktes empfunden; wie die
liebliche Luisel, des Bärenhäuters verschreck-
tes Herz gewinnt und aufrichtet und end-
lich mit ihren kindlichen Armen den rie-
sigen Mann vor der Wut der ihn bedrängenden
Bauern schützt . . . das ist im höchsten Grade
rührend, tief ergreifend. An diese ausgezeichnete
Scene reiht sich gar manches überaus Gelungene,
so die Petrus-Scene im ersten Akte, die erste Par-
tie des grossen Erkennungsduetts im dritten Akte
— in der zweiten Hälfte desselben versagt die
Musik — die originelle Wirtshausscene und ande-
res. Aber nicht das einzelne, nicht diese oder
jene Melodie, oder der bestrickende Glanz des
Orchesters; sondern das Ganze ist es, was uns
so sehr gefangen nimmt ... die morgenfrische
Märchenluft, in der wir atmen und in der wir den
patriarchalischen Verkehr St. Peters und des
Teufels mit den Menschen für etwas ganz selbst-
verständliches halten, die Treuherzigkeit und
Verschlagenheit, der Mut und die Zaghaftigkeit
all der da droben auf der Bühne Handelnden und
Wandelnden, der echt deutsche Humor des trotz
seines fatalen Metiers so gemütlichen Teufels,
der ganze Zauber der vieldeutigen deutschen
Sage. Wer das Stück auf sich wirken lässt, ohne
viel zu fragen, wer als Genussfreudiger und nicht
mit dem Einbrecherwerkzeuge der Kritik in der
Tasche das Theater betritt, wird reich belohnt
werden. Brahms, der sehr für Märchenstücke
Im Foyer. lg
274 Ti:^Ti:?^Tb«Ti5^Xi?^Ti5^Ti?^Ti5^Ti:^Tb^Ti?^T^
schwärmte und selbst einmal ernstlich vorhatte,
eine derartige Oper zu schreiben, antwortete auf
einen Einwand gegen das Genre: „Wenn ich so
etwas sehe, sitze ich wie ein Kind im Theater".
Diese Kindlichkeit, die eigentlich nichts als ein
reines, empfängliches Herz bedeutet, verlang^
auch „Der Bärenhäuter".
Herr M a h 1 e r erwarb sich ein grosses Ver-
dienst durch die rasche Erwerbung und Auffüh-
rung des „Bärenhäuter". Er hat dem Tempo der
seligen Hofspritze an dem unter seiner Leitung
stehenden Theater längst ein Ende gemacht.
Auch für Direktoren gilt das Wort : „Wer schnell
giebt, giebt doppelt!"
J5^
Der Dämon.
(Phantastische Oper in drei Akten von Anton Rubinstein. —
Erste Aufführung in der Wiener Hofoper am 23. Oktober 1899.)
Seit dem Entstehen einer eigenen russischen
Litteratur, also seit dem Auftreten Puschkins,
Lermontoffs und Gogols, giebt es auch eine rus-
sische Oper. Während aber das Schrifttum sich
in unerhörter Weise entwickelte und nun eine
führende Rolle in der Weltlitteratur spielt, blieb
die dramatische Musik in ihren Wirkungen der
Hauptsache nach auf die nordische Heimat be-
schränkt. Wohl hat sie sich der von den grossen
russischen Dichtern geformten Stoffe bemächtigt,
aber eigentümliche, schon durch ihre ethnographi-
sche Besonderheit reizvolle Werke entstanden trotz
dieser originellen Vorlagen nicht. Manche glau-
ben, die russische Oper sei für uns Abendländer
zu russisch. Vielleicht ist gerade das Gregenteil
richtig, und fehlt der Gattung nichts als durch-
greifende Nationalisierung. Die Italiener spre-
chen in ihren Opern ein unverfälschtes Ita-
lienisch, die Franzosen ein unverfälschtes Franzö-
sisch und haben sich gerade dadurch — auch in
fremden Ländern — Wirkung und Einfluss ge-
i8*
276 ^^^fr>X::^l^:;riX::^^^^^'t:s!^l::^l:^
sichert. Der grosse Erfolg der Opern Smetanas
erklärt sich durch das specifisch Böhmische sei-
ner Ausdnicksweise, deren Reiz selbst solche
nicht widerstreben können, die im übrigen tsche-
chischer Sympathien kaum verdächtig sind.
Der russische Komponist ist aber — bis jetzt
wenigstens — seiner Sache noch nie so sicher ge-
wesen, um — auf den Volksliedern der Heimat
fortbauend, ihre einfache Sprache künstlerisch
entwickelnd — einen eigentlichen russischen
Opernstil erstehen zu lassen. Der Grund mag
darin liegen, dass in Russland zur Zeit, da die
nationalen Dichter erwuchsen, noch ausschliess-
lich die italienische und französische Musik
herrschte, und die Musiker nicht — gleich den
Dichtern — den Mut fanden, ihrem Publikum
mit etwas durchaus Neuem, Eigentümlichem ent-
gegenzutreten. Glinka, der erste, der specifisch
russische Töne in der Oper anschlug, kehrte in
vielen Partien seiner Opern doch wieder zu der
ihm von Jugend auf geläufigen und gleichsam ins
Blut übergegangenen italienischen Kantilene zu-
rück: eine Konzession, die er vielleicht weniger
seinem Publikum als sich selbst machte. Die
Nachfolger Glinkas sind nicht viel weiter auf
dem einmal betretenen, richtigen Wege fortge-
schritten und haben nur, indem sie sich, wie
Tschaikowsky französischen, wie Rubinstein deut-
schen Einflüssen überliessen, gelegentlich Seiten-
pfade betreten, die sie dem einzig erstrebens-
werten Ziele einer nationalen Oper nur unmerk-
lich näher brachten. Auch eine gewisse Hart-
näckigkeit, mit der die neueren russischen Meister
an der Erscheinung Richard Wagners sich
vorüberzitdrücken versuchten, hat dieselben in un-
günstigem Sinne beeinflusst. Sie haben dem
grossen Bayreuther nur einen kleinen Teil dessen
abgeguckt, was von ihm endlich jeder lernen
muss, der der ungeheueren Vorteile einer bis in
ihre letzten Konsequenzen ausgebauten Opern-
technik teilhaftig werden will.
Rubinstein, dessen „Dämon" wir soeben als
Novität über die Bühne der Hofoper schreiten
sahen, wurde in dieser Abstinenz noch durch
künstlerisch-persönliche Motive bestärkt Ihm
war Wagners Kunst nicht sympathisch, er sah
aber doch deren elementare Wirkung auf das
Publikum einer ganzen Welt, und diese Erkennt-
nis machte in ihm den begreiflichen Wunsch rege,
es Wagner gleichzuthun. Was ihn und Wagner
aber weltweit trennte, waren die Motive ihrer
dramatischen Thätigkeit. Wagner besass die
Rücksichtslosigkeit des Genies und hielt so ziem-
lich alles andere Komponieren ausser dem drama-
tischen für unnütz, Rubinstein stand der Bühne
stets mit einem Gefühle der Sehnsucht gegenüber,
das keine gesunde Befriedigung fand, schrieb
Oratorien, die nach der Bühne, Opern, die nach •
dem Konzertsaal verlangten, und brachte daher
weder ein vollgültiges Oratorium, noch eine voll-
gültige Oper zustande.
Mangel an „Theatertalent'*, an jener eigen-
tümlichen Gabe, die den damit Begnadeten in den
Stand setzt, die grössten Wirkungen klug von
langer Hand vorzubereiten und im entscheiden-
den Moment sich selbst und seinem Tempera-
278 ■t:^TiJ^Ti:!^'b^'fc«Ti^'fc^Ti:!^^5^'t^"ti:^'t?^'t:«^5^
mente die Zügel schiessen zu lassen, also Mangel
an Theatertalent ist wohl der erste und wichtigste
Grund, warum Rubinstein für die Bühne so wenig
Bedeutendes schuf. Aber auch seine Flüchtig-
keit in der musikalischen Technik, sein Mangel
an Selbstkritik haben dabei mitgespielt. Er lernte
nie so recht einen symphonischen Satz aus seinen
Keimen heraus entwickeln und steigern, er be-
gnügte sich, hübsche, ja sogar geniale Einfälle
hinzuwerfen, aber die Macht der Arbeit, der Ver-
tiefung, hat er nie genügend geschätzt, nie aus-
reichend anerkannt. Er zeigte nach Groldfeldern,
ohne sie abzubauen 1 — Beim Komponieren dra-
matischer Werke verwechselte er die Begriffe
von guter und von bezeichnender Musik. Auf der
Bühne kommt es keineswegs in erster Linie
darauf an, dass die Musik gut, d. h. an sich be-
deutend, sondern dass sie für den sceni-
schen Vorgang, für die handelnden Personen
bezeichnend sei. Lortzing , ein geborener
Theaterkomponist, ist ein Beispiel. Seine Mu-
sik ist fast nirgends bedeutend, aber sie trifft mit
unfehlbarer Sicherheit den Ton der Scene, und
das macht ihre Wirkung und daher ihren Wert
aus. Bei den allergrössten Meistern trifft alles
zusammen; ihre Musik ist ebensowohl die denk-
bar beste Illustration des Scenischen wie herr-
lich in der Erfindung, im konstruktiven Ausbau,
im Klang. „Die Meistersinger", „Figaros Hoch-
zeit", „Don Juan", „Fidelio" drängen sich da wie
von selbst in die Erinnerung, und die, der üppigen
Opernproduktion gegenüber, verschwindend
kleine Zahl durchaus unanfechtbarer Meister-
werke zeigt am deutlichsten, welch seltenstem
Zusammentreffen eigenartiger Umstände diese ihr
Dasein verdanken.
Rubinstein, der, wie es scheint, ohne sorgfäl-
tig geprüften Plan schrieb, war in guten Stun-
den vollauf zufrieden, wenn die Musik hübscJi
war; dass der Darsteller sein Spiel geradezu aus
der Partitur herauszulesen vermochte, das küm-
merte ihn nicht viel. In weniger guten Stunden
begnügte er sich mit noch weniger; da wurde
seine Musik weder gut, noch bezeichnend. Unter
den Opern Rubinsteins nimmt „Der Dämon**
wohl die erste Stelle ein; der Komponist hat sich
bei der Arbeit nicht allzu grosser Sorglosigkeit
überlassen, der Stoff — Lermontoffs poetischem
Epos gleichen Namens nachgebildet — hat ihn
interessiert, angeregt, erwärmt und seine Phan-
tasie reichlicher als sonst befruchtet. Bei vielen
Schwächen ist im „Dämon" eine Fülle von Poesie
enthalten, wie wir sie in den anderen Bühnen-
werken des Meisters selten und nur an den besten
Stellen antreffen.
Die Lermontoffsche Dichtung gehört zu der
schwarzsammetnen Erd- und Elementargeister-
Litteratur, die zur romantischen Zeit üppig
wucherte, und der die Opernbühne einige bedeu-
tende Werke, „Hans Heiling", „Vampyr" und den
„Fliegenden Holländer" verdankt. Der „Dämon"
Lermontoffs ist Byronscher Abkunft und erinnert
in manchem an den Satan in des grossen Briten
Mysterium „Kain". Gleich der Flug des Dämons
durch das Weltall — eine Scene, welche in etwas
kindlicher Nachbildung die Rubinsteinsche Oper
2 8o l^:riX:^\::^'X:::^i::^\:^*^::^\::^'X^
eröffnet — ist einer der genialsten Partien von
„Kain" nachgebildet. Leider ist gerade diese
rein musikalisch äusserst gelungene Scene typisch
dafür, wie Rubinstein über die Oper dachte, und
was er somit von seinem Librettisten verlangte.
Während der Chor der ,,bösen Geister", der
„Winde, Wasser und Quellen" ein effektvolles
Musikstück absingt, erscheint zwischen den sich
jagenden Luftgebilden hoch oben in magischer
Beleuchtung der Dämon. Wer es aus dem Ler-
montoff weiss, kann sich denken, das blau be-
lichtete steife Männchen auf dem wackelnden Ge-
rüst bedeute den Dämon, der sich auf dem Flug
über die Erde befinde. Ist das aber ein drama-
tischer Anfang? Wagner hat es wohlweislich
vermieden, uns durch die scenische Darstellung
der jahrelangen Seefahrt des Holländers rühren
zu wollen. Diese Fahrt ist eben etwas total un-
dramatisches, gerade so wie die Luftpartie des
Dämons, die höchstens den Freund seltsamer
Bühnenbilder einigermassen befriedigt. Viel mehr
Bewegung kommt auch nicht in die Handlung,
als der Dämon in einem umständlichen Zwiege-
spräch mit einem Engel des Herrn — eine Art
„Vorspiel im Himmel" — seine sonderbaren An-
sichten über Liebe, Freiheit, Wissen und Macht
verkündet und dem beflügelten Vertreter des
„guten Princips" eine offene Kriegserklärung ins
Gesicht schleudert. Aber der Streit um die Seele
Tamaras, der Tochter des Fürsten Gudal, be-
ginnt! Die schöne Grusierin soll den jungen
Fürsten von Sinodal heiraten; der Verlobte ver-
spätet sich auf dem Wege und wird — wohl im
heimlichen Auftrage des Dämons — von Tataren
erschlagen. Die Braut, welche, umgeben von
allen ihren Lieben und den Edlen des Landes, des
Verlobten harrt, kann nur noch den toten Gelieb-
ten umfangen. Trotz der Einflüsterungen und
Liebesversicherungen des Dämons, der — allen
anderen unsichtbar — vor ihr auftaucht, be-
schliesst sie, ins Kloster zu gehen. Jedoch auch
hier findet sie nicht den ersehnten Frieden; der
Dämon bedrängt sie mit wilder Werbung, und
nur das pünktliche Eintreffen des Engels ver-
hütet den schliesslichen Triumph des Bösen.
Chor der Engel, Apotheose mit Himmelfahrt,
Schluss. —
Diese Vorgänge wären bei guter dramatischer
Disposition, bei geschicktem Hervorkehren des
auf der Bühne wirksamen gewiss zu einem
brauchbaren, vielleicht sogar zu einem vortreff-
lichen Opernbuch zu gestalten geweseii. Wisko-
watoff, der Librettist Rubinsteins, hat es aber
gerade am wichtigsten, am richtigen Blick für
das durch das Theater zur Erscheinung kommende
fehlen lassen und — vielleicht beeinflusst durch
den Tondichter — diesem eine ganze Serie leid-
licher Vorwände zum Musicieren, ein Bilderbuch,
aber kein Opernbuch, geschweige denn ein Drama
geliefert.
Gleich Tamara ist unrichtig eingeführt. Bei
ihrem ersten Auftritt ist sie von den unvermeid-
lichen wasserholenden und blumenbindendeu
Mädchen umgeben, die ein hübsches Lied von
einem Fischlein singen, eine orientalisierende
Melodie von eigenem, zartem Reiz. Die junge
282 'fc?^'fc:^ti?^'b^ti?^Ti5^'b?^'b?^ti^ti5^tb!^'fc;^'b^
Braut singt nun auch ihrerseits etwas von dem
Fischlein, anstatt ohne Umstände ihrer Sehn-
sucht nach dem Bräutigam Ausdruck zu geben,
in die Weite zu spähen, kurz, das Bild einer sehn-
süchtig Wartenden zu bieten. Ehe man über
Tamaras Seelenzustand, über ihre Liebe zu dem
einen aufgeklärt ist, erscheint schon der andere,
der Dämon, und beginnt — nach unserer Ansicht
etwas schwunglos und langweilig — Tamara
zu umgarnen. Die Amme bemerkt das Bangen
Tamaras und versucht durch ein Liedchen die
Geängstigte zu beschwichtigen. Dies Lied ist
unnütz wie die ganze Amme, welche jedesmal
verschwindet, sobald Tamara sich, durch den
Dämon gepeinigt, ihrer Sinne nicht mehr mächtig
fühlt. Sie ist eine fanatische Freundin von Duet-
ten, die zu singen sie durch ihr Abgehen Tamara
und dem Dämon ermöglicht. Sobald Beäng-
stigung, Dämon und Duett vorüber sind, er-
scheint sie wieder und — singt Alt Das ist doch
etwas gar zu kunstlos gemacht. Nachdem Ta-
mara samt den nochmal das Fischlein-Lied
singenden Mädchen abgegangen, hebt eine präch-
tige, über einem einfachen Motiv aufgebaute
Verwandlungsmusik an, die wohl den Marsch der
Reisigen Sinodals illustriert. Rubinstein, der Un-
dramatiker, findet für diesen undramatischen
Vorgang merkwürdige, eigentümliche Töne, die
zum besten der ganzen Oper gehören. Man hört
förmlich das Klirren der Harnische und Waffen,
den wuchtigen Tritt einer schwerfälligen, von
fremdem Willen beherrschten Menge. Das neue
Bild zeigt uns Sinodal auf dem Rastplatze ein-
treffend und das Lager beziehend. Der junge
Fürst ist natürlich Tenor und singt in einem
überaus hübschen As-dur- Stücke von seiner Liebe
zu Tamara. Man kann nicht sagen, dass Sino-
dal geschickt eingeführt ist; man musste den
Eindruck bekommen, die Heerschar sei gleichsam
von dem Dämon mit Müdigkeit geschlagen, ge-
zwungen, hier zu nächtigen. Dass die Pferde
nicht mehr weiter können, ist kein dramatisches
Motiv. Das wirkungsvolle Bühnenbild und man-
cher feine Zug in der Musik helfen aber über die-
sen neuerlichen Fehler einigermassen hinweg.
Sinodal und seine Getreuen schlafen ein; die
Stille im Lager — wieder etwas Undramatisches
— malt Rubinstein mit Meisterschaft. Sein Ta-
lent lässt ihn sofort im Stich, wie der Ueberfall
durch die Tataren, also ein Vorgang, anschaulich
gemalt werden soll. Die Sache geht ziemlich ge-
räuschlos vor sich, man sieht ordentlich, wie bei
der Probe alles abgemacht wurde, damit sich die
eine Hälfte des Chores von der anderen mög-
lichst willig abführen lasse. — Sehr stimmungs-
voll schliesst der Akt mit dem Tode des im
Kampfe verwundeten Sinodal.
Mit einem prächtigen Bild, dem Hofe Gudals,
beginnt der zweite Aufzug. Nachdem ein rau-
schender Chor abgesungen ist, erscheint ein
merkwürdiger Bote; er meldet nur, dass sein
Herr, Sinodal, der ihn vor der Katastrophe ab-
gesandt, noch heute komme. Das ist nun für
niemand eine Neuigkeit. Man erwartet ja den
Bräutigam ! Im Auftrag des Librettisten freuen
sich aber sämtliche Höflinge über die Worte des
284 t5^Ti?^Ti?^lb?5Ti:^"t5^Ti3i^"t5^'t5^t5^T^
Sendlings und stimmen alsbald in ein — Trink-
lied ein. „Hoch das Brautpaar!" — Ein Bote
muss in einem Stück wirken, wie Sauerteig im
Brot; seine Nachricht muss wichtig, muss hand-
lungserregend sein. Hat er nichts wichtiges zu
sagen, so bleibt er besser weg, denn er wirkt ja
ohnehin nie durch seine Person, sondern durch
die von ihm vertretene Sache. Der Abgesandte
Sinodals ist lächerlich, und daher wäre sein Weg-
bleiben ein Vorteil. Er könnte — vor der Vor-
stellung — die Amme heiraten. — Nach dem
Trinklied kommt die weitaus beste Partie der
Oper, das in seinem musikalischen Teil aus Kon-
zertaufführungen bekannte feurige, ja geradezu
geniale Ballett; es brachte durch das Hin-
reissende der hiesigen Darstellung, durch den be-
wunderungswürdigen Vortrag unseres Orchesters
eine mächtige Wirkung hervor.
Plötzlich ertönt Gemurmel hinter der Scene,
das Unheil naht . . ., man bringt auf einer Bahre
hingestreckt den toten Bräutigam. Da könnte
der Dramatiker einsetzen und die Seelenqual der
zu Tode getroffenen Braut in herzzerreissenden
Tönen schildern. Tamara überlässt es aber dem
Chor, die musikalischen Exequien anzustimmen
und beteiligt sich fast nur als erste Sopranistin
an der Sache. Dadurch ist sie unheilbar unin-
teressant geworden und ihr weiteres Schicksal ist
uns gleichgültig. Von musikalischem Wert sind
noch ein warm empfundenes, effektvolles En-
semble (H-moU), ein paar kleine Stellen aus der
Partie des Dämons „Ohne Segel, ohne Steuer**
und „Sobald die Nacht mit tiefem Schleier". Das
Ende des zweiten Aktes ist ein müdes, philister-
haftes Fortmusizieren ohne musikalischen Effekt
und ohne dramatischen Sinn. Dass der alte Fürst
seine Tamara ungern ins Kloster gehen lässt, ist
begreiflich. Das Publikum sollte aber nicht der
ganzen Familienscene bis zur erlangten Erlaubnis
beiwohnen müssen. Die höchst ungeschickte
letzte Partie des Aktes hat Direktor Mahler ge-
strichen und so wenigstens einen durch den Ab-
schied Tamaras rührenden Schluss gewonnen.
Der dritte Akt, der in der Liebesscene zwi-
schen Dämon und Tamara den Höhepunkt brin-
gen sollte, ist durchaus schwach ; ein kleiner
Aufschwung — vor dem Qior der Nonnen — ist
der einzige Lichtblick in dem farblosen Grau-in-
Grau der Partitur.
Die Aufführung des „Dämon" in Wien ist
eine mustergültige. Herr Direktor Mahler hatte
keinen Versuch, dem schwachen Drama theatra-
lische Wirkungen aufzuschminken, unterlassen
und mancher äusserlich bedeutende Effekt ist auf
die Rechnung dieses genialen Theatermannes zu
setzen.
^
Es war einmal . . .
(Tlärchenoper von Alexander v. Zemlinsky. Text nach H.
Drachmann von naximilian Singer. — Erste Auffahrung an der
k. k. Hofoper in Wien am 22. Januar 1900.)
Vor sechs Jahren wurde der Name Alexander
V. Z e m 1 i n s k y s , des Autors der neuen Oper
„Es war einmal . . .", zum ersten Male öffentlich
genannt. Der seither verstorbene Direktor des
Konservatoriums, der warmfühlende, jedes Ta-
lent fördernde Hans Fuchs, führte eine Sympho-
nie des damals Einundzwanzigjährigen auf, die
gerechtes Aufsehen erregte. Ich schrieb damals
— man gestatte mir das Selbstcitat — über das
fast durchgehends vortrefflich instrumentierte
Werk: „. . . Auffallend ist die in allen Sätzen
sich geltend machende Sucht, durch harmoni-
sehe Kühnheiten erstaunen zu machen. Das hat
etwas Theatralisches, was wir bei der Symphonie
gerne entbehren". Der Bühnenkomponist steckte
dem jungen Manne also seit jeher in allen Glie-
dern. Auch spätere Arbeiten Zemlinskys, na-
mentlich eine Suite für Violine und Klavier, zeig-
ten dramatische Anwandlungen. Ein Quintett,
sowie eine im vorigen Jahre durch den Toiikünst-
ler-Verein aufgeführte Symphonie hielten sich
von allem Theaterzauber verhältnismässig am
weitesten entfernt. Sie waren sichtlich unter
dem Einflüsse Johannes Brahms' entstanden, der
sich seinerseits auch lebhaft für den begabten
und geschickten Kunst jünger interessierte und
mit dem Ausdrucke seiner Sympathie keineswegs
zurückhielt.
Schon vor drei Jahren betrat Zemlinsky mit
einem dramatischen Werke die Bühne. Am
10. Oktober 1897 wurde in München seine preis-
gekrönte Oper „Sarema" gegeben. Auch das
Publikum gab seinen Segen dazu; „Sarema" ge-
fiel, gehörte also nicht zu jenen Werken, von
denen O. Blumenthal einmal kalauerte: „Je prei-
ser ein Stück gekrönt ist, desto durcher fällt es".
„Sarema" hielt sich einige Zeit in München, dann
folgte noch Leipzig mit einer Aufführung. Für
einen Anfänger immerhin ein Erfolg, für einen
Fünfundzwanzigjährigen ein grosser Erfolg !
Als richtiger, geborener Theater-Komponist
dachte Zemlinsky nicht lange über das Schicksal
seiner ersten Oper nach, sondern schrieb eine
zweite. Haben sich die Zeiten auch geändert und
ist das Opernschreiben nicht mehr eine halb hand-
werksmässige Beschäftigung wie zur Zeit Rossi-
nis, ja noch des jungen Verdi, hat Richard Wagner
mit deutlicher Rückverweisung auf Mozart der
oberflächlichen Produktion, wenigstens momen-
tan, so ziemlich den Garaus gemacht, so wird
man den Beruf eines Musikers zum Opernkom-
ponisten jetzt, sowie allezeit an seiner Leiden-
schaft, seinem ungestümen Drange erkennen, für
die Bühne schaflfen zu wollen! Wer nicht im-
stande ist, guten bürgerlichen Verhältnissen zu
288 Ti5^Ti5^Ti5^Ti?^'fc«'fc^*t^tbJ^Tb^Ti5^'t:^'bJ^Ti3^Ti^
entlaufen und in Iglau oder Wiener-Neustadt in
kleinen Rollen die weltbedeutenden Bretter zu be-
treten, trägt nicht das Zeug zum Schauspieler in
sich ; wer nach dem Durchfalle einer ersten Oper
nicht schon nach dem zweiten Textbuch langt,
wird kein Opernkomponist ! Zemlinsky war in
diesem Sinne verhältnismässig besser daran.
„Sarema" hatte sogar vielen gefallen — am
wenigsten vielleicht dem Komponisten, der aber
dafür bei dem Lebendigwerden seines Erstlings-
werkes, bei Proben und Aufführung endlich die
ersehnte unmittelbare Fühlung mit dem Theater,
den Einblick in dessen kompliziertes Getriebe er-
hielt.
Mit dem Stoffe zu seiner zweiten Oper that
Zemlinsky einen glücklichen Griff. Bei einer
Aufführung von Holger Drachmanns „Es war
einmal . . ." war ihm der Gedanke, daraus eine
Oper zu formen, durch den Kopf gegangen. In
Herrn Dr. Maximilian Singer, der vor Jahren
einen hübschen Opemtext, „Esther", ein paar
kleine Schauspiele und das Libretto zu der mehr-
mals aufgeführten Reichschen Oper „Der
Schwur" geschrieben, fand er einen einiger-
massen erfahrenen, gebildeten Mitarbeiter. Hans
Fuchs war mit Rat zur Hand, und so ward in
verhältnismässig kurzer Zeit die Oper gefördert
und vollendet. Nicht in der jetzigen Form. Das
Werk bestand aus fünf Bildern, enthielt manches
Ueberflüssige, also Schädliche. Trotzdem nahm
Direktor Mahler, der — selbst ganz Theater-
mensch — sogleich den Theatermenschen in Zem-
linsky witterte, das Werk zur Aufführung an.
bestand aber auf durchgreifenden Veränderungen,
die Zemlinsky als vorteilhaft erkannte und so-
fort durchführte. In dieser neuen Fassung be-
kamen wir das Stück nun zu sehen.
Der Stoff der Oper ist als Märchen unter dem
Namen „König Drosselbart'' in Erzählungen aus
Hessen vorgebildet, hat auch in dem „Pentame-
rone" des Giambattista Basile (Neapel 1637)
Aufnahme gefunden und wurde — etwas verän-
dert — von Andersen im „Schweinehirten" wie-
dergegeben. Diese Form haben Zemlinsky und
Singer ihrem Werke zu Grunde geleg^.
Ein armer Prinz, der um des Kaisers Toch-
ter wirbt, wird von dieser nicht beachtet, trotz-
dem er sich durch ein paar ihm gehörige Wun-
derdinge, eine mit ihrem Duft alle Sorgen über-
täubende Rose und eine alle herrlichsten Melo-
dien singende Nachtigall, beim Hofe in Respekt
zu setzen versteht. Er verdingt sich als Schweine-
hirt, fertigt einen Topf, an dem man, sobald es
in ihm kocht, die Speisen von jedem Feuerherde
in der Stadt riechen kann. Die neugierige Prin-
zessin will den Topf haben und erwirbt ihn end-
lich für zehn Küsse, die sie — dem Schweine-
hirten giebt! Die Küsse der Holden ermuntern
den Prinzen zu weiteren Kuristwerken. Er macht
eine „Knarre**; wenn man diese herumschwang,
erklangen „alle die Walzer und Hopser, die man
von Erschaffung der Welt an kannte". Diese
Spielerei erwirbt die Prinzessin für hundert
Küsse, die sie sich von dem als Schweinehirten
verkleideten Prinzen geduldig aufzählen lässt.
Der Kaiser kommt dazu . . . allgemeines Ent-
Im Foyer. 19
2QO 't^'t^'t:::^"t?^Ti^Ti5'5Tb^t:^"t?^'t;^'t:^"C:^"t^"t^
setzen. . . . „Ich bin dahin gekommen, dich zu
verachten. Du wolltest keinen ehrlichen Prinzen
haben . . . aber den Schweinehirten konntest du
für eine Spielerei küssen" . . . sagt der Prinz und
wendet sich, ohne die spröde Dame mitzunehmen,
in sein Reich zurück.
Also ein Märchen mit „schlechtem Ausgang".
Ein solches ist für die Bühne selbst heutzutage,
wo die Stücke so gerne mit einem Fragezeichen
schliessen, nicht gut brauchbar. Holger Drach-
mann, der den Stoff reicher ausbaute und drama-
tisch gliederte, Hess das Paar nach einer an der
Prinzessin vollzogenen harten, aber alle edlen
Regungen ihres weiblichen Herzens erweckenden
und stärkenden Prüfung in den Frieden einer
glückseligen Ehe eingehen. Die Prinzessin fäng^
wie das Käthchen in der „Widerspenstigen" an
und wird schliesslich so weich wie das Käthchen
von Heilbronn. Etwas Turandot, etwas Genovef a,
zum Schlüsse auch etwas Aschenbrödel klingen
nebenher mit an.
Zu Beginn der Zemlinskyschen Oper sehen
wir die Prinzessin eben an ihrer Lieblingsbe-
schäftigung, dem Abweisen prinzlicher Freier.
Sie besorgt das Geschäft mit einer unhöflicheji
Grazie, die sie keineswegs unsympathisch, kalt
oder herzlos erscheinen lässt. Sie ist übermütig,
aber nicht bösartig. Man glaubt ihr, dass sie sich
danach sehnt, einmal „dem Rechten in treuer
Liebe" unterthan zu sein. Die richtige drama-
tische Spannung entsteht gerade daraus und er-
hält sich so lange, bis das längst Erwartete, der
Durchbruch ihres besseren Ich, schliesslich auf
unerwartete Weise geschieht. Der Prmz von Nor-
derland ist nun der Rechte! Er imponiert der
Prinzessin sogleich durch sein von jeder Süss-
lichkeit freies Wesen, wenn sie es auch coram
publico nicht zugeben will. Der König, des ewigen
Werbens und Abweisens müde, ist damit einver-
standen, dass man die Prinzessin hart prüfe. Der
Prinz erscheint als Zigeuner verkleidet, tritt ihr
gegen ein paar Blumen aus ihrem Haar einen
Becher ab, dem Schmetterlinge entschwirren,
einen Topf aber, aus dessen Brodeln man alles
Vernehmen kann, wonach man fragt, den erhält
sie nur um einen Kuss. Eben als der Kaufpreis
erlegt — gründlich erlegt wird, kommt der im
Komplott stehende König dah£r und jagt die vor
dem ganzen herbeigerufenen Hofe blossgestellte
Prinzessin mit dem Zigeuner, nun ihrem Gatten,
davon. In einsamer Waldeshütte, da sie ihren
Weibeswert erweisen soll, entdeckt sie ihr Herz:
Gefahren, die dem Gatten drohen, lassen ihic
Liebe hoch aufflammen, die vollends Geläuterte
fällt schliesslich dem heissgeliebten, bei aller
Stärke, milden, gütigen Manne ans Herz, dem
Prinzen, dem sie bereits als Zigeuner Leib und
Seele geschenkt.
Zu diesem poetischen, ausgezeichneten Text-
buche hat Zemlinsky eine Musik geschrieben, die
man durchaus als die Arbeit eines Virtuosen be-
zeichnen muss; eines Virtuosen in der Bühnen-
technik, eines Virtuosen in der Stimm- und Or-
chester-Behandlung. Es giebt derzeit wenige, die
ein so scharfes Auge für das auf der Bühne
Wirksame haben wie Zemlinsky, wenige, die mit
19*
292 t^t^t^t^t^'b^t^t^t^t^iti^'^i^t^t^
allen grossen und kleinen Geheimnissen des
Effekts — im guten Sinne — so vertraut sind wie
er. Er lässt seine Darsteller nicht nur vom Thea-
terschneider zu dieser oder jener Gestalt machen,
er trifft mit unfehlbarer Hand den richtigen Ton
jeder Scene und — was ebenso wichtig — das
richtige Tempo der Rede. Der Theater-Kom-
ponist besitzt gerade in dem durch Noten zwei-
fellos festgestellten Zeitmasse von Rede und
Gegenrede ein dramatisches Mittel ersten Ranges,
um Gemütszustände, Stimmungen, Stimmungs-
ändertmgen seiner handelnden Personen absolut
sicher anzugeben. Selbst für den minder begab-
ten Sänger besteht darin eine Richtschnur, die
ihn veranlasst, beim Einhalten der allgemeinen
Tempovorschrift fast unwillkürlich das richtige
zu treffen. Dieses Kunstmittel handhabt Zem-
linsky mit der Hand des Meisters.
Nichtsdestoweniger ist alles, was sich auf der
Bühne ereignet, gleichsam nur symbolisch. Erst
das tief unten wie in einer .Krypta seinem ge-
heimnisvollen Dienste obliegende Orchester hebt
den Schleier weg, erläutert, ergänzt, motiviert
alles.
Wenn Wagner irgendwo sagt, dass er sich
zutraue, „durch die Musik den Ausdruck (des
Wortes) so zu vervollständigen, dass niemand im
Zweifel sein soll", wie es seinen handelnden Per-
sonen zu Mute ist, so trifft das in gewissem Sinne
auch bei Zemlinsky zu, wenn wir uns auch nicht
verhehlen, dass bei ihm die Musik mehr die
äusserliche als die innerliche Bewegung malt, dass
der Komponist immer zuerst aufs Anschauliche
j
und erst in zweiter Linie auf den Gemütsaus-
druck hinarbeitet. Er iolgt da weniger Wagner
als Goldmark, dessen eigentlichste -Stärke im
Illustrieren thatsächlicher Vorgänge besteht, und.
der den Gemütston häufiger ersehnt als erreicht.
Was Zemlinsky an Illustrierendem leistet, spottet
der Beschreibung; wie er den Flug der Schmet-
terlinge schildert, wie er das Brodeln des sieden-
den Wassers im Kessel wiedergiebt und noch
vieles andere sind Ergebnisse scharfsinnigster
Befobachtung von Natur und Leben, dabei instru-
mentale Taschenspielerstücke einer sogar weit
über Wagner hinaus erweiterten Technik. Fast
scheint es, dass der grosse Bayreuther bereits an-
fängt, zu den „überwundenen Standpunkten" zu
gehören ! Wagner lässt sich aber selbst im Grabe
nichts gefallen, er lässt sich keinen Alten heissen
und zwingt diejenigen, die in einzelnen Punkten
über ihn hinausgehen wollen, ganz in ihm unter-
zutauchen, seine Spräche zu reden, seine Aus-
drucksweise so ganz anzunehmen, dass kaum
mehr etwas Persönliches überbleibt. „Es war
einmal . . .", gewiss eine der besten nach-Wag-
nerschen Opern, ist ein Zeugnis dafür. Zemlinsky
ist so ganz im Banne Wagnerscher Ausdrucksi-
weise befangen, dass man sich manchmal fragt:
„Ja, was ist denn da eigentlidi von Zemlinsl^?'*
Und doch ist Zemlinsky ein starkes Talent. Neben
der gewaltigen Stimme Wagners, die so gut aus
den Säulenhallen des Königsschlosses wie zwi-
schen den Bäumen des Nordedandwaldes hefvor^
hallt, tönt etwas Neues, Eigentümliches, wemt
auch leise mit, und das ist es, was uns hoffen
294 t^'^^t^t^^t^t^'t^ti^t^'b^ts'^t^t^t:::^
lässt, dass Zemlinsky sich schjiiesslich selbst
finden wird. Dann wird er auch das Heil nicht
mehr in einem unablässigen ruhelosen Modulie-
ren, in den absonderlichsten Accordverrenkungen
suchen, sondern wird das allerwichtigste Ge-
heimnis der Theater-Komposition, d^n zwingen-
den Zauber grosser, breiter, dramatischer Melodie
ergründet und einsehen gelernt haben, dass er
im „Es war einmal . . ." zu wenig davon gegeben.
Wenigstens an einigen entscheidenden Stellen.
So in der wichtigen Scene, wo die Prinzessin unter
Not und seelischer Bedrängnis zum ersten Male
den allgewaltigen Stürmen der Liebe erlieg^.
Selbst oberflächliche Zuhörer, die das allmähliche
Keimen der Neigung übersehen haben sollten,
müsste diese Scene mit aller Macht überzeugen.
Das vermag aber nur die Melodie. Und diese
versagt hier. Ich fühlte mich da weit mehr im
Banne der geschickt entfesselten schauspieleri-
schen Kunst, unter dem Einflüsse klug gewählter
technischer Mittel als eines ergreifenden Miter-
lebnisses, konnte nie den Gedanken los werden:
„Wie prächtig ist das gemacht !" Ein ähnliches
Gefühl hatte ich beim letzten grossen Liebesduett
im dritten Akte. Wäre an diesen beiden Stellen
alle Empfindung in eine recht innige, fassliche
Melodie gedrängt, diese Höhepunkte allein müss-
ten genügen, der neuen Oper, die so viel schönem,
stimmungsvolles, echt poetisches enthält,
dauernde Lebenskraft zu verle'hen. Ob sich die-
ser Mangel nicht fühlbar machen wird, bleibt ab-
zuwarten.
Aus der Fülle von Interessantem, Greistvollem
einzelnes hervorzuheben, heisst eigentlich orga-
nisches ausser seinem Zusammenhange betrach-
ten. Dennoch meinen wir ausdrücklich hinweisen
zu sollen auf den reizend erfundenen, überaus
wohlklingenden Reigen der Damen, die Musik
zum Spiele mit den Schmetterlingen und die span-
nende Scene mit dem Kochtopfe im ersten Akte,
die charakteristische, öfters motivisch verwertete
Auftrittsmusik des Liebespaares im zweiten, die
lebensvollen Volksscenen im dritten Akte, denen
die Einfügung zweier origineller Volkslieder sehr
zu statten kam. Das eine, „Zum ersten Male, als
Braut ich war", wurde durch Zemlinskys pikante
Harmonisierung zu einem packenden, kecken Ge-
sangsstücke ; ein anderes lieferte den Stoff zu der
kurzen, von ein paar Musikanten auf dem Jahr-
markte aufgespielten prächtigen Ballettmusik. —
Der grosse Erfolg der Novität machte die
Leute gründlich zu schänden, die mit dem faulen
Witze : „Es war e i n mal . . ." bei der Hand
wären.
^
Fedora.
* ■
(Oper in drei Akten nach dem gleichnamigen Drama Sardou's
von Arthur Colautti. - liusik von ü. Giordano. — Erste
Auffuhrung an der Wiener Hofoper am 16. Mai 1900.)
Liebe und Polizei sind anerkanntermassen
sehr verschiedene Dinge ! • Zuweilen kommen sie
aber doch zusammen. So Hess sich vor etlichen
Jahren ein hiesiger Detektive von seinem Dienst-
eifer so sehr hinreissen, dass er die Liebe, seine
Liebe in den Dienst der Polizei stellte. Er ge-
stand einer, einer gewissen Nichtachtung fremder
Eigentumsrechte verdächtigen Person seine Zu-
neigung, sie flüsterte ihm dafür in verschwiege-
ner Stunde das Versteck des gestohlenen Geldes
zu. Zum Schluss wurden beide verurteilt!
Fedora am Himmelpfortgrund!
Die Heldin der neuen Giordanoschen Oper
handelt aus edleren Beweggründen. Was sie
thut, ist ein Werk der Rache. Um an Loris,
dem Mörder ihres Geliebten Wladimir, Vergel-
tung zu üben, umgarnt sie den Arglosen, entreisst
ihm das Geständnis seiner Schuld, denunziert ihn
und die Seinen der nach Nihilisten fahndenden
Regierung. . . . Als sie erfährt, dass „ihr" Wladi-
mir sie mit Loris' heimlicher Gemahlin betrog,
dieser also nur die ihm angethane Schmach rächte,
erfasst sie eine tiefe, mit Schmerzen büssende
Leidenschaft zu ihrem unschuldigen Opfer . . .,
mit freiwilligem Tode sühnt sie ihren Verrat
Diese Handlung ist aus Sardous „Fedora" be-
kannt. Der Librettist Coiautti brauchte aus die-
sem .Sittenstücke nur — die Sitten herauszustrei-
chen, und es blieb ein sehr wirksames Stück übrig.
Kein Gesellschaftsbild mehr, aber ein um so ein-
dringlicheres Konterfei einiger besonders hervor-
stechender Personen. Alles französisch-russische
Giglerl Jungholz wurde ausgejätet, um den Haupt-
figuren Platz zu schaffen. Neben dem Paare
Fedora-Loris treiben sich nur etliche Häscher
der — diesmal wirklich total blinden — sogenann-
ten Gerechtigkeit herum; ein Botschafts-Attach^,
eine pikante Gräfin Olga und ein polnischer. Kla-
vierspieler, ein Gemisch von etwas Chopin und
sehr viel — Krapulinski. Das ist alles ! Auch die
Zahl der Akte ist geringer geworden. Die bei-
den mittleren Aufzüge des Sardouschen Stückes
wurden in einen zusammengezogen, b?sser gesagt,
zusammengenäht. Man merkt die Naht ganz ge-
nau. Nachdem Fedora ihrem Opfer das Geständ-
nis des Mordes herausgeliebt und vermeintlich die
Fäden aller weiteren Schicksale in ihrer Hand
vereinigt hat, müsste nach allem Theaterbrauch
der Vorhang fallen. Statt dessen erscheint eine
Art Intermezzo. Seit Mascagni um einer Preis-
bewerbung für einaktige Opern willen aus den
zwei Akten seiner nahezu fertigen „Cavalleria*'
einen Einakter formte, sind die Sonzogniter, wie
es scheint, kontraktlich zu Intermezzi verpflich^
tet . , : und das Publikum — wenigstens in Ita-
298 't5^'t^"t^'t:^t::^'b^Ti5^Xi^Ti;^'b^'b«X:5«'t?^"t:^
lien — verlangt förmlich nach diesem der di ama-
tischen Konstniktion durchaus fremden Ein-
schiebsel. In „Fedora" ist das Intermezzo nicht
aufdringlich, also kein Intermätzchen, wie derlei
einmal hoshafterweise genannt wurde; es ver-
mittelt ziemlich ungezwungen den Fortgang des
Spieles und ermöglicht — die Verwandlung bei
offener Scene. Wer das Originalstück kennt,
und vielleicht auch mancher, der es nicht kernt,
wird freilich die Empfindung nicht los, die dem
Intermezzo vorausgehende Scene erreiche eine
höhere Steigerung, als an dieser Stelle des Dra-
mas üblich.
Giordano, unseres Erachtens der weitaus am
ernstesten zu nehmende unter den Jung-Italie-
nern, wurde in Wien bei Gelegenheit der Musik-
und Theater- Ausstellung zum ersten Male ge-
nannt. Seine Halbwelts-Oper „Mala vIta" inter-
essierte alle Welt einerseits wegen des keck und
skrupellos zugreifenden Textbuches, andererseits
um der Musik willen, die neben übermütigen
Strassenliedern gar manches enthielt, was auf
wirklichen Ernst, auf echt dramatische Begabung
schliessen Hess. Man sah den Komponisten mit
bewusster Sicherheit auf jenem Pfade dahin-
schreiten, der, wie es scheint — von der Oper
wieder zum Drama zurückführt.
Einstmals wollten sie das Drama der Grie-
chen f nden und fanden die Oper ! Immer mäch-
tiger drängte sich nach und nach die Musik vor,
diese eifersüchtige, echt weibliche Kunst, die
nichts neben sich duldet. ... Die grossen Meister
von Gluck bis Weber und Wagner gaben aus der
Fülle ihrer musikalischen Begabung weitaus
mehr, als lediglich für den dramatischen Zweck
nötig war. So wenig wie die Schillersche Wort-
melodie, die Schillersche Sentenz eigentlich zum
dramatischen Zweckwerk gehört, so wenig ist
eine rein dramatische Nötigung vorhanden, mit
musikalischer Melodie so verschwenderisch um-
zugehen, sie so ins Grosse auszubauen, wie es die
Meister thaten, welche die Oper aus der Sphäre
eines dramatischen zugleich in jene eines musi-
kalischen Kunstwerkes hoben. Die Zeit der Götter
und Riesen scheint, wenigstens für eine Zeitlang,
vorüber zu sein. Die braven Theater-Bauleute
unserer Tage thun gut daran, eine Form, eine
Tracht anzustreben, die ihre dürftigeren Glieder
besser kleidet als die weite n Falten der Alten . . .
ein Rezept, bei dessen Benützung sie mit Kon-
serven aus überreicher Zeit ihr Auslangen fin-
den können. Sie haben sich aufs Technische ver-
legt, aufs Theater- und Instrumentations-Tech-
nische ! So wie sich einst Schubert die ungeheue-
ren Errungenschaften des Beethovenschen Kla-
viersatzes zu nutze machte, als er daran ging, eine
neue Lyrik oder eigentlich die musikalische Lyrik
zu schaffen, so haben die jüngsten Meister aus
den Werken unserer grossen Koloristen alle zar-
testen Regungen der Orchesterseele, alle Heim-
lichkeiten der Instrumente, ihre bisher gemiede-
nen schwachen, blassen Regionen, diese Selbst-
schatten ihres Klanges, kennen und künstlerischen
Zwecken dienstbar machen gelernt. Die Aus-
drucksmittel sind verzehnfacht, verhundertfacht
worden.
300 t^t^t^'t^t^t^'^i^'fcs^t^t;^"^:^^:?^^^^?^
Im Theatergemässen sind sogar manche klei-
nere Meister unserer Zeit erstaunlich geschickt
und erfahren, fast jeder ist zuerst Regisseur und
dann erst, in zweitfer Linie, Musiker. Er weiss,
was zur Hervorbringung dieser oder jener Wir-
kung unumgänglich nötig ist, und genau das und
nicht mehr giebt er, genau das und nicht mehr
thut er. In diesem Sinne ist Giordano einer der
Allerersten unserer Zeit. Schon in „Mala vita"
stand er als sicherer Theatermann auf dem Plan,
wenn man auch das Gefühl hatte, es komme ihm
in erster Linie das ganze Naturell des^Ttalieners
zu gute, der nicht nur fein sittsam mit dem
Munde und den Augen, sondern auch mit Händen
und Füssen zu sprechen weiss. Im „Andre Che-
nier" und gar in „Fedora" ist das alles zur be-
wussten, festgefügten Kunst geworden, zur aus-
gereiften Methode, deren Grundzüge wohl bald
einer extrahieren wird. Er dürfte finden, dass es
ein macer iertes Bayreuthertuni ist, Wagnersche
Theorie ohne Wagnersche Praxis. Die Musik, die
bei Wagner immer in grossen Gruppen auftritt
und stets an sich bedeutendes sagt, erscheint hie.-
bis- in die letzten lyrischen Schlupfwinkel zurück-
gedrängt, sie redet weniger, als sie agiert, die
grosse Melodie hat dem beweglicheren dramati-
schen Motiv Platz gemacht, der Satz der Inter-
jektion. Als der eigentlichste Opernkomponist
wird bald derjenige gelten, der am wenigsten
eigentliche Musik macht!
Vielleicht kehrt man dann auch wieder zu der
vor hundert Jahren üblichen Fassung der Thea-
terzettel zurück, auf denen der Name des Kompo-
nisten an irgend einem schwer auffindlichen
Plätzchen, wie nebenher, genannt war oder ganz
wegblieb.
Giordano bringt in seiner „Fedora" etliche
grössere Stücke, so ein paar Duette des Liebes-
paares, den Walzer zum Gesellschaftsbild des
zweiten Aktes, das Klaviernotturno — ein No-
vum auf dem Theater — ein paar (bei der Wie-
ner Aufführung weggelassene) Liedchen der
Olga und de Siriex* .... Das Gros der Musik
ist aber Zweckmusik, malende Musik von einer
erstaunlichen Ausdrucksfähigkeit, Beredsamkeit
und Ueberzeugungskraft. Ein paar ziemlich ge-
wöhnlich profilierte Leitmotive laufen wie rote
Fäden durch das Gewebe. Loris, als nobler Herr,
gestattet sich zwei solcher Trabantien. Fedora be-
gnügt sich mit einem; daneben ist mit sehr viel
Scharfsinn ein Motiv, mehr ein Thema, des Su-
chens durchgeführt, das jedesmal auftritt, wenn
von der polizeilichen Thätigkeit Fedoras die Rede,
ist. In Italien wird man Giordano vielleicht so-
gar für einen düsteren Kontrapunktisten halten,:
weil er an einer Stelle des ersten Aktes dieses
Thema zu einem Fugato ausgestaltet, an anderer
Stelle dessen Umkehrung bringt und sich auch
sonst noch hie und da kleine polyphone Seiten-
sprünge gestattet. Man braucht ihn darum nicht
als kühnen Neuerer zu verbrennen wie einen an-
deren Giordano. ....
An Erfindungskraft im grossen Stil erscheint
Maestro Giordano in „Fedora" keineswegs beson-
ders reich. Selbst das immerhin sehr effektvolle
Schlussduett des zweiten Aktes steht musikalisch
Xeimann Seemann iachfolgef
Verlag <^ Leipzig.
Hosikaliscbe Stadien
eine Sammlung von Aufsätzen zur Ästhetik,
Theorie und Geschichte der Nusilc
Bis jetzt sind folgende Bände erschienen:
Präludien und Studien.
Gesammelte Aufsätze
von Dr. 9M0« KienaMiu
Bd. I. Brosch. M. 5,— ; eleg. geb. li. 6,50.
Bd. II. „ n. 3,— ; „ „ n. 4,—.
Bd. III. „ M. 4,— ; „ „ 11.5,—.
Richard Wagner in Zürich
von fiMS Mitt,
Bd. I. Brosch. M. 2,— p^ilfi^PÜ)
Musikalische Skizzen
von Rid)ar4 l)e«»erfler.
Brosch. n. 2,40; geb. M. 3,20.
Richard Wagner und Leipzig
von enget Segttits.
Brosch. n. 2,—. J^ J^ j^ p^
j^v
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Zu beziehen durch alle Buch' und Musikalienhandlangen
oder durch den Verlag
Hermann 8#emann N«ebffolg»F in ]L<«tpsl0«
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